Walter Kaufmann gehört zu der Sorte von Schriftstellern, die ihr ganzes Leben lang Erfolg hatten – auch unter widrigen Bedingungen. Kaufmann, der als jüdischer Jugendlicher von seinen Adoptiveltern nach England geschickt und von dort nach Beginn des Zweiten Weltkriegs als »feindlicher Ausländer« nach Australien deportiert wurde, gelang es auf dem fünften Kontinent, als schreibender Arbeiter und Matrose mit seinem Erstlingsroman »Voices in the Storm« so bekannt zu werden, dass sich der in seinem jüngsten Buch porträtierte Journalist Phillip Adams noch 2013 beim Wiedersehen in Sidney stolz an das Interview erinnerte, das er, Adams, als Sechzehnjähriger mit ihm für die Schülerzeitung Trumpet telefonisch geführt und aufgezeichnet hatte. »Die Ausstrahlung des Gesprächs hatte mir eine Fülle von Kontakten beschert, die anders nie entstanden wären.« Kaufmann weiß noch zu berichten, dass der später als Rundfunkreporter berühmt gewordene Adams nach Donald Trumps Wahlsieg seine schmucke, White House genannte Villa in Paddington zum Kauf angeboten hat und dass sie von einem Anonymus erworben wurde, hinter dem laut Adams niemand anderes als Trump stecke, »weil der Tag abzusehen sei«, an dem er »aus Amerika verjagt und sich gezwungen sehen würde, in Australien um Asyl zu bitten«.
In der anglophonen Short Story geübt, hätte Kaufmann auch in dieser Sprachlandschaft weiter reüssieren können. Aber er ging 1955 in die DDR, deren Leserschaft er mit Reportagen aus für sie selbst schwer erreichbaren Ländern und mit bestechend leichthändig geschriebener, aber durchaus gewichtiger Literatur beglückte. Und in der BRD gehört er zu den wenigen alten DDR-Autoren, die Verleger finden und endlich auch von den Medien »entdeckt« werden.
Der Kaufmann-Hype ist entlang seiner letzten drei Bücher entstanden, in denen der Autor Kurzporträts von Menschen zusammenstellte, mit denen er im Laufe seines Lebens zu tun hatte. Nicht nur die unter Beweis gestellte Gedächtnisleistung ist bewundernswert, sondern vor allem auch die Haltung, mit der Kaufmann jedem gegenübertritt, dem er begegnet: Neugier möchte ich sie nicht nennen, sondern eher eine überaus freundliche und teilnehmende Form der Kommunikation, der sich offenbar jedes Gegenüber schnell öffnet. So habe ich ihn in einer Pause der vorjährigen PEN-Tagung in einem Göttinger Straßencafé in voller Diskussion mit zwei jungen einheimischen Paaren angetroffen. Er hatte bereits eine imposante Atmosphäre der Vertrautheit erzeugt, in der Lebenserfahrungen und Visitenkarten ausgetauscht wurden.
Diese Atmosphäre des Vertrauens schafft Kaufmann offenbar auch ohne Worte. Als er 1964 im Bistro Hale & Hearty im Greenwich Village eine Suppe zu sich nahm, bemerkte er, dass der einzige andere Gast mit den Fingern auf der Tischplatte klopfte und neben sich einen Muff liegen hatte, obwohl keineswegs winterliche Temperaturen herrschten. Plötzlich erkannte er den Pianisten Glenn Gould. Dieser war es jedoch, der dann das Gespräch suchte und ihn schließlich einlud, mit in die »Church« zu kommen. Kaufmann meinte, Gould an einer Kirchenorgel erleben zu können. Die »Church« entpuppte sich aber als Kurzname für die Columbia Recording Studios, in denen er der Aufzeichnung der Bach’schen Fugen beiwohnen durfte.
Diese Episoden stammen aus »Gibt es Dich noch – Enrico Spoon?«, Kaufmanns jüngstem Porträtband. Der Titelheld ist ein kleiner unterernährter Junge, der sich 2002 stets um die Mittagszeit in einer winzigen Garküche in Rio de Janeiro einfand und barfuß, mit einem Löffel in der Hand, ein paar Happen von den Gästen erbettelte. Diese nannten ihn deshalb Enrico Spoon. Als ihn der Kellner einmal am Schlafittchen nach draußen beförderte, hielt das Kerlchen seinen Löffel so lange klappernd durch einen mit dem Fuß offen gehaltenen Spalt, bis ihm der Kellner eine Kartoffel darauf legte. Enrico Spoon ist nicht die einzige prekäre Existenz, an die sich Kaufmann mit Bangen erinnert.
Er setzt Menschen aus den verschiedensten Lebensbereichen Denkmäler – nicht nur freundliche. Schlecht kommt zum Beispiel einer seiner vielen Verleger aus DDR-Zeiten weg, der ihn als »Autor mit Prinzipien« gelobt hatte, weil er sich weigerte, eine Passage aus einem Text zu streichen. Als beide zu einem Abend bei Wolf Biermann eingeladen waren, den der Verleger zuvor als »Renegat« und »Konterrevolutionär« bezeichnet hatte, ihn dann aber elektrisiert anspornte, seine Lieder vorzutragen – verließ Kaufmann die Runde. Der Leser kann spekulieren, dass der Verleger einem Auftrag der Stasi nachkam, prinzipienlos war er allemal. Seinen Namen verschweigt Kaufmann gnädig.
Ein Mann mit quasi angeborenem Kommunikationstalent zieht selbstverständlich auch quasi magisch die Frauen an. Da er aber nun mal Prinzipien hat, zu denen zweifellos auch die angeborene Liebe zur Treue gehört, kam Kaufmann immer wieder in schwierige Situationen, in denen sich Beziehungen überschnitten – man kennt das von Brecht. Da er wie dieser aber nur mit emanzipierten Frauen Verhältnisse einging, entstanden daraus keine dauerhaften Tragödien, wohl aber immer wieder tragikomische Gewissensnöte, über die er ebenfalls in etlichen Kurzporträts Rechenschaft abgibt. Als er 1973 mit seiner zweiten Ehefrau, der Schauspielerin Angela Brunner, in Notre-Dame in Paris andächtig der Orgel lauschte und ihre Hand ergriff, entzog sie sie ihm und floh aus der Kirche. Als er sie später nach dem Grund fragte, strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und sagte: »Armer Mann – armer zerrissener Mann.« So wurde ihm klar, dass sie wusste: In Wirklichkeit hatte er an die Frau gedacht, »die schon seit geraumer Zeit zwischen [ihm] und Angela stand«.
Was Wunder, wenn wir aus dem ersten Kurzporträt – das seinem Kindermädchen Käte gewidmet ist – erfahren, dass diese Käte aus Mitleid mit dem Neunjährigen, den sein Spielgefährte nicht mehr besuchte, eben diesen Neunjährigen mit in ihr Bett nahm. Er fühlte sich »seltsam berührt durch ihre Nähe. Sie roch gut und ihr Haar war weich, ihr Busen auch«.
Walter Kaufmann: »Gibt es Dich noch – Enrico Spoon? Über Menschen und Orte weltweit«, edition memoria, 128 Seiten, 19 €