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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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War­um liegt Mag­de­burg nicht an der Mol­dau? In Mel­nik, 60 Kilo­me­ter nörd­lich von Prag, flie­ßen Mol­dau und Elbe zusam­men. Ab nun heißt der Fluss Elbe – tsche­chisch Labe –, obwohl die Mol­dau – tsche­chisch Vla­ta­va – hier sogar eini­ge Kilo­me­ter mehr hin­ter sich hat. War­um nicht Mol­dau, Elmol, Mol­del, Eldau, Mol­be, Dau­be oder ein­fach Otta? Elbe – eine will­kür­li­che Namens­ge­bung? Vie­le patrio­tisch gesinn­te Tsche­chen hadern damit, dass die stol­ze Mol­dau in der Elbe unter­geht. Doch for­dert kei­ner, die Elbe in Mel­nik enden und die Mol­dau bis in die Nord­see flie­ßen zu las­sen. Dass nicht die Mol­dau als Elbur­sprung gilt, geht zurück auf die im Mit­tel­al­ter ver­fe­stig­ten Benen­nun­gen der bei­den Flüs­se, die mit der Sied­lungs­ge­schich­te Böh­mens zu tun haben. Der Bereich der obe­ren Elbe war vor der Zuwan­de­rung der sla­wi­schen Stäm­me bereits besie­delt. Die Sied­lungs­ge­schich­te an der Mol­dau beginnt spä­ter. Außer­dem ist die Elbe ober­halb der Mün­dung brei­ter und fließt gera­de­aus, wäh­rend die Mol­dau an der Mün­dung deut­lich nach links abbiegt. So ent­steht der Ein­druck, als sei die Elbe der Haupt­fluss und neh­me die klei­ne­re Mol­dau in sich auf.

Namen und Begrif­fe sind histo­risch ent­stan­den, haben ihre Grün­de und besit­zen eine Geschich­te. »Die Wor­te bil­den die Exi­stenz­form der Begrif­fe, mit denen das Den­ken ope­riert, und die Begrif­fe sind der gedank­li­che Inhalt, die Bedeu­tung der Wor­te«, sagen die Phi­lo­so­phen Georg Klaus und Man­fred Buhr. Es gibt oft meh­re­re Wör­ter für einen Begriff, die Syn­ony­me. Das Rie­sen­rad wird neu­er­dings Rus­sen­schau­kel genannt, wie einst im Zaren­reich des 18. Jahr­hun­derts. Mit einem Wort kön­nen unter­schied­li­che Begrif­fe gemeint sein. Kei­ner ist irri­tiert, weil die Maus des Com­pu­ters kei­nen Speck mag. Man auf der Bank im Park kei­ne Zin­sen zah­len muss. Die Dich­tung im Was­ser­hahn kei­ne Chan­cen auf den Lite­ra­tur­preis hat. Der Bück­ling kei­nen Bück­ling macht. Diet­rich mit dem Diet­rich das Tor öff­net. Und mit dem Kreuz auf dem Kreuz die Stra­ße kreuzt. Eng­län­der und Fran­zo­se im Werk­zeug­ka­sten lie­gen, sich zwei Jäger tref­fen und bei­de tot sind. Laut Guin­ness-Buch der Rekor­de hat das Wort «Läu­fer» mit 24 die mei­sten Bedeu­tun­gen. Der »Läu­fer« ist unter ande­rem ein schma­ler, lan­ger Tep­pich, ein jun­ges Haus­schwein, eine Schach­fi­gur, ein Mit­tel­feld­spie­ler im Fuß­ball, ein Lauf­sport­ler oder ein Rota­ti­ons­kol­ben an einem Wan­kel­mo­tor. Der Begriff soll die all­ge­mein­sten und wesent­lich­sten Eigen­schaf­ten des Objekts ange­ben. »Wor­auf es bei dem Stu­di­um der Wis­sen­schaft ankommt, ist die Anstren­gung des Begriffs auf sich zu neh­men«, sagt Hegel. Im Gegen­satz zu einer Aus­sa­ge sind Begrif­fe nicht wahr oder falsch. Sie sind zweck­mä­ßig oder unzweck­mä­ßig. Begrif­fe, die kei­ne Grund­la­ge in der Rea­li­tät haben, kann man »mit jenen Wäl­dern des Nor­dens ver­glei­chen, deren Bäu­me kei­ne Wur­zeln haben«, so Dide­rot. Ein Wind­stoß – und sie fal­len um. Begrif­fe sind nach Engels das Ergeb­nis der Erkennt­nis eines Gegen­stan­des oder einer Erschei­nung. Sie sind das »Resul­tat, wor­in sich … Erfah­run­gen zusam­men­fas­sen«. Ihre Geschich­te ist abge­lei­tet aus der der Ver­hält­nis­se, die sie sprach­lich aus­drücken. Sie benen­nen etwas und bil­den die Merk­ma­le des Benann­ten ab, beschrei­ben und begrün­den die Realität.

Begrif­fe sind unan­ge­mes­sen, wenn sie die Abgren­zung unter­ein­an­der behin­dern und wenn sie dem Inhalt des Wider­zu­spie­geln­den nicht gerecht wer­den. So ist zwei­fels­frei, dass die »Arbeit­ge­ber« kei­ne Arbeit geben. Sie stel­len Arbeits­plät­ze zur Ver­fü­gung und legen Arbeits­auf­ga­ben fest. Die »Arbeit­neh­mer« wie­der­um neh­men kei­ne Arbeit, son­dern lei­sten sie, indem sie gegen Bezah­lung ihre Arbeits­kraft dem Kapi­ta­li­sten über­las­sen. Das »Kau­der­welsch« der Öko­no­men, wie Engels die gewoll­te Ver­dre­hung nennt, zeigt, wie will­kür­lich die Begriffs­bil­dung sein kann.

Begrif­fe sind von Inter­es­sen dik­tiert, kön­nen ent­wer­tet und miss­braucht wer­den. Demo­kra­tie, Frei­heit, Gerech­tig­keit – aus­ge­höhl­te Grund­be­grif­fe. Demo­kra­tie – Herr­schaft des Vol­kes? Wer glaubt es noch? Gleich­heit – ver­kom­men zum Fei­gen­blatt für Ungleich­heit. Frei­heit – für wen? Frei­heit – Ein­sicht in die Not­wen­dig­keit, die Aner­ken­nung des Unver­meid­ba­ren? Frei­heit – die Unter­wer­fung, die Akzep­tanz der Macht, der gott­ge­woll­ten? Das Abfin­den mit eige­ner Macht-, Hilfs- und Bedeu­tungs­lo­sig­keit? Frei­heit – die Frei­heit des ande­ren? Immer des ande­ren? Frei­heit gleich unein­ge­schränk­te Tole­ranz? Auch der Into­le­ranz und damit Unfrei­heit? Fort­schritt – Bewe­gung zum Bes­se­ren oder unauf­halt­sa­mer Marsch zum Abgrund ange­sichts des Bevöl­ke­rungs­wachs­tums und der Zer­stö­rung der Natur? Fort­schritt – Hebung des Wohl­stan­des oder Per­fek­tio­nie­rung des Mor­dens? Nach Theo­dor W. Ador­no und Max Hork­hei­mer besteht die Ambi­va­lenz des Fort­schritts dar­in, dass er das Leben ver­bes­sert und zugleich bedroht. Er ent­wicke­le das Poten­ti­al der Frei­heit und die Wirk­lich­keit der Unter­drückung. Heil und Unheil – sie sind im Fort­schritts­be­griff aufs eng­ste ver­bun­den. (»Wohin wollt ihr mit eurem Fort­schritt?« https://www.cicero.de, 11.8.2018)

Begrif­fe haben ihre Geschich­te. Sie ändern ihre Bedeu­tung im Lau­fe der Zeit. »Die Begriffs­ge­schich­te war immer schon«, schrei­ben Ernst Mül­ler und Fal­ko Schmie­der in ihrem kri­ti­schen Kom­pen­di­um der Begriffs­ge­schich­te und histo­ri­schen Seman­tik, »aber ins­be­son­de­re seit den 1920er Jah­ren kei­nes­wegs nur eine harm­lo­se phi­lo­lo­gi­sche, son­dern zugleich eine poli­ti­sche und wis­sen­schafts­po­li­ti­sche Metho­de, mit der gei­sti­ge Kämp­fe der Zeit durch­foch­ten wer­den«. Sie sind ver­gäng­lich, ver­ge­hen und ent­ste­hen mit den rea­len Ver­hält­nis­sen, die sie wider­spie­geln. Wör­ter, auch rela­tiv jun­ge, ver­schwin­den mit den Din­gen, über die der Fort­schritt hin­weg­geht: »Ton­band«, »Video­re­cor­der«, »Walk­man«. Begrif­fe wie »mate­ri­ell-tech­ni­sche Basis«, »Mei­ster des Sports«, »Ver­dien­ter Akti­vist«, »Maschi­nen­aus­leih­sta­ti­on«, »Dede­ron«, »Bri­ga­de­ta­ge­buch«, »Werk­tä­ti­ger« und »Kol­lek­tiv« sind mit dem Sozia­lis­mus unter­ge­gan­gen, ver­lie­ren oder wan­deln ihre Bedeu­tung wie der »Sub­bot­nik«. Begrif­fe nut­zen sich ab, ver­al­ten wie Omas Küchen­schür­zen (übri­gens auch ein kaum noch gebrauch­tes Wort.) Wer spricht noch von »Frau­en­zim­mer«, »Adams­ko­stüm«, »Back­fisch«, »Fräu­lein« oder »Hasen­brot«? »Kur­pfu­scher«, »Tin­gel­tan­gel«, »Brim­bo­ri­um«, »Zin­no­ber«? »Rem­mi­dem­mi«, »Wanst«, »Mum­pitz«, »Koko­lo­res«, »Fir­le­fanz« oder »Scha­ber­nack«, den Till Eulen­spie­gel vie­len sei­ner Zeit­ge­nos­sen spiel­te? Oder klagt übers »Zip­per­lein« und schwärmt von der »Augen­wei­de«? Vie­le klang­vol­le, bild­haf­te Begrif­fe sind ver­schwun­den und ande­re vom Aus­ster­ben bedroht. Im »Duden« ste­hen 145.000 Stich­wör­ter. 14.000 davon ver­wen­de der Durch­schnitts­deut­sche, schreibt die Jour­na­li­stin Katha­ri­na Mah­ren­holtz in ihrem Buch »Luf­ti­kus und Tau­send­sas­sa«. Neue Ver­hält­nis­se brin­gen neue Begrif­fe her­vor. Dass die Com­pu­ter­welt ihre eige­ne Spra­che hat, ist ver­ständ­lich, dass aus der guten alten Kun­den­dien­st­ruf­num­mer die »Hot­line«, aus Kin­dern »Kids« und aus Stöckel­schu­hen »High Heels« gewor­den sind, muss einem nicht gefal­len. »Leih­ar­beit«, »Klo­nen«, »Gen­ma­ni­pu­la­ti­on«, »Kli­ma­ka­ta­stro­phe«, »Isla­mi­scher Staat«, »Inter­net«, »Digi­ta­li­sie­rung«, »Hartz-IV-Emp­fän­ger«, »Kopf­pau­scha­le«, »Bedin­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men«, »Anker­zen­tren« sind Begrif­fe neue­ren Datums.

Begrif­fe hel­fen zu begrei­fen – manch­mal sol­len sie die Wirk­lich­keit kaschie­ren. Der Aus­druck »Asyl­tou­ris­mus« deu­tet die Flucht vor Krieg, Fol­ter und Hun­ger um in Urlaubs­rei­sen. Er wur­de wie der Begriff »Anti-Abschie­be-Indu­strie« von christ­lich-sozia­len Poli­ti­kern erfun­den, von denen man gern wis­sen möch­te, was sie unter den Begrif­fen »christ­lich« und »sozi­al« ver­ste­hen. Mit »Gra­tis­ge­schen­ken« ver­su­chen Ver­sand­häu­ser und Zei­tun­gen mehr von ihren Pro­duk­ten und ihre Käu­fer für dumm zu ver­kau­fen. Wer eine Ware kauft oder ein Pro­be­abo abschließt, erhält zum Dank ein Geschenk. Sogar gra­tis. Also kosten­los. Es ist so unglaub­lich, dass Kapi­ta­li­sten etwas ver­schen­ken, dass Kun­den extra dar­auf hin­ge­wie­sen wer­den müs­sen. Gleich dop­pelt. Sonst ver­ste­hen sie es nicht. Bes­ser noch drei­fach: ein »kosten­lo­ses Gra­tis­ge­schenk«. Damit hof­fent­lich auch der letz­te Töl­pel begreift, dass er für das Geschenk nichts bezah­len muss. Doch der Schein trügt, wie so oft. Wer glaubt, ihm wer­de etwas geschenkt, kennt den Kapi­ta­lis­mus nicht. Er müss­te wis­sen, dass die Kosten der »Gra­tis­ge­schen­ke« in die Prei­se der Waren ein­kal­ku­liert sind, selbst dann, wenn es sich um den aller­bil­lig­sten Schnick­schnack han­delt, um Ramsch, für den sich nicht mal ein Besu­cher eines Floh­mark­tes inter­es­siert, oder, wie Die Zeit schrieb, »um die Insol­venz­mas­se von 1-Euro-Shops und/​oder ästhe­ti­schen Son­der­müll: grell­bun­te Pla­stik­schüs­seln, eine Qual fürs Auge. Irgend­wel­chen glä­ser­nen Deko-Krem­pel für die Fen­ster­bank, der so häss­lich ist, dass sogar Recy­cling­hö­fe die Annah­me ver­wei­gern. Arm­band­uh­ren, deren Zei­ger bei der ersten Erschüt­te­rung abbre­chen und deren Arm­bän­der nach zwei Wochen ein­rei­ßen«. (Mar­cus Roh­wet­ter: »Quen­gel-Zone: ›Ihr Gra­tis-Geschenk‹«, https://www.zeit.de, 2.8.2018)