Es begann mit einem »digitalen Festakt« am 16. April und soll nun ganzjährig gefeiert werden: Das »Lutherjahr 2021« zum Gedenken jenes Tages, des 18. April 1521, an dem vor 500 Jahren der Mönch Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms, »vor Kaiser und Reich«, sich geweigert hatte, seine Schriften gegen den Ablasshandel und andere Missbräuche in der allmächtigen katholischen Weltkirche zu widerrufen.
Die Festrede zum Jubiläum hielt Bundespräsident Steinmeier. Er beschrieb Luthers Verhalten darin als »eine europäische Sternstunde des erwachten individuellen Gewissens«, denn »die Freiheit, nach seinem Gewissen sprechen und leben zu können – das lag 1521 ganz gewiss noch nicht im Denkhorizont der Zeitgenossen«. Schade, dass der Herr Bundespräsident seinen Hörern das Schicksal des böhmischen Reformators Jan Hus vorenthielt. Der lebte von 1370 bis 1415, also schon 100 Jahre vor Luther. Er kritisierte den weltlichen Besitz der Kirche, die Habsucht des Klerus und dessen Lasterleben und kämpfte für eine Reform der verweltlichten Kirche, trat für die Gewissensfreiheit ein und sah in der Bibel die einzige Autorität in Glaubensfragen. Ausgestattet mit einem »Schutzbrief« des Kaisers Sigismund reiste er zum Konzil nach Konstanz, wo er zum Widerruf seiner Lehren aufgefordert wurde. Er weigerte sich und wurde dann von einer korrupten Kirchenversammlung und mit Hilfe eines wortbrüchigen Kaisers am 6. Juli 1415 mitsamt seinen Schriften verbrannt. Warum aber entging Luther, »ganz allein«, diesem Schicksal in Worms? Waren es sein »Mut«, sein »Wille«, seine »Standhaftigkeit«, waren es seine »Argumente«, wie der Bundespräsident ausführte?
Ein Zeitzeuge, der ein sehr früher Anhänger und bester Kenner Luthers war, bis er sich nach 1521 theologisch und politisch mit Luther zerstritt, Thomas Müntzer, schreibt in seiner Schrift von 1524 »Hochverursachte Schutzrede und Antwort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg«: »Dass du zu Worms vor dem Reich gestanden hast, Dank sei dem deutschen Adel, dem du das Maul so wohl bestrichen und Honig gegeben hast, denn er wähnte nichts anders, du würdest mit deinem Predigen böhmische Geschenke machen, Klöster und Stifte, welche du jetzt den Fürsten verheißt. Wenn du in Worms gewankt hättest, wärest du eher vom Adel erstochen als losgegeben worden, (das) weiß doch ein jeder.« Thomas Müntzer dürfte mit seiner Erklärung recht haben: Luther hatte starke Hintermänner, mit seinem Kurfürsten Friedrich dem Weisen an der Spitze, die ihn schützen konnten. Schade, dass der Herr Bundespräsident das nicht auch erwähnte.
Vor allem aber ist schade, von dem Herrn Bundespräsidenten nichts davon zu erfahren, wo das in Worms bei Luther »erwachte individuelle Gewissen« ihn später noch hinführte, etwa im Bauernkrieg 1525 oder in seiner Haltung gegenüber »den Jüden«. Schon vor dem Bauernkrieg war Luther längst zu einem Diener und Sprachrohr seiner adligen Hintermänner geworden. Im Aufbegehren der versklavten Bauern sieht er nun die »greulichen Sünden wider Gott und Menschen« und will mit seiner Hetzschrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, sozusagen als Ethik-Fachmann, »der weltlichen Obrigkeit Gewissen unterrichten, wie sie sich hierin verhalten solle«. Er ermuntert sie, gegen die Bauern »getrost und mit gutem Gewissen dreinzuschlagen« und gibt zum Schluss dazu die Parolen aus: »Drum, liebe Herren, löset hier, errettet hier, erbarmt euch der armen Leute, steche, schlage, würge hier, wer da kann! Bleibst du drüber tot, wohl dir, (einen) seligeren Tod kannst du nimmermehr bekommen.« Totschlagen oder Lebenlassen – gleichviel, wenn man das nur mit einem »guten Gewissen« tut.
Das gilt bei Luther auch gegenüber den »Jüden«. Er fordert: »Jeder sollte seinem Gewissen folgen und sich sein eigenes Bild von den Juden machen.« So steht es in seiner Schrift »Von den Jüden und ihren Lügen«, und das Bild, das er darin gemäß seinem Gewissen zeichnet, ist ebenso entsetzlich wie verlogen, sodass man sagen kann: Mit dieser Schrift steht Luther an der Spitze aller christlichen Antisemiten. Die Juden seien »wahre Teufel«, weiß er; sie seien seit 1400 Jahren »unsere Plage, unsere Pest und unser Unglück« – eine Wendung, die über den Historiker Heinrich von Treitschke in verkürzter Form zum Leitspruch des NS-Hetzblattes Der Stürmer wurde: »Die Juden sind unser Unglück«. Gegen diese »Teufel« entwickelt Luther dann ein »7-Punkte-Programm« zur Beseitigung des Judentums. Karl Jaspers schrieb 1958 (in: »Philosophie und Welt«, S. 162) dazu: »Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.« Luther: »Wir können als gläubige Christen ihre (…) Lästerung bei uns weder dulden noch auf unser Gewissen nehmen.« Ihre Beseitigung ist geboten, das sagt also, glaubt man Luther, das christliche Gewissen. Was daraus folgen kann, ist bekannt – und sollte auch dem Herrn Bundespräsidenten nicht verborgen geblieben sein.