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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Griechische Reise

»Der gro­ße Alex­an­der erober­te Indi­en. Er allein?« fragt Brecht zu Recht in sei­nen »Fra­gen eines lesen­den Arbei­ters. »Ich ste­he in einem wun­der­ba­ren Muse­um unter dem Tumu­lus des make­do­ni­schen Königs Phil­ipp II, Vater Alex­an­ders des Gro­ßen. Als in den sieb­zi­ger Jah­ren ein grie­chi­scher Archäo­lo­ge die­se mäch­ti­ge Grab­an­la­ge unbe­rührt ent­deck­te, ließ er zur Siche­rung vor Grab­räu­bern zual­ler­erst die Armee kom­men. Alle Muse­en der Welt hat Grie­chen­land mit Kunst­wer­ken ver­sorgt, alle Die­be und Rei­sen­den, die Phil­hel­le­nen ein­ge­schlos­sen, haben sich hier jahr­hun­der­te­lang reich­lich bedient, haben geraubt und erscha­chert, was nur immer zu krie­gen war. Was man heu­te hier sehen kann, woll­te ent­we­der kei­ner haben oder es wur­de unter glück­li­chen Umstän­den erst gefun­den, als der neu­zeit­li­che Staat end­lich fest eta­bliert war und die Arte­fak­te sei­ner gro­ßen Geschich­te kom­pro­miss­los zu sichern begann.

Phil­ipp, der make­do­ni­sche Krie­ger­kö­nig aus dem Nor­den, hat­te ganz Grie­chen­land unter sei­ne Macht gebracht. Sei­ne noch viel wei­ter gehen­den Erobe­rungs­plä­ne wur­den nach sei­ner Ermor­dung mit ihm begra­ben – zusam­men mit Grab­bei­ga­ben von atem­be­rau­ben­der Kost­bar­keit. Neben dem fili­gran gear­bei­te­ten mas­siv gol­de­nen Kranz, wel­cher einst sei­ne (nun zu Asche zer­fal­le­ne) Stirn schmück­te, fand man auch sei­ne Rüstung und sein Schwert aus Eisen, ein damals sen­sa­tio­nell neu­es, weil so viel här­te­res Metall, kost­ba­rer als Gold. Die pracht­vol­len Insi­gni­en könig­li­cher Wür­de und die Instru­men­te der Gewalt also schier untrenn­bar von­ein­an­der zusam­men depo­niert. Phil­ipps Sohn Alex­an­der erhielt den Bei­na­men »der Gro­ße« – wegen der Grö­ße sei­ner Ambi­tio­nen, sei­nes mili­tä­ri­schen Genies und wegen des Rie­sen­rei­ches, das er erober­te. Angeb­lich träum­te er von einem zivi­li­sa­to­ri­schen Welt­pro­jekt grie­chi­scher Hoch­kul­tur – oder war es doch eher Grö­ßen­wahn, gepaart mit Ruhm­sucht, Trunk­sucht, Über­druss, Lan­ge­wei­le, was ihn trieb? Sein Vater woll­te den besten aller leben­den Leh­rer für ihn, aber Ari­sto­te­les stell­te eine Bedin­gung: Wenn er die Erzie­hung Alex­an­ders ver­ant­wor­ten sol­le, dann müs­se König Phil­ipp schon sei­ne, Ari­sto­te­les gan­ze phi­lo­so­phi­sche Schu­le ein­la­den – nicht in eli­tä­rem Ein­zel­un­ter­richt, son­dern nur so, im Dis­kurs und als Glei­cher unter Glei­chen kön­ne sich eine Per­sön­lich­keit bilden.

Eft­hi­mia spricht fünf Spra­chen, besitzt zwei Master-Abschlüs­se und einen Dok­tor­grad in Kunst­ge­schich­te; sie arbei­tet als Rei­se­füh­re­rin, kann den­noch nur vier bis fünf Mona­te von ihrer Arbeit leben – im Früh­jahr und im Herbst, wenn sie klei­ne­re Tou­ri­sten­grup­pen mit ech­tem kul­tur­hi­sto­ri­schem Inter­es­se betreut. Für den Rest des Jah­res hel­fen Groß­ma­ma und die Fami­lie bei der Mie­te aus. Wir Grie­chen über­le­ben durch die Fami­lie, sagt Eft­hi­mia, und so sind wir auch nach 2010 durch die Finanz­kri­se gekom­men. Auch damals führ­te sie Grup­pen und muss­te erle­ben, dass ein­zel­ne Rei­sen­de Trink­gel­der ver­wei­ger­ten oder sogar Hotel­rech­nun­gen nicht bezahl­ten. Aus einer Grup­pe her­aus, die Eft­hi­mia mit erho­be­ner Hand freund­lich begrüß­te, muss­te sie sich den Zuruf gefal­len las­sen, welch schö­ne lan­ge Fin­ger sie doch hät­te. Oh ja, die Euro­päi­sche Uni­on hat unüber­seh­ba­re Spu­ren im Land hin­ter­las­sen. Brücken, Schnell­stra­ßen, gewal­ti­ge Tun­nel, die die Fest­lands­ge­bir­ge durch­schnei­den und den klas­si­schen Tran­sit­ver­kehr von Waren enorm beschleu­ni­gen. All das soll­te einen gewal­ti­gen Moder­ni­sie­rungs­schub aus­lö­sen, finan­zi­ell gekrönt von der Mit­glied­schaft im Euro-Club. Nur lei­der folg­te dar­auf ein gewal­ti­ger Kat­zen­jam­mer, und als das Welt­sy­stem einer außer Kon­trol­le gera­te­nen Dol­lar-Finanz­in­du­strie in den Fun­da­men­ten wank­te, such­te und fand man Sün­den­böcke: Die­se fau­len betrü­ge­ri­schen Grie­chen hat­ten sich ja den Euro und die Olym­pi­schen Spie­le 2004 bloß erschli­chen, und nun soll­ten sie doch sehen, wie sie ihre Schul­den bezah­len. Sol­len sie doch eini­ge ihrer Inseln ver­kau­fen, da haben sie reich­lich davon! Die gewal­ti­gen Schul­den sind bis heu­te nicht bezahlt, die dubio­sen Finanz­flüs­se um die Olym­pia­de her­um bis heu­te nicht trans­pa­rent gemacht. Allein, um wenig­stens die Schuld­zin­sen auf­zu­brin­gen, ließ die Regie­rung seit­her die Mas­se der Bevöl­ke­rung kräf­tig zu Ader, schrumpf­te an öffent­li­chen Aus­ga­ben, was nur zu schrump­fen war und ver­kauf­te an Staats­ei­gen­tum, was nur irgend­ei­nen Wert besaß, und das auch noch zu dik­tier­ten Spottpreisen.

Wir sind wirt­schaft­lich eigent­lich eine Lei­che am Tropf der EU, sagt Eft­hi­mia, aber wir wer­den nicht bet­teln. Ihr wer­det uns nicht auf den Knien sehen! Wir haben all die Stür­me über­lebt, die über unser Land hin­weg­ge­gan­gen sind, und fünf­hun­dert Jah­re osma­ni­sche Besat­zung. Wir haben zusam­men mit den Chi­ne­sen die älte­ste Schrift­spra­che der Welt, wir sind die Wie­ge der west­li­chen Kul­tur, Kunst, Phi­lo­so­phie, Demo­kra­tie! Ah ja, die Demo­kra­tie: Wie steht es übri­gens damit? Seit dem Ende der Mili­tär­dik­ta­tur strei­ten sich im Par­la­ment über ein Dut­zend Par­tei­en, bekämp­fen sich per­ma­nent und fin­den sel­ten oder nie zu sta­bi­len Koali­tio­nen zusam­men. Um über­haupt eine hand­lungs­fä­hi­ge Regie­rung zu haben, wur­de für die jeweils stärk­ste Par­tei ein Bonus von fik­ti­ven Stim­men ein­ge­führt, der ihr eine fra­gi­le Mehr­heit sichert. Alle wol­len immer nur das Beste für das Land, ver­spre­chen gleich­zei­tig ihrer Kli­en­tel immer das­sel­be, sagt Eft­hi­mia, aber du kannst kei­nem glau­ben, denn wenn sie regie­ren, fül­len sie nur sich und ihrer Kli­en­tel die Taschen und ver­ges­sen sofort, was sie ver­spro­chen haben. Immer­hin geschieht aber den­noch etwas: Bau­vor­ha­ben, Stra­ßen, sozia­le Pro­jek­te kom­men, nach­dem sie jah­re­lang brach lagen, wie durch Zau­be­rei immer knapp vor Neu­wah­len plötz­lich vor­an und wer­den manch­mal sogar fertig.

Wir haben also die­se gran­dio­se Auto­bahn quer durch das gan­ze Land – Make­do­ni­en, Thes­sa­li­en bis auf die Pelo­pon­nes, sagt Eft­hi­mia, aber wir haben ja kaum Indu­strie, nur den Tou­ris­mus. Wir waren immer eine Han­dels­na­ti­on, aber das öko­no­mi­sche Herz die­ser Nati­on, die Häfen, muss­ten wir ver­pfän­den oder ver­kau­fen. Wir haben die­se eine gro­ße Bahn­ver­bin­dung von Athen nach Thes­sa­lo­ni­ki im Nor­den, aber wir muss­ten sie, um wei­ter Kre­di­te vom Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds und von der Euro­päi­schen Zen­tral­bank zu bekom­men, an ein ita­lie­ni­sches Kon­sor­ti­um ver­kau­fen. Das genoss eigent­lich einen guten Ruf, aber auf ein­mal ver­kehr­ten alte Züge, die in der Schweiz aus­ge­mu­stert wor­den waren auf die­ser Linie. Schlim­mer noch: Ein moder­nes Signal­leit­sy­stem wur­de nie fer­tig und vor einem Jahr dann die Kata­stro­phe: Ein mit Stu­den­ten voll besetz­ter Per­so­nen­zug kol­li­dier­te fron­tal mit einem Güter­zug. Auf einer zwei­glei­si­gen Strecke! Kei­ner der über fünf­zig Toten war älter als fünf­und­zwan­zig, das öffent­li­che Ent­set­zen war groß, aber nie­mand woll­te ver­ant­wort­lich sein: Grie­chi­sche Regie­rung und ita­lie­ni­scher Eigen­tü­mer scho­ben die Schuld ach­sel­zuckend zwi­schen sich hin und her. Kein Poli­ti­ker, son­dern eine grie­chi­sche Mut­ter, die den Ver­lust ihrer Zwil­lings­töch­ter betrau­er­te, initi­ier­te dann die Samm­lung von Mil­lio­nen Unter­schrif­ten, um den unge­heu­er­li­chen Vor­gang nun end­lich vor den euro­päi­schen Gerichts­hof zu bringen.

Seit den sech­zi­ger Jah­ren ging, wer konn­te, als Gast­ar­bei­ter in Aus­land, sagt Eft­hi­mia; jetzt geht gera­de jeder weg, der kann, nach­dem er hier stu­diert hat. Nach dem Exodus der Arbei­ter nun der Ader­lass der Intel­lek­tu­el­len. Man kann ja eigent­lich auch nicht leben mit die­sem Ein­kom­men, bei die­sen Prei­sen und Mie­ten. Wodurch wir über­le­ben, sagt Eft­hi­mia noch ein­mal, das ist die Fami­lie: Die Grie­chen, das sind die Fami­li­en. Wenn du einen Arzt­ter­min willst, soll­test du reich­lich Geld mit­brin­gen, und wenn du Kin­der hast, kannst du nur wei­ter­ar­bei­ten gehen, weil die Groß­el­tern sie tags­über betreu­en. Und wenn du nicht mehr wei­ter­weißt, hilft nur die Fami­lie: Du sagst, was oder wie viel du brauchst, und einer hilft. Übri­gens ver­zeich­nen die ortho­do­xen Klö­ster einen Zuwachs an Novi­zen: Zwar muss man bei Ein­tritt allem Besitz ent­sa­gen, aber das fällt umso leich­ter, desto weni­ger man hat­te. Hier ist man ver­sorgt, in der Stil­le und aus­ge­kop­pelt aus dem Ham­ster­rad des Über­le­bens­kamp­fes, und es gibt nicht ein­mal ein lebens­lan­ges Gelüb­de, im Klo­ster zu bleiben.

Alex­an­der, »der Gro­ße« genannt, rei­tet in Gestalt einer über­di­men­sio­na­len Bron­ze­skulp­tur am Hafen von Thes­sa­lo­ni­ki wei­ter gen Osten. Sein Rie­sen­reich zer­fiel sogleich nach sei­nem frü­hen Tod in end­lo­sen blu­ti­gen Dia­do­chen­kämp­fen, unter­bro­chen frei­lich auch von groß­ar­ti­gen fried­li­chen Peri­oden spät­an­ti­ker Kul­tur. Das Chri­sten­tum zer­stör­te die­se unwi­der­ruf­lich und beerb­te sie zugleich. Die dar­auf­fol­gen­den osma­ni­schen Erobe­rer press­ten jahr­hun­der­te­lang Steu­ern aus einem bet­tel­ar­men Volk. Dazu bedien­ten sie sich auch der ortho­do­xen Kir­che. Die­se aber garan­tier­te – in schö­ner histo­ri­scher Dia­lek­tik – gleich­zei­tig das kul­tu­rel­le Über­le­ben der grie­chi­schen Nati­on. Um end­lich auch poli­tisch frei zu sein, bedurf­te es wie­der­um end­lo­ser blu­ti­ger Kämp­fe und heroi­schen Opfer­muts. Unse­re Fah­ne müss­te eigent­lich rot sein, rot von den Strö­men von Blut, das hier über­all geflos­sen ist, sagt Eft­hi­mia. Aber die Frei­heit braucht – jen­seits roman­ti­schen Hel­den­muts – mäch­ti­ge­re Geburts­hel­fer: Mäch­ti­ge Nach­barn, deren pro­fa­ne Inter­es­sen manch­mal und mit etwas Glück auch einem klei­nen unter­drück­ten Volk zugu­te­kom­men kön­nen. Und unter dem Ban­ner der Frei­heit las­sen sich die­se Inter­es­sen doch auch viel ele­gan­ter durch­set­zen. Es sind eigent­lich die Han­dels­we­ge, sagt Eft­hi­mia, wie schon vor drei­tau­send Jah­ren – und die Roh­stof­fe und die Märk­te und die Absatz­mög­lich­kei­ten und die Ein­fluss­zo­nen: It’s the eco­no­my, stupid!

Hin­ter dem hei­li­gen Nebel des Ora­kels von Del­phi, unter den voll­endet pro­por­tio­nier­ten Säu­len des Apol­lon­tem­pels tum­mel­ten sie sich schon, die Mak­ler und Lob­by­isten der Mäch­ti­gen. Und nur ein lei­ses Lächeln, ein unmerk­li­ches wis­sen­des Blin­zeln des Ein­ver­ständ­nis­ses ging zwi­schen ihnen und der hei­li­gen Kaste der Prie­ster hin und her. Das Volk aber fürch­te­te den Zorn der Göt­ter, bete­te um ihre Gna­de und opfer­te wil­lig. Und es genoss die Zere­mo­nien, den Wein und das Thea­ter, lach­te aus­ge­las­sen in der Komö­die und lausch­te ergrif­fen der Tra­gö­die. So war es und so ist es immer gewe­sen, sagt Eft­hi­mia, und die Sar­di­nen blei­ben Sar­di­nen und die Haie blei­ben Haie. Und wir geben wei­ter mehr als vier Pro­zent unse­res Haus­halts für Rüstung aus – denn die blu­ti­gen Schat­ten der Ver­gan­gen­heit sind gegen­wär­tig und auf der ande­ren Sei­te des Ägäi­schen Mee­res lau­ert ein aggres­si­ver Nato-Part­ner, unbe­re­chen­ba­rer Erbe eines grau­sa­men Besatzers.

Wir Grie­chen sind schon ein komi­sches Volk, sagt Eft­hi­mia, neu­gie­rig und gal­gen­hu­mo­rig und offen­her­zig und lebens­lu­stig. Ein Mee­res­volk sind wir, end­los strei­tend, aber auch einig, wenn wir bedroht sind. So war es und so ist es immer gewesen.

 

Ausgabe 15.16/2024