In der FAZ vom 4.10.23 berichtet Thomas Thiel von einer Tagung, in der sich Ökonomen darüber stritten, ob es in unserer kapitalistisch verfassten Gesellschaft einen Wachstumszwang gäbe, der über den anhaltenden Ressourcenverbrauch zu erheblichen ökologischen Problemen führt, um nicht zu sagen: in einem Kollaps enden müsste.
Dabei wurde u. a. an Karl Marx erinnert, der der Meinung gewesen sei, »dass der Kapitalismus nicht Herr seiner selbst ist und auf die Katastrophe zusteuert«. Marx zentrales Hauptwerk heißt ja nicht zufällig »Das Kapital«.
Dieser Satz ist nicht ohne Pikanterie, weil er die Frage hervorruft, wie denn eine Gesellschaft mit ihrem wirtschaftlichen Apparat je Herr ihrer selbst werden könne, und was dieser Satz mithin bedeuten könnte. Geht man von einer einfachen Beschreibung eines privatwirtschaftlich aufgebauten Wirtschaftssystems aus, so sollte man eine ungeheuer große Zahl von Akteuren sehen, deren Aktivitäten über schmale Fenster, die Märkte, miteinander verzahnt sind. Kein Akteur ist in dem System in der Lage, neben dem schmalen Fenster gleichzeitig alles zu sehen. Spätere Krücken, wie volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, bauen auf spezialisierte Beobachtungen von Wirtschaftsstatistikern ex post auf. Was in den Aktionszentren vorab, also ex ante, geschieht, entzieht sich der Zählbarkeit und kann nicht beobachtet werden.
Handlungen der Akteure oder Aktionszentren, wenn man auf Organisationen abstellt, sind außerordentlich unkoordiniert. Legt man diesem anarchischen System einen Begriff bei, wird daraus eben noch kein »System«, welches sich als Ganzes beobachten ließe. Denn alles das, was von den Akteuren gedacht und erwartet wird, ist unbekannt. Man mag sich wieder einiger Krücken bedienen, wie regelmäßiger Umfragen durch darauf spezialisierte demoskopische Unternehmen, aber, was nicht in den Items der Umfragen steckt, kann nicht gesehen werden, und ob die Akteure ihre »Geheimnisse« aufdecken, kann nicht nur bezweifelt, sondern in den Bereich der Märchen verwiesen werden.
Übrigens hatte Adam Smith für den »Herren des Systems« das Wort von der unsichtbaren Hand geschaffen. Was entsteht, das ist von keinem direkt gewollt, es sind Nebenfolgen, die nicht einmal in die Beobachtungen der Akteure eingehen. Ja, und Adam Smith wollte diese Situation genau so, denn die ihm bekannten Systeme hochgradiger Regulierungen waren schließlich nicht in der Lage gewesen, den »Reichtum der Nationen« entscheidend zu heben.
In den sozialistischen Ländern wollte sich eine Partei zum Herrn aufschwingen und erkannte mühsam, wie sich in den Kombinaten wieder Teilzentren entwickelten, die geheime Materialläger aufbauten, um die Planerfüllung, aller Widrigkeiten zum Trotz, doch noch hinzukriegen. Unter den einfachen Mitgliedern der Gesellschaft entwickelten sich Tauschwirtschaften mit geräucherten Aalen, ungarischer Salami, aus dem Westen geschenktem Kaffee usw. Die Förderung der Kleingartenwirtschaft war beabsichtigt, aber die Hühnerhalter kauften Eier vom Lebensmittelhandel zu niedrigen Preisen zu und verkauften sie zu gestützten Preisen teurer weiter.
Behandelt man diese Situationen systematisch mit den Modellen rationaler, den Eigennutz fördernden Handelns, müssen diese nun keineswegs auf wirtschaftliches Handeln allein bezogen werden. Im politischen Raum tauchen nun Menschen, Abgeordnete und Minister auf, die neben den allgemeinen Sprüchen zum Gemeinwohl, zum Gemeinsinn gleichzeitig ihr eigenes Wohl ökonomisch fördern. Verdienten Genossen werden lukrative Ämter zugeschustert, denn schließlich soll auch der gescheiterte Parteivorsitzende im Alter gut versorgt sein.
Doch zurück zur Überschrift: Wachstumszwang. Ein Netz von Akteuren lebt und arbeitet in einem kulturellen Rahmen, und insofern sind Gedanken zur Kulturgeschichte zwingend erforderlich. Ökonomische Modelle sind in sich wieder Ausdruck einer Kultur, in der ein Teilbereich, der des Wirtschaftens, herausgehoben und isoliert betrachtet wird. Einige stichwortartige Schlaglichter zum Wachstum möchte ich nennen:
Kirchen wollen neue Gemeinden gründen, also wachsen. Das Spendenaufkommen soll durch Sündenerlasse wachsen. Die Finanzierung des Petersdomes war zu Luthers Zeit nur ein Beispiel.
Seid fruchtbar und mehret Euch, die Zahl der »Schafe« soll wachsen.
Spätestens seit Calvin galt Erfolg als Gott wohlgefällig. Wer wollte seinem Schöpfer schon als gescheiterte Existenz gegenübertreten.
Ein Landlord wollte über mehr Pächter verfügen, um in seinem Haus noch prächtigere Feste feiern zu können.
Ist »Geldmacht« (Kant) einmal entstanden, kann man Schiffe und Heere ausrüsten, kann regionale Herrscher bestechen, kann in Kolonien Ressourcen erobern.
Technische Einrichtungen wie Solepumpen und Solepfannen, Windmühlen setzen aggregierte Geldmacht voraus, denn sonst kann die Zeit zwischen dem Prozess des Aufbaus und der Absatzerfolge nicht überbrückt werden. Eine Getreidewindmühle war in ihrer Zeit eine technische Großinvestition und erlaubte es, größere Mengen von Korn zu malen als mit Handmühlen, also konnte auch mehr Getreide angebaut werden, weil es nicht in der Subsistenzwirtschaft versickerte und über den Raum eines Bauernhofes nicht hinauskam.
Wollen wir heute die Wachstumsmotoren benennen, so gehört das Bevölkerungswachstum dazu, die wachsende Lebenserwartung, die hochspezialisierten Gesundheitsunternehmen der Pharmazie und Medizintechnik. In den Medien bedauern wir jeden Toten einer Naturkatastrophe und fragen, wie er hätte vermieden werden können. Dies ist ein brisantes Wachstumsthema, zumal es schnell um Spenden und Versicherungen geht. Für das Spendenmarketing gibt es wieder spezialisierte PR-Unternehmen, die solche Katastrophen brauchen, um selbst wieder wachsen zu können.
Ein Wachstumszwang, gar einer, der sich in Modellen, also Denkkonstruktionen abbilden ließe? Eine vergebliche Liebesmühe. Ein Bild zur Situationsbeschreibung möchte ich versuchen. Die Gesellschaft ist ins Laufen geraten, wie eine »Herde«, ohne abwertende Konnotation. Jeder Einzelne läuft mit, und wenn die Puste ausgeht, sieht er den Zwang, der in der Kultur der Alltagssprache auch so formuliert wird: Man müsse doch mit der Zeit gehen.
Die letzte Paradoxie lautet, sich als Herrn über das System aufschwingen zu wollen, also wieder ins Gigantische zu wachsen? Es ist die letzte und größte Kränkung der Menschen, nach ihrer Vertreibung aus dem Mittelpunkt der Welt, nun noch zu erleben, nicht mehr das eigene Geschick steuern zu können, sondern es als Evolution mit offenem Horizont zu erleben.