In der Zeit meines Lebens angekommen, in der ich das eigene Tun, das Lehren und Schreiben darunter, immer mehr als Versuche, ja als Unvollständigkeit erlebe, wurde ich durch die Kriegsereignisse des Jahres 2022 genötigt, mein seit Jahren brach liegendes Russisch wiederzubeleben – um hin und wieder als Übersetzer auf Ämtern oder in Arztpraxen helfen zu können. Beim Auffrischen des Wortschatzes helfen heute Smartphone-Apps, sie schicken dem Lernwilligen jeden Tag »Erinnerungen«, etwa: »җестокость« = Grausamkeit.
Die Vokabel erscheint vielleicht auf dem Display, wenn ich vor dem Buchregal stehe. Dort sind die in vielen Jahren aufgehäuften Bände russischer und sowjetischer Klassiker aufgereiht. Michail Scholochow zum Beispiel, »Der stille Don«, in einer Ausgabe von 1967, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin. An Grausamkeit kein Mangel. Auf Seite 41: Vergewaltigung nach dem Zusammenbinden der Hände, ein eisenbeschlagenes Zugscheit wird dem Täter über den Kopf geschlagen, gefolgt von einer mehr als einstündigen Prügelverabreichung, ein abgerissenes Ohr … Tod. Aksinja, die Frau des Kosaken Stepan, wird von ihm wegen ihrer Untreue beinahe totgeschlagen. Das nimmt fast eine Seite ein, dann wird weiter gedroschen, weil nun der Schläger angegriffen wird von den Brüdern Melechow, die »rauften wie die Wilden«, die »hackten wie Aasgeier«. Sie müssen aber Stepans »Eisenfaust« erleiden, zum Schluss droht man sich »die Seele mitsamt den Eingeweiden aus dem Leib« zu reißen, nachdem einer der Protagonisten »Blut und einen halben Zahn« ausgespuckt hat.
Neu angekommen im Regal: Juri Andruchowytsch, »Die Lieblinge der Justiz«, erschienen 2020 bei Suhrkamp. Auf dem Rückdeckel wird mitgeteilt, dass von »Mord, Liebe und Verrat, von unerhörten Verbrechen« erzählt wird, der Klappentext erhebt ein Panoptikum der Grausamkeit zum »mitteleuropäische[n] Episodenroman«. Dafür müssen u. a. »Molfarn« (huzulische Magier) aufgeboten werden, es wird gemordet, gefoltert, gerädert, was das Zeug hält, und alles fein-fein und en detail beschrieben, das Rädern zum Beispiel.
Gewiss gehört das alles zu unserer Geschichte, und nichts soll verschwiegen werden. Aber woher stammt die Lust am Ausmalen? Und die Lust am Ausgemalten?
Man schaudert und liest doch die Grausamkeit oder schaut sie sich an. Da zeigt das Regionalfernsehen einen Autor, der natürlich Krimis schreibt und, von landschaftlich schönem Platze aus, die Häuser in der Umgebung betrachtet und sich nur vorstellen kann, wo dort die Leichen liegen, wie darin gemordet wird. Am nächsten Abend beklagt man die Brutalität von Jugendgangs in selbiger Stadt.
Sind wir nicht doch schon in Gefahr, Thomas Manns berühmte Mahnung, dass man dem Tod keine Herrschaft über seine Gedanken einräumen dürfe, in den Wind zu schlagen?
Und was für Bücher über das Osteuropa in den zwanziger Jahren dieses Jahrhundert eines Tages in den Regalen stehen werden … Ich möchte es mir nicht ausmalen.