Robin Szuttor hat gut recherchiert. Mit penibler Genauigkeit erzählt er auf einer ganzen Seite der Stuttgarter Zeitung vom 13. März die Geschichte der Polin Mariola Sadkowska, die Bernd Rall aus Ölbronn pflegt. »Er nennt sie ›Mariola‹, sie ihn ›Herr Rall‹.« Eine eigene Meinung lässt Szuttor nicht erkennen. Stattdessen zitiert er: »›Meine Cousine meint, dass ich mit Mariola ein Goldstück habe‹, sagt Bernd Rall.« Andere haben eine elektrische Eisenbahn. Er hat ein Goldstück.
Und wo bleibt die Geschichte von einem Bernd Rall aus Ölbronn (oder aus Kiel oder aus Frankfurt am Main), der eine Mariola Sadkowska in Wasilków, »unweit der Grenze zu Weißrussland«, pflegt, den sie »Bernd« und der sie »Frau Sadkowska« nennt? So lange es solche Geschichten nicht gibt, so lange das nicht auffällt und der Gedanke absurd erschiene, dass eine Deutsche oder gar ein Deutscher sein Leben als Goldstück verbringt, das eine Polin oder einen Polen, eine Bulgarin oder einen Bulgaren, »so einen rumänischen Zigeuner« (O-Ton Bernd Rall in Robin Szuttors Reportage) pflegt, muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Deutsche verhalten sich immer noch oder wieder wie Sklavenhalter. Für sie sind die »Mariolas«, was die »Mammys« für die Plantagenbesitzer in den amerikanischen Südstaaten waren (siehe »Vom Winde verweht«), was der »Boy« für die Kolonialherren (und -frauen) war. Zwischen den Sadkowskas und den Ralls herrscht kein reziprokes Verhältnis. Das juckt niemanden, weil genau dies, die Bedingung demokratischer, also herrschaftsfreier und unhierarchischer Wechselbeziehungen, in denen es keinen Unterschied macht, ob der Besitzer eines Goldstücks dieses einen Esel oder das Goldstück seinen Besitzer einen Esel nennt, zur Normalität in unserer Gesellschaft gehört: in der Schule, am Arbeitsplatz, im Militär sowieso. Warum sollte, was daheim zulässig ist, nicht zwischen den Völkern gelten? Eine Polin ist nun einmal weniger wert als ein Deutscher, der ihre Pflege benötigt. Und am Sonntag verkünden die kirchlichen und weltlichen Prediger die Vorzüge der Völkergemeinschaft. Nicht wahr, Mariola?