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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Grassierende Gesetzlosigkeit

»Tat­säch­lich spre­chen Meteo­ro­lo­gen im ame­ri­ka­ni­schen Westen jetzt von ›Feu­er-Jah­res­zei­ten‹, als sei das so nor­mal wie der Früh­ling, aber das ist es nicht. Das alles geschieht auf­grund mensch­li­cher Ein­grif­fe in die Natur von Sei­ten der Groß­kon­zer­ne, die die gan­ze Welt zer­stö­ren. Wenn Poli­ti­ker Umwelt­schüt­zer angrei­fen und den Kli­ma­wan­del als Schwin­del bezeich­nen, tun sie das nur, um dem Inter­es­se der Kon­zern­ka­pi­ta­li­sten zu die­nen statt der Umwelt.« – So Mumia Abu-Jamal am 8. Janu­ar in sei­ner – immer noch aus der Haft gesen­de­ten – dies­jäh­ri­gen Gruß­bot­schaft an die XXVII. Rosa-Luxem­burg-Kon­fe­renz der jun­gen Welt. Er zitier­te Her­bert Mar­cuse, der schrieb, dass die »kom­mer­zia­li­sier­te, ver­schmutz­te und mili­ta­ri­sier­te Natur die Lebens­welt des Men­schen nicht nur im öko­lo­gi­schen, son­dern auch in einem sehr exi­sten­ti­el­len Sinn beschnit­ten« habe. »Sie ver­hin­dert die ero­ti­sche Beset­zung (und Trans­for­ma­ti­on) sei­ner Umwelt; sie nimmt dem Men­schen die Mög­lich­keit, sich in der Natur wie­der­zu­fin­den, jen­seits und dies­seits der Ent­frem­dung; sie hält den Men­schen auch davon ab, die Natur als Sub­jekt eige­nen Rechts anzuerkennen.«

Es ver­blüfft, dass ein Mensch, des­sen Natur­kon­takt beson­ders bru­tal unter­bun­den ist, weil er im Dezem­ber 2021 sein vier­zig­stes Jahr hin­ter Gefäng­nis­git­tern zäh­len muss­te, sich so prä­zi­se für die Auf­he­bung des poli­tisch ver­schul­de­ten Grund­wi­der­spruchs ein­setzt, in dem sich die Mensch­heit mitt­ler­wei­le befin­det. Abu-Jamal weist aller­dings dar­auf hin, dass es sich nur um einen Teil der Mensch­heit han­delt, der dafür ver­ant­wort­lich zu machen ist: Die indi­ge­nen Völ­ker haben »in Ein­klang mit der Natur und ihrem öko­lo­gi­schen Erbe« gelebt. »Das waren Men­schen, die die Euro­pä­er ›Wil­de‹ nann­ten, aber nach meh­re­ren Jahr­hun­der­ten der Erobe­rung und Dezi­mie­rung der Natur« und der »industrielle[n] Revo­lu­ti­on befin­det sich das Kli­ma der Erde in einer Kri­se. Man fragt sich, wer hier wirk­lich ›die Wil­den‹ sind.«

Unge­bro­chen ist Mumia Abu-Jamals Wil­le, immer wie­der Bei­trä­ge zum poli­ti­schen Kampf für die Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen welt­weit zu lei­sten. Und das, obwohl er per­sön­lich von wei­te­rer Ver­schlech­te­rung sei­nes Gesund­heits­zu­stan­des betrof­fen ist und obwohl er einen Rück­schlag sei­ner Bemü­hun­gen um die Wie­der­auf­nah­me sei­nes juri­sti­schen Ver­fah­rens von 1982 hin­neh­men musste.

Wäh­rend sei­ner ver­spä­tet behan­del­ten Coro­na-Erkran­kung im ver­gan­ge­nen Früh­jahr wur­de eine Herz­in­suf­fi­zi­enz fest­ge­stellt, die im April eine dop­pel­te Bypass-Ope­ra­ti­on nötig mach­te. Trotz Pro­te­sten der Unter­stüt­zer­be­we­gung wur­de Abu-Jamal vor und nach dem Ein­griff an Hän­den und Füßen ans Bett gefes­selt – eine offen­bar gän­gi­ge Pra­xis im Straf­voll­zug, die auch dann bei­be­hal­ten wird, wenn der Gefan­ge­ne allein schon wegen sei­nes Alters und diver­ser Vor­er­kran­kun­gen nicht mehr flucht­ver­däch­tig sein dürfte.

Außer­dem hat Abu-Jamal immer wie­der bekräf­tigt, dass er auf ein neu­es Gerichts­ver­fah­ren besteht, um sei­ne Unschuld im Fal­le des ihm vor­ge­wor­fe­nen Poli­zi­sten­mords von 1981 zu bewei­sen. Das zwan­zig Jah­re gegen ihn bestehen­de Todes­ur­teil wur­de 2011 in eine lebens­lan­ge Haft­stra­fe umge­wan­delt, weil die Justiz selbst erheb­li­che Zwei­fel an der Rechts­staat­lich­keit des Pro­zes­ses ein­ge­ste­hen muss­te. Das hat jedoch bis heu­te nicht zur Wie­der­auf­nah­me des Ver­fah­rens geführt. Die Art und Wei­se, wie das immer wie­der ver­hin­dert wur­de, offen­bart, wie stark der angeb­li­che Rechts­staat USA in Wirk­lich­keit von poli­ti­schen Ein­grif­fen geprägt ist. So hat der zustän­di­ge, einem neu­en Ver­fah­ren anfangs auf­ge­schlos­se­ne Staats­an­walt Lar­ry Kras­ner plötz­lich eine Kehrt­wen­dung voll­zo­gen und gegen ein neu­es Ver­fah­ren ent­schie­den, wodurch eine 2018 getrof­fe­ne Gerichts­ent­schei­dung hin­fäl­lig wur­de. Erklär­bar ist das nur, wenn man annimmt, dass die über­mäch­ti­ge, den Fall von Anfang an hoch­gra­dig mani­pu­lie­ren­de Poli­zei­ge­werk­schaft Kras­ner unter Druck gesetzt hat. Dass das gelang, ist umso erstaun­li­cher, weil seit 2018 ein wah­rer Tre­sor an Beweis­mit­teln zur Ver­fü­gung steht, die die Wie­der­auf­nah­me des Ver­fah­rens gera­de­zu erzwin­gen: Wie an die­ser Stel­le schon berich­tet, wur­den in Abstell­räu­men der Staats­an­walt­schaft sechs »ver­ges­se­ne« Archiv­kar­tons mit Mate­ria­li­en des ersten Pro­zes­ses gefun­den, die des­sen Rechts­ver­let­zun­gen mehr­fach bele­gen. Das betrifft ins­be­son­de­re den »Kauf« von angeb­li­chen Zeu­gen. So lager­te in den Kisten ein Brief eines als Haupt­zeu­ge fun­gie­ren­den Taxi­fah­rers an den dama­li­gen Staats­an­walt, in dem ver­spro­che­nes »Geld« ein­ge­for­dert wird. Min­de­stens eben­so gra­vie­rend ist die Mani­pu­la­ti­on der Mit­glie­der­li­ste der Jury. Hin­ter die Namen wur­den Kür­zel ein­ge­fügt: »b« für black und »w« für white, wor­auf der syste­ma­ti­sche Aus­schluss von Afro­ame­ri­ka­nern folgte.

Mit die­sen und ande­ren Mani­pu­la­ti­ons­nach­wei­sen hat die Ver­tei­di­gung Mumia Abu-Jamals im Novem­ber 2021 erneut den Antrag auf Wie­der­auf­nah­me des Ver­fah­rens gestellt. Dass sie sich ent­schloss, zumin­dest einen Teil der in den Kisten befind­li­chen Beweis­mit­tel in die Öffent­lich­keit zu brin­gen – womit die­se ihre Gerichts­wirk­sam­keit ver­lie­ren –, lässt die Ver­mu­tung zu, dass noch erheb­lich mehr Beweis­mit­tel vor­han­den sind. Laut Johan­na Fer­nan­dez von der »Cam­paign to Bring Mumia Home«, wer­fe das in den Kisten befind­li­che Mate­ri­al »ein grel­les Licht auf Jahr­zehn­te wei­ßer Vor­herr­schaft und gras­sie­ren­der Gesetz­lo­sig­keit in den Gerich­ten und Gefäng­nis­sen der USA. Es ent­hält aber auch rie­si­ge Mög­lich­kei­ten für die Frei­heit Mumia Abu-Jamals.«

Aller­dings lehrt die Erfah­rung, dass gericht­li­che Ent­schei­dun­gen in die­sem Fall oft sehr lang­wie­rig sind. Wie poli­tisch rele­vant er nach wie vor ist, zeigt sich aktu­ell in der Wahl­kam­pa­gne eines rechts-außen ange­sie­del­ten Anwalts namens Geor­ge Bochet­to, der Sena­tor in Penn­syl­va­nia wer­den möch­te. Mit Unter­stüt­zung der Poli­zei­ge­werk­schaft wirbt er für die Auf­recht­erhal­tung der lebens­lan­gen Haft­stra­fe Abu-Jamals.

Die­se poli­ti­sche Rele­vanz ist es wohl, die ver­hin­dert, dass Mumia Abu-Jamal auf dem Gna­den­we­ge ent­las­sen wird, wie es hin und wie­der bei star­ker Erkran­kung von Häft­lin­gen prak­ti­ziert wird. Im ver­gan­ge­nen Jahr kamen David Gil­bert, ein Mit­glied der Black Libe­ra­ti­on Army und Rus­sell Shoatz, ein ehe­ma­li­ger Black Pan­ther, mit die­ser Begrün­dung frei.