Eigentum soll dem Wohl der Allgemeinheit dienen, eigentlich. Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel könnten vergesellschaftet werden, eigentlich. Sicher wissen alle, dass es sich dabei um garantierte Grundrechte handelt. Wieso werden Personen, die sie in Anbetracht der krassen sozialen Ungleichheit umsetzen wollen, als Staatsfeinde vom Verfassungsschutz beobachtet?
Frauen, gewiss ist euch allen bewusst, dass ihr auf Grund eures Geschlechts nicht benachteiligt werden dürft! Kinder, die ihr das Pech habt, in eine arme Familie hineingeboren zu sein, denkt immer daran: Ihr habt ein garantiertes Recht auf freie Entfaltung eurer Persönlichkeit! Ihr Beschäftigte bei Schlachthöfen – eure Würde ist unantastbar! Ihr MitarbeiterInnen in Digitalkonzernen, vergesst nicht: Euer Recht auf Förderung der Arbeitsbedingungen durch Betriebsräte ist ein garantiertes Grundrecht! Hallo Migrantinnen und Migranten, vielleicht habt ihr schon gehört: Eure Würde zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller Ämter und Gerichte, jedes Polizisten und Politikers! Und euer Leben und eure körperliche Unversehrtheit sowieso! Eigentlich.
Und hallo Staat, hallo Geheimdienste: Schon mal gehört, dass die Wohnung unverletzlich ist? Ebenso das Post- und Fernmeldegeheimnis? Dass ihr euch an die Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit zu halten habt – auch an die wirtschaftlich-sozialen Menschenrechte! Ihr VolksvertreterInnen in Regierung und Parlament, erinnert euch an den alten sozialdemokratischen Staatsrechtler Hermann Heller, der schon 1930, kurz bevor er Deutschland verlassen musste, den entscheidenden Unterschied zwischen bürgerlich-liberalem und sozialem Rechtsstaat herausstellte: Im sozialen Rechtsstaat haben die Grundrechte nicht nur formale Gültigkeit, nein, sie müssen real für alle Menschen gelten! Das ist in Deutschland im Jahr 2020 offensichtlich nicht der Fall.
Vielleicht habt ihr, die ihr als Machtelite das Leben der Menschen massiv beeinflusst, vergessen, dass die Staatsgewalt nicht von unkontrollierten, nur dem Profitzwang unterworfenen Konzerngiganten und Schattenbanken ausgehen darf, sondern vom Volke, eigentlich. Ihr solltet daran denken, denn es gibt auch ein Recht auf Widerstand, wenn ihr die verfassungsmäßige Ordnung durch Missachtung der Grundrechte zu beseitigen sucht, eigentlich!
Genug der Fragen und Appelle. Halten wir fest: Der deutsche Staat und seine Institutionen verletzen Grund- und Menschenrechte auf vielfältige Weise und vernachlässigen so ihre Verpflichtung zum Schutz der BürgerInnen. Gleichzeitig können die Menschen ihre Ansprüche gegenüber dem Staat nicht ausreichend geltend machen. Die Grundrechte sind nicht in guter Verfassung. Wenn wir uns aber wegen ihrer Missachtung Sorgen machen, geht es nicht um Corona-Mundschutz und Distanzgebot, so sehr auch die staatlichen Maßnahmen im Windschatten der Pandemie zur Schaffung einer »neuen Normalität« mit Aufmerksamkeit und kritischem Engagement zu verfolgen sind: Wer profitiert, wer verliert? Was wird alles im Namen der inneren und äußeren Sicherheit klammheimlich durchgesetzt?
Missachtung der Grundrechte: Eine schwerwiegende Behauptung, die in der neuen Ausgabe des »Grundrechte-Reports« anhand zahlreicher Beispiele belegt wird. Immer wieder hören wir von staatlichen Maßnahmen und Unterlassungen (!), die Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit aufkommen lassen und Kritik hervorrufen, wie bei der Privatisierung der Daseinsvorsorge und der Überwachung der Bevölkerung. Nur selten wird die Frage geprüft: Verletzen sie vielleicht sogar Grundrechte? Man scheint sich daran gewöhnt zu haben, im Staat eine abgehobene Instanz zu sehen, die nicht zwingend unsere Interessen und Bedürfnisse vertritt, uns manchmal sogar feindlich gegenübersteht. Die zahlreichen Skandale, in die Ministerien, Geheimdienste und Bundesämter verwickelt sind (aktuell etwa Maut, Wirecard, Waffenlieferungen …), rufen nur noch bei wenigen Empörung hervor. Sie zerstören aber das Vertrauen in den Staat und vergiften die gesellschaftliche Atmosphäre.
Der Staat und seine VertreterInnen begünstigen oft gemeinschaftsschädigende Interessen. Ein besonders deutliches Beispiel ist der Wohnungsmarkt. Die Entwicklung war früh absehbar und politisch gewollt. Die Preise für Bauland sind bundesweit seit 1962 um 2300 Prozent gestiegen, in Ballungsgebieten wie München seit 1952 sogar um 39.000 Prozent! Für die Stadtentwicklung hat das fatale Folgen: Bezahlbaren Wohnraum in Städten finden nur noch Wohlhabende. War da nicht was mit Daseinsvorsorge und Grundrechten? Wohnen sei existenziell, darauf hat sogar das Bundesverfassungsgericht hingewiesen: Eine Wohnung diene elementaren Lebensbedürfnissen, der Freiheitssicherung und der Entfaltung der Persönlichkeit. Im Beitrag über den »freien« Wohnungsmarkt wird im »Grundrechte-Report 2020« aber beschrieben, wie der Staat die Interessen der Eigentümer vertritt, zumal diese jede noch so zaghafte Einschränkung als verfassungswidrig brandmarken.
Ein weites Feld für Sorge und Kritik bietet der Ausbau der »inneren Sicherheit«: Ausweitung der Befugnisse der Polizei, Verlagerung polizeilicher Ermittlungen ins Vorfeld einer vermuteten Straftat, Zusammenführung von Informationen aus Polizei- und Migrationsdatenbanken, anlasslose Einsätze zur Gefahrenabwehr und zahlreiche weitere Maßnahmen signalisieren einen Rechtsruck zum Überwachungsstaat, wobei grund- und menschenrechtliche Standards auf der Strecke bleiben. Kritisch beleuchtet werden im Buch auch der Taser-Einsatz im Polizeistreifendienst trotz Hunderter dokumentierter Todesfälle in den USA oder der polizeiliche Datenmissbrauch für Drohbriefe an AnwältInnen von Nazi-Opfern, rechtsradikale Netzwerke in den Staatsapparaten und das neue Urheberrecht als Gefahr für die Meinungsfreiheit. Die Frage drängt sich auf: Wer schützt uns vor dem Staatsschutz und der Missachtung der Grundrechte?
Viel zu wenig bekannt ist die Ergänzung im Grundgesetz, wonach der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere zu schützen hat (Art. 20a GG). Wer weiß schon, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts sind (Art. 25 GG). Die Berücksichtigung im Sammelband erweitert den Blick auf die große Diskrepanz zwischen Grundrechten und Vorschriften mit Verfassungsrang einerseits und der politischen und sozialen Realität andererseits. Drei Viertel der über 50 AutorInnen haben eine juristische Ausbildung. Durch ihre dokumentarische Sachlichkeit bekommen die Themen den Charakter von Sachverständigengutachten; die notwendige politische Bewertung bleibt aber den LeserInnen überlassen.
Nach der anregenden Lektüre mag man ausrufen: Also, geehrte Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts, übernehmen Sie! Sorgen Sie dafür, dass endlich der soziale Rechtsstaat verwirklicht wird und die Grundrechte für alle real gelten! Oder muss das Volk alles selber machen? Die Frage drängt sich nach der Lektüre auf: Nehmen sich die Repräsentanten anderer Länder auch das Recht heraus, von Deutschland die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte zu fordern? Die Bundeskanzlerin oder der Außenminister tun das nämlich – so wird in den Nachrichten immer hervorgehoben – regelmäßig mit großer Selbstverständlichkeit. Natürlich nur gegenüber Ländern, die zu Konkurrenten oder gar Feinden aufgebaut werden sollen. Stellen wir uns vor, der chinesische Präsident rügt beim Staatsbesuch in Deutschland: »Die krasse soziale Ungleichheit und die daraus resultierende systematische Benachteiligung stellen eine grobe Verletzung von Grund- und Menschenrechten dar, Herr Maas. Wir müssen das mit aller Schärfe verurteilen.« Vielleicht mahnt der russische Außenminister bei Verhandlungen: »Wir müssen daran erinnern, dass die Verstrickung staatlicher Stellen in Morde des NSU oder mutmaßliche rassistische Morde in Polizeigewahrsam Verstöße gegen Grund- und Menschenrechte darstellen, Frau Merkel« – und unsere Medien erwähnen es nur nicht?
»Grundrechte-Report 2020. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland«, herausgegeben von: Leoni Michal Armbruster, Bellinda Bartolucci, Rolf Gössner, Julia Heesen, Martin Heiming, Hans-Jörg Kreowski, John Philipp Thurn, Rosemarie Will, Michèle Winkler, Christine Zedler, Fischer Taschenbuch, 240 Seiten, 12 €