Die Nutzung der Atomkraft in Deutschland bleibt ein Auslaufmodell, auch wenn es gegenwärtig zunehmend Stimmen gibt, die mit Blick auf die Klimakrise Atomkraftwerke als angeblich CO2-freie Energieträger preisen. Doch selbst die Betreiber der Atomkraftwerke – Eon, RWE und EnBW – wollen das Fass nicht noch einmal aufmachen, sie haben sich strategisch neu ausgerichtet und setzen auf die regenerativen Energien. Das Standardwerk von Joachim Radkau (»Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft«, Rowohlt, 1983) muss also nicht um ein weiteres Kapitel fortgeschrieben werden.
Der Historiker beschrieb einst die Geschichte der deutschen Atomwirtschaft unter wechselnden Aspekten. Radkau verwies auf die politischen Ursprünge, die mit der nuklearen Teilhabe und einem militärischen Nutzen eng verwoben waren (Stichwort: Atomminister Franz Josef Strauß). Er setzte sich zudem mit den technologischen und ökonomischen Fragen detailliert auseinander und konnte so untermauern, dass die Stromwirtschaft nahezu gedrängt worden war, statt auf die Kohleverstromung auf die Atomkraft zu setzen – flankiert und gelockt von Fördermilliarden. Die Summe derartiger direkt berechenbarer Begünstigungen für den Zeitraum 1956 bis 2006 betrug nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 45,2 Milliarden Euro. Überschlägt man die Forschungsausgaben der Bundesländer und der EU, so lagen die öffentlichen Ausgaben für die deutsche Atomenergie in diesem Zeitraum bei etwa 50 Milliarden Euro.
Industriepolitisch ist dieses Kapitel der Energieversorgung mit seinen zivil-militärischen Facetten recht gut erforscht, ein ärgerliches Relikt ist die Urananreicherungsanlage in Gronau, die vom Atomausstieg ausgeklammert wurde.
Weniger gut erforscht ist die Bewegungsgeschichte selbst. Radkaus Blick auf die Bewegung war nicht von sonderlicher Sympathie geprägt. Er schrieb in seinem Folgeband, den er gemeinsam mit Lothar Hahn verfasste: »Anti-Atom-Pamphlete, die zur Selbstbestätigung der Protestbewegung dienen, gibt es seit vierzig Jahren in Hülle und Fülle. Aber eine nur moralisierende Sicht, die in der Atomkraft die Macht des Bösen erblickt – ob des Großkapitals, des wissenschaftlichen Größenwahns oder der mit der Bombe liebäugelnden Machtpolitik – versperrt das Verständnis der bundesdeutschen Kernenergie-Geschichte. Auf diese Weise lernt man nicht aus ihr.« (»Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft«, oekom, 2013, S. 11/12)
Der Parforceritt durch Freiheitsbewegungen von Hellmut G. Haasis hingegen (»Spuren der Besiegten. Freiheitsbewegungen vom demokratischen Untergrund nach 1848 bis zu den Atomkraftgegnern«, Rowohlt, 1984) endet im dritten Band mit der Räumung der Freien Republik Wendland 1981. Erfrischend, dass diese Geschichte von unten viele Textdokumente einstreut und sie dadurch lebendig werden lässt. Der Versuch, die Geschichte – nicht immer der Besiegten (!) – von unten zu schreiben, gleicht einem Wirrwarr mit vielen Fäden, die verknotet werden müssten, einem Puzzle mit vielen Unbekannten. Und so ist es längst die »Bewegung« selbst, die sich selbst zum Forschungsgegenstand erklärt – sekundiert von Forschungseinrichtungen. Ein Beispiel von vielen ist der legendäre Gorleben-Treck nach Hannover. Vor gut 40 Jahren – am 25. März 1979 – machte sich im Wendland ein Konvoi von rund 350 Treckern unter dem Motto »Albrecht, wir kommen!« auf den Weg in die niedersächsische Landeshauptstadt.
Der Gorleben-Treck gilt manchen als Initialzündung einer der wichtigsten sozialen Bewegungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Anti-Atom-Bewegung war zuvor lokal begrenzt: 1973 wurde Wyhl als Standort für ein Atomkraftwerk am Kaiserstuhl genannt. Nachdem ein solches Projekt am Widerstand der »Bevölkerung« gescheitert war, flammte der Konflikt in Norddeutschland mit dem Baubeginn des AKW Brokdorf (1976) und dem Gorleben-Projekt (1977) auf.
Zwei Jahre zuvor hatte der damalige Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) das Elbdorf Gorleben zum Standort für ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) erklärt. Das Herzstück neben einer Brennelementefabrik, oberirdischen Pufferlagern für den Atommüll und einer unterirdischen Endlagerung im Salzstock Gorleben-Rambow sollte eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) sein, in der abgebrannte Brennelemente recycelt würden. Im Klartext: Plutonium sollte abgeschieden werden, und Plutonium – hier schimmert der Ursprung des deutschen Atomprogramms hindurch – wäre militärisch für den Bombenbau nutzbar oder würde, wie es teilweise auch geschah, bei der Fertigung von Brennelementen beigemischt, um einen höheren Abbrand zu erreichen und damit mehr Energie freizusetzen.
Das NEZ stieß auf unerwarteten Widerstand. Mobilisiert durch die teilweise Kernschmelze im Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg (USA) am 28. März 1979 schlossen sich zahlreiche Menschen dem Treck nach Hannover an. Als der Protestzug am 31. März in Hannover ankam, war er auf über 500 Traktoren angewachsen und wurde von rund 100.000 Menschen empfangen – bis dahin die größte Anti-Atom-Demonstration in Deutschland. Auf ihrer Kundgebung forderten die Lüchow-Dannenberger Landwirte den Ministerpräsidenten auf, die Pläne für das NEZ im Wendland aufzugeben. Der öffentliche Druck zeigte Wirkung, eine Woche später erklärte Albrecht die WAA im Wendland für »politisch nicht durchsetzbar«. Im Bundestag schob er noch eine Erklärung nach: Die Landesregierung sei nicht bereit, »auf verängstigte Menschen zu schießen«, damit die Anlage gebaut werden könne, die zwar wünschenswert, aber im Augenblick nicht notwendig sei (Elbe-Jeetzel-Zeitung 5.7.1979, zitiert nach Wolfgang Ehmke: »Zwischenschritte«, Kölner Volksblatt-Verlag 1987).
Den Treck haben aktuell zwei Ausstellungen zum Thema. Die Sonderschau »Trecker in Hannover« über den Treck und die Bewegung zum Atomausstieg ist noch bis zum 28. Juli im Historischen Museum Hannover zu sehen. Im Kreishaus Lüchow wird bis 30. Juni die Ausstellung »Der Gorleben-Treck – 40 Jahre danach« gezeigt, im Anschluss soll die Ausstellung auf Wanderschaft gehen. Das Projekt entstand in Kooperation mit dem Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz Universität Hannover und dem Historischen Museum Hannover. Mit Dokumenten, Erinnerungsstücken und illustrativen Inszenierungen wird die politische Bedeutung des Trecks gewürdigt. Beide Ausstellungen – die in Lüchow und die in Hannover – befassen sich zwar mit dem gleichen Thema, unterscheiden sich aber vom Gestaltungskonzept wie auch vom inhaltlichen Schwerpunkt her deutlich voneinander, offenbaren dadurch Forschungslücken und laden zu weiteren Nachforschungen ein.
Die Ausstellung im Wendland lenkt den Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung des Trecks, der nicht nur die Atompolitik beeinflusst, sondern auch das Leben vieler Menschen geprägt und verändert hat. Sie zeigt die Entwicklung der Region aus der Perspektive von Menschen, die entweder schon damals dabei waren oder heute das fortsetzen, was die Alten begonnen haben. Im Mittelpunkt stehen – neben historischen Fotos und Filmdokumenten – mehr als zwanzig ausgewählte Zeitzeugen-Interviews, die das Spektrum der wendländischen Protestbewegung widerspiegeln.
Wer aber was und mit wem »angestoßen« hat, ist damit auch noch nicht erzählt. Es sind jene »Zufälle«, Begegnungen und Erlebnisse, die aus dem Zusammenwirken von Menschen hervorgehen. Diese Dinge sind noch weitgehend unerforscht, obwohl sie sich als Initialkraft für große politische Veränderungen entpuppten. Damit eine Idee viele Beine bekommt, und eine politische Kraft entwickelt, um Erfolge zu erzielen, reicht die Idee allein nicht aus. Erst recht nicht eine Kopie dessen, was andere Menschen an anderer Stelle gemacht haben. Im Zweifel bleiben Resignation, Frustration, Niederlage.
In diesem Fall kam es bekanntlich anders. Wie kam es zu der Treckidee, die die Initialkraft für spätere Erfolge entfaltete?
Es steht außer Frage, dass der Treck der Bäuerinnen und Bauern vom südfranzösischen Larzac nach Paris die Blaupause für die Idee bildete. Maßgeblich war zum einen der Kontakt, den Martin Mombaur zu französischen und deutschen Aktivist*innen hatte, die sich auf dem Plateau du Larzac engagierten. Mombaur war 1975 Dozent am Bildungszentrum Jagdschloss Göhrde, engagierte sich nach der Standortbenennung Gorlebens in der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e. V. als Pressesprecher und gehörte später zu den Gründungsmitgliedern der Grünen. Der Journalist Karl-Friedrich Kassel erinnert sich an die Gespräche mit ihm über die Frage, ob man so etwas auch machen könne. (Karl-Friedrich Kassel: »Ein weißer Fleck in der Genealogie der Namen des Gorleben-Widerstandes: Martin Mombaur«, Blog-Beitrag 2019, https://www.bi-luechow-dannenberg.de/2019/06/13/25515/)
Zu Mombaurs Gesprächspartnern gehörten auch Heidi Burmester und Volker Tonnätt. Burmester hatte auf einer ihrer Südfrankreichreisen Ende der 1970er Jahre den Larzac-Kampf kennengelernt. Sie befreundete sich mit einem dort ansässigen Bauern, organisierte Austauschbesuche zwischen Aktivist*innen aus dem Wendland und vom Larzac, gemeinsam mit Volker Tonnätt interviewte und fotografierte sie die dort kämpfenden Bauern und Bäuerinnen. (Heidi Burmester/Volker Tonnätt: »Zu kämpfen allein schon ist richtig. Larzac«, Jugend und Politik, 1981)
Larzac ist der Name einer Hochebene im südfranzösischen Departement Aveyron. Als 1970 durchsickerte, dass der dort bestehende Truppenübungsplatz um 14.000 Hektar erweitert werden sollte, schlossen sich die betroffenen Bauern in einem Komitee zur Rettung des Larzac zusammen. Es begann eine Mobilisierungswelle, deren Sonderheiten zahlreiche Parallelen zum Kampf gegen Gorleben als Atommülldeponie aufwiesen: Die zahllosen Larzac-Komitees in Frankreich ähneln den späteren Gorleben-Freundschaftskreisen, Unterstützer*innen kamen auf dem Larzac zusammen, um vom Militär aufgekaufte und unterdessen verfallende Hofstellen wieder aufzubauen, die gekappte Wasser- und Stromversorgung zu erneuern – auch in Gorleben gab es Sommercamps und Ernteeinsätze, unter anderem um die Kluft zwischen der städtischen Linken und der konservativen Landbevölkerung zu überbrücken, erklärt einer der damaligen Initiatoren der Sommercamps, Wolfgang Hätscher-Rosenbauer, damals Referent für politische Bildung beim Bund Deutscher Pfadfinder (BDP) im Landesverband Hessen und Mitorganisator des ersten Sommercamps in der Nachbarschaft zum NEZ Gorleben. Er schreibt dazu:
»In der Tradition der Pfadfinderbewegung gab es ›Kundschaften‹, und der links orientierte BDP hatte die Idee zu ›Politischen Kundschaften‹. Im Rahmen des Bildungsurlaubes führten wir also ›Politische Kundschaften‹ als Bildungsurlaube durch: Ich organisierte in Hessen im Rahmen meiner Tätigkeit als Bildungsreferent politische Kundschaften als Besuche in selbstverwalteten Jugendzentren […] Auf Bundesebene veranstalteten wir politische Kundschaften zum Beispiel nach Irland mit Besuchen basisdemokratischer Initiativen. Ein Bildungsurlaub auf dem Larzac war ein Thema, und ich reiste mit Wolfgang Hippe vom Landesverband Rheinland-Pfalz des BDP dorthin zur Recherche vor Ort, wir kamen in ein verlassenes Dorf, das zum Verkauf stand, und es entstand die Idee eines Seminarzentrums dort. Das scheiterte u. a. an den Finanzen. Aber so lernten Wolfgang Hippe und ich uns näher kennen, und es kam die Idee auf, die politischen Kundschaften in Deutschland auf die entstehende Anti-AKW-Bewegung auszuweiten. So entstand die Idee, nach einigen Besuchen der Region Gorleben, die uns sehr gefiel (das Wendland ist schon sehr besonders), ein Gorleben-Camp als Bildungsurlaub und ›Politische Kundschaft‹ im Rahmen des BDP bundesweit zu organisieren.« (Persönliche Zuschrift)
Insgesamt viermal zogen die Bäuer*innen vom Larzac nach Paris, einer der Höhepunkte war der Treck 1973. Die Bilder von grasenden Schafen unter dem Eifelturm gingen um die Welt. Eine »Arche« mit Viehzeug wurde schließlich auch vor dem Landtag in Hannover errichtet, als die Landesregierung in einem zweiten Anlauf die Wiederaufarbeitungsanlage in Dragahn, im Westkreis Lüchow-Dannenbergs, errichten lassen wollte. Im Januar 1983 wird nach einem Fußmarsch nach Hannover – erst 10, dann 100, dann 1000 Personen – mit Viehzeug und Traktoren demonstriert.
Marianne Fritzen als Gründungsmitglied der Bürgerinitiative kannte den Larzac-Widerstand ebenfalls. Sie stand als geborene Elsässerin in ständigem Austausch mit den Initiativen im Dreyecksland, denn zeitgleich, bis dahin aber ohne jene Mobilisierungskraft wie in Wyhl, begann im Wendland die Anti-Atom-Arbeit. Im Dezember 1973 wurden die Pläne bekannt, bei Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk zu bauen. Langendorf liegt nur zehn Kilometer elbabwärts von Gorleben entfernt.
Wolfgang Hertle schreibt dazu: »So wie die Wendland-Bauern die Treckerdemonstration (710 Kilometer von Larzac nach Paris 1973) zum Vorbild für ihren Treck 1979 vom Wendland nach Hannover nahmen, gab die Arbeit des Zentrums für Gewaltfreiheit »Le Cun du Larzac« entscheidende Impulse für den Aufbau eines Tagungshauses für gewaltfreie Aktion im Wendland.« (Wolfgang Hertle: »Adieu Marianne!« 2016, https://www.graswurzel.net/gwr/2016/05/adieu-marianne/
Wieder ist es Wolfgang Hertle, der auf eine weitere zufällige Verbindung verweist, die Marianne Fritzen inspirierte: Für die Graswurzelgruppen war es ein glücklicher Umstand gewesen, dass eines ihrer ersten bundesweiten Treffen im Sommer 1974 auf der Schelinger Höhe im Kaiserstuhl stattfand. Durch die Vermittlung der Gewaltfreien Aktion Freiburg kamen die Teilnehmerinnen über die Gespräche mit führenden Mitgliedern der dortigen Bürgerinitiative erstmals in intensivere Berührung mit der Problematik der »zivilen Atomindustrie«. »Dieser Zugang über persönliche Kontakte vor Ort wirkte sich weit nachhaltiger aus, als es eine nur über Literatur erfolgte Beschäftigung mit dem Thema vermocht hätte. Die Bauplatzbesetzung in Wyhl im Frühjahr 1975 hatte zweifellos eine Schlüsselfunktion sowohl für die bundesweite Anti-AKW-Bewegung als auch für die Wahrnehmung der Gesamtproblematik in der bundesdeutschen Öffentlichkeit.« (Wolfgang Hertle: »Larzac, Wyhl, Brokdorf, Seabrook, Gorleben«, 2015, https://castor.divergences.be/spip.php?article450)
All diese Fäden liefen im März 1980 im Wendland zusammen: Bauern aus Badisch-Sibirien, also Boxberg und Schwabhausen, die sich gegen eine Daimler-Benz-Teststrecke wehrten, Leute aus Plogoff in der Bretagne, wo ein AKW-Komplex errichtet werden sollte, und vom Larzac kamen in Trebel zusammen, dort wurde ein Zelt aufgebaut, vor dem die Bundschuhfahne wehte, ein Symbol widerständiger Bauern im Elsass und in Baden Anfang des 16. Jahrhunderts.
1981 annullierte François Mitterand als neugewählter Präsident das Vorhaben, in Plogoff Atomkraftwerke zu errichten, und schließlich auch den Plan, den Truppenübungsplatz auf dem südfranzösischen Larzac-Plateau zu erweitern. Bis heute wirkt das Beispiel des Larzac-Widerstands inspirierend auf Basisbewegungen in aller Welt. Der Salzstock Gorleben als mögliches Endlager für hochradioaktive Abfälle ist noch nicht annulliert. Aber nah dran an der Blaupause ist man im Wendland schon.