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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gibt es einen Wachstumszwang?

In der FAZ vom 4.10.23 berich­tet Tho­mas Thiel von einer Tagung, in der sich Öko­no­men dar­über strit­ten, ob es in unse­rer kapi­ta­li­stisch ver­fass­ten Gesell­schaft einen Wachs­tums­zwang gäbe, der über den anhal­ten­den Res­sour­cen­ver­brauch zu erheb­li­chen öko­lo­gi­schen Pro­ble­men führt, um nicht zu sagen: in einem Kol­laps enden müsste.

Dabei wur­de u. a. an Karl Marx erin­nert, der der Mei­nung gewe­sen sei, »dass der Kapi­ta­lis­mus nicht Herr sei­ner selbst ist und auf die Kata­stro­phe zusteu­ert«. Marx zen­tra­les Haupt­werk heißt ja nicht zufäl­lig »Das Kapital«.

Die­ser Satz ist nicht ohne Pikan­te­rie, weil er die Fra­ge her­vor­ruft, wie denn eine Gesell­schaft mit ihrem wirt­schaft­li­chen Appa­rat je Herr ihrer selbst wer­den kön­ne, und was die­ser Satz mit­hin bedeu­ten könn­te. Geht man von einer ein­fa­chen Beschrei­bung eines pri­vat­wirt­schaft­lich auf­ge­bau­ten Wirt­schafts­sy­stems aus, so soll­te man eine unge­heu­er gro­ße Zahl von Akteu­ren sehen, deren Akti­vi­tä­ten über schma­le Fen­ster, die Märk­te, mit­ein­an­der ver­zahnt sind. Kein Akteur ist in dem System in der Lage, neben dem schma­len Fen­ster gleich­zei­tig alles zu sehen. Spä­te­re Krücken, wie volks­wirt­schaft­li­che Gesamt­rech­nun­gen, bau­en auf spe­zia­li­sier­te Beob­ach­tun­gen von Wirt­schafts­sta­ti­sti­kern ex post auf. Was in den Akti­ons­zen­tren vor­ab, also ex ante, geschieht, ent­zieht sich der Zähl­bar­keit und kann nicht beob­ach­tet werden.

Hand­lun­gen der Akteu­re oder Akti­ons­zen­tren, wenn man auf Orga­ni­sa­tio­nen abstellt, sind außer­or­dent­lich unko­or­di­niert. Legt man die­sem anar­chi­schen System einen Begriff bei, wird dar­aus eben noch kein »System«, wel­ches sich als Gan­zes beob­ach­ten lie­ße. Denn alles das, was von den Akteu­ren gedacht und erwar­tet wird, ist unbe­kannt. Man mag sich wie­der eini­ger Krücken bedie­nen, wie regel­mä­ßi­ger Umfra­gen durch dar­auf spe­zia­li­sier­te demo­sko­pi­sche Unter­neh­men, aber, was nicht in den Items der Umfra­gen steckt, kann nicht gese­hen wer­den, und ob die Akteu­re ihre »Geheim­nis­se« auf­decken, kann nicht nur bezwei­felt, son­dern in den Bereich der Mär­chen ver­wie­sen werden.

Übri­gens hat­te Adam Smith für den »Her­ren des Systems« das Wort von der unsicht­ba­ren Hand geschaf­fen. Was ent­steht, das ist von kei­nem direkt gewollt, es sind Neben­fol­gen, die nicht ein­mal in die Beob­ach­tun­gen der Akteu­re ein­ge­hen. Ja, und Adam Smith woll­te die­se Situa­ti­on genau so, denn die ihm bekann­ten Syste­me hoch­gra­di­ger Regu­lie­run­gen waren schließ­lich nicht in der Lage gewe­sen, den »Reich­tum der Natio­nen« ent­schei­dend zu heben.

In den sozia­li­sti­schen Län­dern woll­te sich eine Par­tei zum Herrn auf­schwin­gen und erkann­te müh­sam, wie sich in den Kom­bi­na­ten wie­der Teil­zen­tren ent­wickel­ten, die gehei­me Mate­ri­al­lä­ger auf­bau­ten, um die Plan­erfül­lung, aller Wid­rig­kei­ten zum Trotz, doch noch hin­zu­krie­gen. Unter den ein­fa­chen Mit­glie­dern der Gesell­schaft ent­wickel­ten sich Tausch­wirt­schaf­ten mit geräu­cher­ten Aalen, unga­ri­scher Sala­mi, aus dem Westen geschenk­tem Kaf­fee usw. Die För­de­rung der Klein­gar­ten­wirt­schaft war beab­sich­tigt, aber die Hüh­ner­hal­ter kauf­ten Eier vom Lebens­mit­tel­han­del zu nied­ri­gen Prei­sen zu und ver­kauf­ten sie zu gestütz­ten Prei­sen teu­rer weiter.

Behan­delt man die­se Situa­tio­nen syste­ma­tisch mit den Model­len ratio­na­ler, den Eigen­nutz för­dern­den Han­delns, müs­sen die­se nun kei­nes­wegs auf wirt­schaft­li­ches Han­deln allein bezo­gen wer­den. Im poli­ti­schen Raum tau­chen nun Men­schen, Abge­ord­ne­te und Mini­ster auf, die neben den all­ge­mei­nen Sprü­chen zum Gemein­wohl, zum Gemein­sinn gleich­zei­tig ihr eige­nes Wohl öko­no­misch för­dern. Ver­dien­ten Genos­sen wer­den lukra­ti­ve Ämter zuge­schu­stert, denn schließ­lich soll auch der geschei­ter­te Par­tei­vor­sit­zen­de im Alter gut ver­sorgt sein.

Doch zurück zur Über­schrift: Wachs­tums­zwang. Ein Netz von Akteu­ren lebt und arbei­tet in einem kul­tu­rel­len Rah­men, und inso­fern sind Gedan­ken zur Kul­tur­ge­schich­te zwin­gend erfor­der­lich. Öko­no­mi­sche Model­le sind in sich wie­der Aus­druck einer Kul­tur, in der ein Teil­be­reich, der des Wirt­schaf­tens, her­aus­ge­ho­ben und iso­liert betrach­tet wird. Eini­ge stich­wort­ar­ti­ge Schlag­lich­ter zum Wachs­tum möch­te ich nennen:

Kir­chen wol­len neue Gemein­den grün­den, also wach­sen. Das Spen­den­auf­kom­men soll durch Sün­den­er­las­se wach­sen. Die Finan­zie­rung des Peters­do­mes war zu Luthers Zeit nur ein Beispiel.

Seid frucht­bar und meh­ret Euch, die Zahl der »Scha­fe« soll wachsen.

Spä­te­stens seit Cal­vin galt Erfolg als Gott wohl­ge­fäl­lig. Wer woll­te sei­nem Schöp­fer schon als geschei­ter­te Exi­stenz gegenübertreten.

Ein Land­lord woll­te über mehr Päch­ter ver­fü­gen, um in sei­nem Haus noch präch­ti­ge­re Feste fei­ern zu können.

Ist »Geld­macht« (Kant) ein­mal ent­stan­den, kann man Schif­fe und Hee­re aus­rü­sten, kann regio­na­le Herr­scher bestechen, kann in Kolo­nien Res­sour­cen erobern.

Tech­ni­sche Ein­rich­tun­gen wie Sole­pum­pen und Sole­pfan­nen, Wind­müh­len set­zen agg­re­gier­te Geld­macht vor­aus, denn sonst kann die Zeit zwi­schen dem Pro­zess des Auf­baus und der Absatz­er­fol­ge nicht über­brückt wer­den. Eine Getrei­de­wind­müh­le war in ihrer Zeit eine tech­ni­sche Groß­in­ve­sti­ti­on und erlaub­te es, grö­ße­re Men­gen von Korn zu malen als mit Hand­müh­len, also konn­te auch mehr Getrei­de ange­baut wer­den, weil es nicht in der Sub­si­stenz­wirt­schaft ver­sicker­te und über den Raum eines Bau­ern­ho­fes nicht hinauskam.

Wol­len wir heu­te die Wachs­tums­mo­to­ren benen­nen, so gehört das Bevöl­ke­rungs­wachs­tum dazu, die wach­sen­de Lebens­er­war­tung, die hoch­spe­zia­li­sier­ten Gesund­heits­un­ter­neh­men der Phar­ma­zie und Medi­zin­tech­nik. In den Medi­en bedau­ern wir jeden Toten einer Natur­ka­ta­stro­phe und fra­gen, wie er hät­te ver­mie­den wer­den kön­nen. Dies ist ein bri­san­tes Wachs­tums­the­ma, zumal es schnell um Spen­den und Ver­si­che­run­gen geht. Für das Spen­den­mar­ke­ting gibt es wie­der spe­zia­li­sier­te PR-Unter­neh­men, die sol­che Kata­stro­phen brau­chen, um selbst wie­der wach­sen zu können.

Ein Wachs­tums­zwang, gar einer, der sich in Model­len, also Denk­kon­struk­tio­nen abbil­den lie­ße? Eine ver­geb­li­che Lie­bes­mü­he. Ein Bild zur Situa­ti­ons­be­schrei­bung möch­te ich ver­su­chen. Die Gesell­schaft ist ins Lau­fen gera­ten, wie eine »Her­de«, ohne abwer­ten­de Kon­no­ta­ti­on. Jeder Ein­zel­ne läuft mit, und wenn die Puste aus­geht, sieht er den Zwang, der in der Kul­tur der All­tags­spra­che auch so for­mu­liert wird: Man müs­se doch mit der Zeit gehen.

Die letz­te Para­do­xie lau­tet, sich als Herrn über das System auf­schwin­gen zu wol­len, also wie­der ins Gigan­ti­sche zu wach­sen? Es ist die letz­te und größ­te Krän­kung der Men­schen, nach ihrer Ver­trei­bung aus dem Mit­tel­punkt der Welt, nun noch zu erle­ben, nicht mehr das eige­ne Geschick steu­ern zu kön­nen, son­dern es als Evo­lu­ti­on mit offe­nem Hori­zont zu erleben.