Am 11. Juni 2021 sind in Bielefeld die Negativpreise BigBrotherAwards 2021 an Datenfrevler und -kraken aus Wirtschaft, Bürokratie und Staat verliehen worden. Die Laudationes sind nachzulesen unter: https://bigbrotherawards.de/2021. Während der Verleihungsgala habe ich mich mit der folgenden Rede aus der Jury des BigBrotherAwards verabschiedet:
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Juryst:innen, liebes Digitalcourage-Team! Das ist heute eine Premiere für mich – und auch für Euch. Denn zum ersten Mal seit dem Auftakt der BigBrotherAwards (BBA), also seit nunmehr 21 Jahren, werde ich anlässlich der Verleihung dieses Negativpreises 2021 hier in Bielefeld keine »Laudatio« auf einen der zahlreichen Datenfrevler und -kraken im Öffentlichen Dienst halten. Es bleibt also bei meinen insgesamt zwanzig »Laudationes« von 2000 bis 2020.
Tatsächlich habe ich Anfang dieses Jahres als Vertreter der Internationalen Liga für Menschenrechte die BBA-Jury verlassen. Eine Entscheidung, die ich schweren Herzens getroffen habe – schließlich habe ich mit Jury und Digitalcourage gern zusammengearbeitet und halte das Projekt nach wie vor für wichtig, ja angesichts forcierter Digitalisierung in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft in zunehmendem Maße.
Diese Entscheidung ist mir nach 20 Jahren nur deshalb ein wenig leichter gefallen, weil ich erstens nicht als Bürgerrechts-»Fossil« oder »Urgestein« enden wollte, und zweitens, weil ich vor kurzem ein Buch fertiggestellt habe, das eine Art Bilanz meiner BBA-Arbeit zieht und einen – meinen – Teil der Geschichte der bundesdeutschen BigBrotherAwards reflektiert und dokumentiert. Der Titel: »Datenkraken im Öffentlichen Dienst«.
Das Buch zeichnet den gefährlichen Weg in den präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaat nach – und zwar anhand jener »Preisträger:innen«, die ich in den vergangenen zwanzig Jahren zu »laudatieren« die Ehre hatte: Bundesregierung, Bundeskanzleramt und Verteidigungsministerium, die früheren Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU), weitere Bundes- und Landesinnenminister, die Innenministerkonferenz, Bundeswehr, Bundeskriminalamt, Bundespolizei und Landespolizeien, Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, Bundesanwaltschaft, CDU- und grüne Fraktionen sowie den EU-Ministerrat. Deren »Sicherheitsgesetze« und »Antiterrorpolitik«, deren ausufernde Überwachungs- und Aufrüstungsmaßnahmen können als digitale Meilensteine einer fatalen Entwicklung begriffen werden – vorangetrieben im »Namen der Sicherheit«, mit Sicherheit aber auf Kosten der Freiheit.
Die jeweils Verantwortlichen haben wir »ausgezeichnet« – besser: abgestraft – unter anderem für die rechtliche und politische Mitverantwortung für den US-Drohnenkrieg, für die Legalisierung von Staatstrojanern und elektronischen Fußfesseln, für digitale Aufrüstung zum Cyberkrieg, für das »Lebenswerk« der unkontrollierbaren Datenkrake »Verfassungsschutz«, für Wettrüsten und Massenüberwachung im globalen Informationskrieg der Geheimdienste, für rassistische Rasterungen der Bundespolizei, für fortschreitende Entgrenzung der Staatsgewalt, für die EU-Terrorliste und daraus folgende Existenzvernichtungen per Willkürakt, für die präventiv-polizeiliche Überwachung der Telekommunikation im uferlosen Vorfeld des Verdachts und für die »Antiterror-Gesetzespakete« eines Bundesinnenministers Otto Schily nach 9/11.
Und wie reagierten die Betroffenen auf solche »Ehrungen«? Anstatt sich die künstlerisch gestaltete Preistrophäe persönlich abzuholen und sich der öffentlichen Kritik zu stellen, reagierten die allermeisten, wie es BBA-Mitorganisatorin Rena Tangens (Digitalcourage e.V.) ausdrückt, »mit dem klassischen Dreiklang: Ignorieren, Abstreiten, Abwiegeln«. Speziell von staatlicher Seite, also von »meinen Preisträger:innen«, hat in zwanzig Jahren – ungelogen – nicht eine Ministerin, kein Sicherheitspolitiker, keine Führungskraft einer Sicherheitsbehörde die demokratische Größe bewiesen, sich der Jury, ihrer Kritik und dem Publikum offen und öffentlich zu stellen. Wettgemacht wird diese Verweigerungshaltung nur durch das recht große Medienecho; und nicht zuletzt dadurch, dass unter allen jährlich ausgezeichneten Datenkraken aus Wirtschaft, Gesellschaft und Staat sich überdurchschnittlich viele Staatsdatenkraken befanden, die obendrein auch noch den »Publikumspreis« erhielten, weil sie das Publikum »besonders beeindruckt, erstaunt, erschüttert, empört« haben.
Nur einmal konnte ich einen Preisträger, der sich gedrückt hatte, live und in Farbe stellen: Ich erinnere mich noch genau an jenen Coup, während des »Frühstückfernsehens« von SAT1 im November 2005, zu dem ich zusammen mit dem damaligen BKA-Präsidenten Jörg Ziercke und dem damaligen niedersächsischen Innenminister Uwe Schünemann (CDU) geladen war. In Absprache mit dem Regisseur der Sendung konnte ich Schünemann zu dessen sichtlichem Erstaunen den BigBrotherAward als Foto nachtragen. Nach meiner Kurzlaudatio hat er sich vor laufender Kamera artig bedankt und das gerahmte Foto zur Brust genommen – obwohl ich ihn zuvor dafür rügte, dass er die künstlerische Preistrophäe während der Verleihungsfeier 2003 nicht persönlich abgeholt hatte. Denn hätte er sich damals der Kritik gestellt, hätte er sich womöglich eine Niederlage vor dem Bundesverfassungsgericht ersparen können; denn seine »auszeichnungswürdige« anlasslose präventive Telekommunikationsüberwachung im Polizeigesetz ist später für weitgehend verfassungswidrig erklärt worden.
Zwar konnten wir die »laudatierten« Daten-Skandale, Missstände und Fehlentwicklungen im Staatswesen in aller Regel nicht verhindern, aber wenigstens zur politischen Aufklärung und kritischen Meinungsbildung beitragen; aber auch dazu, den einen oder anderen besonders prekären Meilenstein per Verfassungsbeschwerde gerichtlich ganz oder teilweise aus dem Weg räumen zu lassen – wie etwa im Jahr 2010 die erste anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung. Auf die Gerichtsentscheidungen über die zweite Version der Vorratsdatenspeicherung sowie zum Staatstrojaner in der Strafprozessordnung müssen wir immer noch warten.
Nun, nach zwanzig Jahren Verleihungspraxis und -eindrücken scheint mir die Zeit reif, vom BigBrotherAward aus persönlichen Gründen Abschied zu nehmen – unter anderem auch, weil ich Wiederholungen vermeiden will. Überlastungsgründe hatten mich schon zuvor dazu bewogen, den Vorstand der Internationalen Liga für Menschenrechte zu verlassen und Anfang des Jahres auch meine Zulassung als Rechtsanwalt aufzukündigen – just nachdem ich Ende 2020 das Klageverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen meiner vier Jahrzehnte währenden Beobachtung durch den »Verfassungsschutz« gewonnen hatte. Diese Dauerüberwachung war von Anfang an unverhältnismäßig und grundrechtswidrig, wie das Bundesverwaltungsgericht nach 15 Verfahrensjahren endgültig und rechtskräftig geurteilt hat. Lauter gute Gründe, eine Zäsur zu machen und neue Schwerpunkte zu setzen. An Ruhestand ist jedenfalls nicht zu denken.
Abschließend noch ein paar Bemerkungen zum BigBrotherAward-Projekt: Bekanntlich wollen wir damit uferloses Datensammeln, Datenmissbrauch, ausufernde Kontrolle und Überwachung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft anprangern, in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung heben und so das Bewusstsein für den Wert der Privatsphäre wecken – weil diese im Zuge der Durchdigitalisierung aller Lebensbereiche allmählich verloren zu gehen droht. Unser Ziel ist politische Aufklärung über die fatalen Folgen, die mit der Beeinträchtigung der Privatsphäre, mit der Verletzung von Persönlichkeitsrechten und informationeller Selbstbestimmung zusammenhängen. Immer dem Leitgedanken der Datenschutz- und Bürgerrechtsgruppe Digitalcourage folgend, die den BBA ausrichtet: auch und gerade im digitalen Zeitalter für eine lebenswerte Welt kämpfen und deshalb zugleich gegen Überwachungsstaat und Überwachungskapitalismus. In Wirklichkeit sind die BigBrotherAwards also nicht nur Negativ-»Oscars für Datenkraken«, sondern vielmehr Aufklärungspreise, die den Keim eines zivilgesellschaftlichen Gegenentwurfs in sich tragen.
Zum Abschied noch ein paar Worte an die Adresse der Veranstalter:innen: Ganz besonders freue ich mich angesichts dieser Erfolgsgeschichte, dass ich an Eurer Idee eines deutschen BigBrotherAwards von Anfang an beteiligt war und dieses Projekt bis vor kurzem mitprägen konnte – zusammen mit den so engagierten Initiator:innen und Künstler:innen Rena Tangens und padeluun sowie den fabelhaften Teams von Digitalcourage, zu denen auch unsere »Textbetreuerin« und Lektorin Claudia Fischer, das Übersetzungsteam um Sebastian Lisken und Moderator Andreas Liebold gehören – zusammen mit den anderen Juror:innen aus den kooperierenden Datenschutz-, Bürger- und Menschenrechtsorganisationen: Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD), Internationale Liga für Menschenrechte und ChaosComputerClub (Stand: 2020/21).
Euch allen möchte ich heute ganz herzlich für die tolle und fruchtbare Zusammenarbeit danken – und auch unserem treuen und hoch motivierten Publikum. Euch allen alles erdenklich Gute für eine überlebenswerte Zukunft im digitalen Zeitalter, für digitale Selbstverteidigung, aber auch für gestärkte Grundrechte und eine quicklebendige Demokratie, die leider in der Corona-Krise stark gelitten haben. Es gibt jedenfalls künftig wohl noch mehr zu tun – und ich werde Euch dabei auch von außen nach Kräften unterstützen.
Rolf Gössner: Datenkraken im öffentlichen Dienst. ›Laudatio‹ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat. Mit Gastbeiträgen von Gerhart Baum, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Heribert Prantl; PapyRossa Verlag, Köln 2021, 366 S., 19.90 €, Bezug u. a.: https://shop.papyrossa.de/Goessner-Rolf-Datenkraken-im-oeffentlichen-Dienst