»Der große Alexander eroberte Indien. Er allein?« fragt Brecht zu Recht in seinen »Fragen eines lesenden Arbeiters. »Ich stehe in einem wunderbaren Museum unter dem Tumulus des makedonischen Königs Philipp II, Vater Alexanders des Großen. Als in den siebziger Jahren ein griechischer Archäologe diese mächtige Grabanlage unberührt entdeckte, ließ er zur Sicherung vor Grabräubern zuallererst die Armee kommen. Alle Museen der Welt hat Griechenland mit Kunstwerken versorgt, alle Diebe und Reisenden, die Philhellenen eingeschlossen, haben sich hier jahrhundertelang reichlich bedient, haben geraubt und erschachert, was nur immer zu kriegen war. Was man heute hier sehen kann, wollte entweder keiner haben oder es wurde unter glücklichen Umständen erst gefunden, als der neuzeitliche Staat endlich fest etabliert war und die Artefakte seiner großen Geschichte kompromisslos zu sichern begann.
Philipp, der makedonische Kriegerkönig aus dem Norden, hatte ganz Griechenland unter seine Macht gebracht. Seine noch viel weiter gehenden Eroberungspläne wurden nach seiner Ermordung mit ihm begraben – zusammen mit Grabbeigaben von atemberaubender Kostbarkeit. Neben dem filigran gearbeiteten massiv goldenen Kranz, welcher einst seine (nun zu Asche zerfallene) Stirn schmückte, fand man auch seine Rüstung und sein Schwert aus Eisen, ein damals sensationell neues, weil so viel härteres Metall, kostbarer als Gold. Die prachtvollen Insignien königlicher Würde und die Instrumente der Gewalt also schier untrennbar voneinander zusammen deponiert. Philipps Sohn Alexander erhielt den Beinamen »der Große« – wegen der Größe seiner Ambitionen, seines militärischen Genies und wegen des Riesenreiches, das er eroberte. Angeblich träumte er von einem zivilisatorischen Weltprojekt griechischer Hochkultur – oder war es doch eher Größenwahn, gepaart mit Ruhmsucht, Trunksucht, Überdruss, Langeweile, was ihn trieb? Sein Vater wollte den besten aller lebenden Lehrer für ihn, aber Aristoteles stellte eine Bedingung: Wenn er die Erziehung Alexanders verantworten solle, dann müsse König Philipp schon seine, Aristoteles ganze philosophische Schule einladen – nicht in elitärem Einzelunterricht, sondern nur so, im Diskurs und als Gleicher unter Gleichen könne sich eine Persönlichkeit bilden.
Efthimia spricht fünf Sprachen, besitzt zwei Master-Abschlüsse und einen Doktorgrad in Kunstgeschichte; sie arbeitet als Reiseführerin, kann dennoch nur vier bis fünf Monate von ihrer Arbeit leben – im Frühjahr und im Herbst, wenn sie kleinere Touristengruppen mit echtem kulturhistorischem Interesse betreut. Für den Rest des Jahres helfen Großmama und die Familie bei der Miete aus. Wir Griechen überleben durch die Familie, sagt Efthimia, und so sind wir auch nach 2010 durch die Finanzkrise gekommen. Auch damals führte sie Gruppen und musste erleben, dass einzelne Reisende Trinkgelder verweigerten oder sogar Hotelrechnungen nicht bezahlten. Aus einer Gruppe heraus, die Efthimia mit erhobener Hand freundlich begrüßte, musste sie sich den Zuruf gefallen lassen, welch schöne lange Finger sie doch hätte. Oh ja, die Europäische Union hat unübersehbare Spuren im Land hinterlassen. Brücken, Schnellstraßen, gewaltige Tunnel, die die Festlandsgebirge durchschneiden und den klassischen Transitverkehr von Waren enorm beschleunigen. All das sollte einen gewaltigen Modernisierungsschub auslösen, finanziell gekrönt von der Mitgliedschaft im Euro-Club. Nur leider folgte darauf ein gewaltiger Katzenjammer, und als das Weltsystem einer außer Kontrolle geratenen Dollar-Finanzindustrie in den Fundamenten wankte, suchte und fand man Sündenböcke: Diese faulen betrügerischen Griechen hatten sich ja den Euro und die Olympischen Spiele 2004 bloß erschlichen, und nun sollten sie doch sehen, wie sie ihre Schulden bezahlen. Sollen sie doch einige ihrer Inseln verkaufen, da haben sie reichlich davon! Die gewaltigen Schulden sind bis heute nicht bezahlt, die dubiosen Finanzflüsse um die Olympiade herum bis heute nicht transparent gemacht. Allein, um wenigstens die Schuldzinsen aufzubringen, ließ die Regierung seither die Masse der Bevölkerung kräftig zu Ader, schrumpfte an öffentlichen Ausgaben, was nur zu schrumpfen war und verkaufte an Staatseigentum, was nur irgendeinen Wert besaß, und das auch noch zu diktierten Spottpreisen.
Wir sind wirtschaftlich eigentlich eine Leiche am Tropf der EU, sagt Efthimia, aber wir werden nicht betteln. Ihr werdet uns nicht auf den Knien sehen! Wir haben all die Stürme überlebt, die über unser Land hinweggegangen sind, und fünfhundert Jahre osmanische Besatzung. Wir haben zusammen mit den Chinesen die älteste Schriftsprache der Welt, wir sind die Wiege der westlichen Kultur, Kunst, Philosophie, Demokratie! Ah ja, die Demokratie: Wie steht es übrigens damit? Seit dem Ende der Militärdiktatur streiten sich im Parlament über ein Dutzend Parteien, bekämpfen sich permanent und finden selten oder nie zu stabilen Koalitionen zusammen. Um überhaupt eine handlungsfähige Regierung zu haben, wurde für die jeweils stärkste Partei ein Bonus von fiktiven Stimmen eingeführt, der ihr eine fragile Mehrheit sichert. Alle wollen immer nur das Beste für das Land, versprechen gleichzeitig ihrer Klientel immer dasselbe, sagt Efthimia, aber du kannst keinem glauben, denn wenn sie regieren, füllen sie nur sich und ihrer Klientel die Taschen und vergessen sofort, was sie versprochen haben. Immerhin geschieht aber dennoch etwas: Bauvorhaben, Straßen, soziale Projekte kommen, nachdem sie jahrelang brach lagen, wie durch Zauberei immer knapp vor Neuwahlen plötzlich voran und werden manchmal sogar fertig.
Wir haben also diese grandiose Autobahn quer durch das ganze Land – Makedonien, Thessalien bis auf die Peloponnes, sagt Efthimia, aber wir haben ja kaum Industrie, nur den Tourismus. Wir waren immer eine Handelsnation, aber das ökonomische Herz dieser Nation, die Häfen, mussten wir verpfänden oder verkaufen. Wir haben diese eine große Bahnverbindung von Athen nach Thessaloniki im Norden, aber wir mussten sie, um weiter Kredite vom Internationalen Währungsfonds und von der Europäischen Zentralbank zu bekommen, an ein italienisches Konsortium verkaufen. Das genoss eigentlich einen guten Ruf, aber auf einmal verkehrten alte Züge, die in der Schweiz ausgemustert worden waren auf dieser Linie. Schlimmer noch: Ein modernes Signalleitsystem wurde nie fertig und vor einem Jahr dann die Katastrophe: Ein mit Studenten voll besetzter Personenzug kollidierte frontal mit einem Güterzug. Auf einer zweigleisigen Strecke! Keiner der über fünfzig Toten war älter als fünfundzwanzig, das öffentliche Entsetzen war groß, aber niemand wollte verantwortlich sein: Griechische Regierung und italienischer Eigentümer schoben die Schuld achselzuckend zwischen sich hin und her. Kein Politiker, sondern eine griechische Mutter, die den Verlust ihrer Zwillingstöchter betrauerte, initiierte dann die Sammlung von Millionen Unterschriften, um den ungeheuerlichen Vorgang nun endlich vor den europäischen Gerichtshof zu bringen.
Seit den sechziger Jahren ging, wer konnte, als Gastarbeiter in Ausland, sagt Efthimia; jetzt geht gerade jeder weg, der kann, nachdem er hier studiert hat. Nach dem Exodus der Arbeiter nun der Aderlass der Intellektuellen. Man kann ja eigentlich auch nicht leben mit diesem Einkommen, bei diesen Preisen und Mieten. Wodurch wir überleben, sagt Efthimia noch einmal, das ist die Familie: Die Griechen, das sind die Familien. Wenn du einen Arzttermin willst, solltest du reichlich Geld mitbringen, und wenn du Kinder hast, kannst du nur weiterarbeiten gehen, weil die Großeltern sie tagsüber betreuen. Und wenn du nicht mehr weiterweißt, hilft nur die Familie: Du sagst, was oder wie viel du brauchst, und einer hilft. Übrigens verzeichnen die orthodoxen Klöster einen Zuwachs an Novizen: Zwar muss man bei Eintritt allem Besitz entsagen, aber das fällt umso leichter, desto weniger man hatte. Hier ist man versorgt, in der Stille und ausgekoppelt aus dem Hamsterrad des Überlebenskampfes, und es gibt nicht einmal ein lebenslanges Gelübde, im Kloster zu bleiben.
Alexander, »der Große« genannt, reitet in Gestalt einer überdimensionalen Bronzeskulptur am Hafen von Thessaloniki weiter gen Osten. Sein Riesenreich zerfiel sogleich nach seinem frühen Tod in endlosen blutigen Diadochenkämpfen, unterbrochen freilich auch von großartigen friedlichen Perioden spätantiker Kultur. Das Christentum zerstörte diese unwiderruflich und beerbte sie zugleich. Die darauffolgenden osmanischen Eroberer pressten jahrhundertelang Steuern aus einem bettelarmen Volk. Dazu bedienten sie sich auch der orthodoxen Kirche. Diese aber garantierte – in schöner historischer Dialektik – gleichzeitig das kulturelle Überleben der griechischen Nation. Um endlich auch politisch frei zu sein, bedurfte es wiederum endloser blutiger Kämpfe und heroischen Opfermuts. Unsere Fahne müsste eigentlich rot sein, rot von den Strömen von Blut, das hier überall geflossen ist, sagt Efthimia. Aber die Freiheit braucht – jenseits romantischen Heldenmuts – mächtigere Geburtshelfer: Mächtige Nachbarn, deren profane Interessen manchmal und mit etwas Glück auch einem kleinen unterdrückten Volk zugutekommen können. Und unter dem Banner der Freiheit lassen sich diese Interessen doch auch viel eleganter durchsetzen. Es sind eigentlich die Handelswege, sagt Efthimia, wie schon vor dreitausend Jahren – und die Rohstoffe und die Märkte und die Absatzmöglichkeiten und die Einflusszonen: It’s the economy, stupid!
Hinter dem heiligen Nebel des Orakels von Delphi, unter den vollendet proportionierten Säulen des Apollontempels tummelten sie sich schon, die Makler und Lobbyisten der Mächtigen. Und nur ein leises Lächeln, ein unmerkliches wissendes Blinzeln des Einverständnisses ging zwischen ihnen und der heiligen Kaste der Priester hin und her. Das Volk aber fürchtete den Zorn der Götter, betete um ihre Gnade und opferte willig. Und es genoss die Zeremonien, den Wein und das Theater, lachte ausgelassen in der Komödie und lauschte ergriffen der Tragödie. So war es und so ist es immer gewesen, sagt Efthimia, und die Sardinen bleiben Sardinen und die Haie bleiben Haie. Und wir geben weiter mehr als vier Prozent unseres Haushalts für Rüstung aus – denn die blutigen Schatten der Vergangenheit sind gegenwärtig und auf der anderen Seite des Ägäischen Meeres lauert ein aggressiver Nato-Partner, unberechenbarer Erbe eines grausamen Besatzers.
Wir Griechen sind schon ein komisches Volk, sagt Efthimia, neugierig und galgenhumorig und offenherzig und lebenslustig. Ein Meeresvolk sind wir, endlos streitend, aber auch einig, wenn wir bedroht sind. So war es und so ist es immer gewesen.