Der Osten des riesigen Landes namens Demokratische Republik Kongo (künftig: DR Kongo) grenzt an vier Staaten: Uganda, Ruanda, Burundi und Tansania. Der kleinste der Nachbarstaaten, Ruanda, ist zugleich der Staat, mit dem die DR Kongo die größten Probleme hat. In der Form, in der sie heute existieren und sich weiter zuspitzen, begannen sie 1996, zwei Jahre nach dem Völkermord in Ruanda. Etwa 500.000 Tutsi waren 1994 in nur drei Monaten umgebracht worden. Die Täter gehörten zur Bevölkerungsgruppe der Hutu, der fast 85 Prozent aller Ruanderinnen und Ruander angehörten. Beendet wurde der Völkermord durch den militärischen Arm der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) unter Führung von Paul Kagame. Aus einer Rebellenarmee, die am 1. Oktober 1990 von Uganda aus Ruanda angegriffen hatte, um eine Rückkehr der seit Jahrzehnten im Exil lebenden Tutsi zu erzwingen, war eine Befreiungsarmee geworden, eine Armee, die nicht nur das zuletzt völkermörderische Regime in Ruanda von der Macht vertrieben hatte, sondern auch versprach, ein neues Ruanda aufzubauen, in dem kein Platz mehr für ethnische Konflikte sein würde.
Das klang gut und überzeugend für den menschenrechtsbewegten Westen, der den Völkermord hatte geschehen lassen und nun, das eigene politische und moralische Versagen vor Augen, nach einer Lösung suchte. Allerdings verschloss er die Augen, als sich das neue Ruanda daran machte, die Pazifizierungspolitik im Land in einer Weise fortzusetzen, die bereits während des Bürgerkriegs und des Völkermords praktiziert worden war. Auf etwa 100.000 wird die Zahl der Opfer geschätzt, die mit ihrem Leben für die so verstandene Pazifizierung bezahlen mussten. Das waren vor allem jene Hutu, die im Land geblieben waren, die sich, im Vertrauen auf ihre Unschuld, nicht am Völkermord beteiligt oder sogar Tutsi zur Flucht verholfen hatten. Sie gerieten ins Visier der neuen Machthaber und bezahlten den leisesten Verdacht oder auch schlicht ihre bloße Existenz mit dem Leben.
Eine tatsächliche Bedrohung allerdings gab es im Osten der DR Kongo, in den Provinzen Nord- und Südkivu, wohin sich fast zwei Millionen Ruander geflüchtet hatten. Unter ihnen waren viele Soldaten der geschlagenen ruandischen Armee, Angehörige der Präsidentengarde des früheren Staatschefs Juvénal Habyarimana sowie der berüchtigten Interahamwe-Miliz, die während des Völkermords mit besonderem Fanatismus agiert hatte. Längst nicht alle wollten sich mit der Niederlage abfinden, sondern suchten nach Mitteln und Wegen, vom Ostkongo aus die Machtverhältnisse in ihrem Land zu ändern. Sie griffen Dörfer an, töteten Tutsi und der Kollaboration verdächtige Hutu und hinterließen eine Spur der Verwüstung. Kein Wunder also, dass die Armee des neuen Ruanda die Grenze zur DR Kongo überschritt und versuchte, die feindlichen, völkermörderischen Kräfte aus ihren Rückzugsgebieten zu vertreiben. Wie sie dabei aber vorging, führte wiederum zu einer Blutspur, die sich vom Ostkongo bis in die Hauptstadt Kinshasa im Westen ziehen sollte. Im Mai 1997 wurde die Hauptstadt schließlich erobert, Mobutu floh ins Exil, neuer Staatspräsident wurde Laurent Désiré Kabila, Generalstabschef der kongolesischen Armee wurde der Ruander James Kabarebe, ein Weggefährte des ruandischen Präsidenten Paul Kagame.
Es folgten Jahre der politisch-militärischen Einflussnahme, die vorderhand einer gewissen Logik nicht entbehrten. Noch immer waren in den Kivuprovinzen Milizen aktiv, die darauf brannten, das Kagame-Regime in Ruanda zu beseitigen. Die bekannteste unter ihnen waren die Forces Démocratiques de Libération du Rwanda/FDLR, die Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas, die sich größtenteils aus Beteiligten am Völkermord zusammensetzten. Sie zu bekämpfen, lag also im Interesse Ruandas. Es offen zu tun, mit eigenen Truppen im Ostkongo, hätte jedoch den Unwillen Großbritanniens und der USA heraufbeschworen, der beiden wichtigsten Schutzmächte des neuen Ruanda. Folglich agierte Ruanda verdeckt mit eigenen Soldaten oder unterstützte lokale Milizen, die denselben Gegner hatten. Frieden brachte dieses Vorgehen dem Ostkongo nicht. Ganz im Gegenteil, der Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt intensivierte sich. Hunderttausende Menschen waren immer wieder auf der Flucht, Abertausende wurden getötet, Frauen und Mädchen vergewaltigt oder als Sexsklavinnen entführt.
So ging es Jahr um Jahr, nahezu unter Ausschluss der internationalen Öffentlichkeit. Zu verworren war die Lage, zu undurchsichtig die Interessen der Kriegsparteien. Denn bei allem politischen Pathos, in dem Begriffe wie »Demokratie«, »Freiheit« oder »Sicherheit« nie fehlen durften, war doch offensichtlich, worum es allen Beteiligten eigentlich ging: um die Bodenschätze des Ostkongo. Diamanten, Gold, seltene Erden, insbesondere Coltan weckten Begehrlichkeiten, für die man buchstäblich über Leichen ging. Der Krieg ernährte nicht nur den Krieg, sondern machte seine Drahtzieher auch noch reich. Nicht nur im Kongo, auch in Ruanda. »Coltanopolis« oder »Merci Congo« taufte der Volksmund Villenviertel in der ruandischen Hauptstadt Kigali.
Der einzige ernsthafte, auf Druck der Schutzmächte Großbritannien und USA unternommene Versuch, Frieden zu schaffen, scheiterte. Aber die Geschäfte mit den Bodenschätzen gingen weiter wie bisher. Wo Machtverhältnisse unsicher sind, lässt sich die Staatsgewalt bekanntlich leicht usurpieren. Milizen besetzen die Freiräume im Ostkongo, etablieren eine eigene Herrschaft, verpflichten die Bevölkerung zur Sklavenarbeit in den Minen und bereichern sich immens an den Bodenschätzen, die illegal ins Ausland, vor allem nach Ruanda, verbracht werden, um sie von dort auf dem Weltmarkt zu verkaufen.
Die Situation ist bis heute praktisch unverändert. Obschon es einen Wechsel in der politischen Führung des Kongo gegeben hat (im Januar 2019 war Félix Tshisekedi auf Joseph Kabila gefolgt, der 18 Jahre Staatspräsident gewesen war), bleibt die Lage desolat, vor allem im Ostkongo. Über einhundert Milizen gibt es dort mittlerweile, die alle behaupten, nur für den Schutz von Dörfern oder Regionen aktiv zu sein, sich in Wirklichkeit aber wie schon zuvor schnell an die Macht ihrer Waffen gewöhnten und mordeten, vergewaltigten und plünderten.
Ruanda streitet bis heute jede Beteiligung an den Vorgängen ab, was in der DR Kongo den antiruandischen Protest immer lauter und militanter werden lässt. Mehrmals kam es schon zu kleineren Grenzzwischenfällen mit Verletzten und Toten, auf Demonstrationen wurde zur Vertreibung und Tötung eines jeden Ruanders aufgerufen, dessen man habhaft werden könne.
Unübersehbar hat die Gewaltbereitschaft inzwischen einen beinahe genozidalen Ton angenommen, wobei offizielle Stellen bis hinauf zum Staatspräsidenten Félix Tshisekedi (er wurde im Januar 2024 nach einer Wahl, die nur als Farce bezeichnet werden kann, im Amt bestätigt) bei jeder sich bietender Gelegenheit Öl ins Feuer gießen. Das offizielle Ruanda hält sich betont zurück, äußert gebetsmühlenartig seinen Friedenswillen und verlässt sich im Übrigen auf seine als schlagkräftig bekannte Armee. Unter der Hand wird allerdings gern darauf hingewiesen, dass die vorkoloniale Grenze zum Nordkivu anders verlaufen sei, der Schutz der ruandischen Minderheit dort auch vor diesem Hintergrund dringend nach neuen Lösungen verlange.
Für die Menschen im Ostkongo ist es schlecht, dass sie dort wohnen, wo sie wohnen. Rohstoffreichtum in einem Land, dessen Staatlichkeit für die allermeisten seiner Bewohner nur auf dem Papier steht, dazu die entfernte geographische Lage, fernab der Machtzentren der Welt, und schließlich die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, es bleibt an Aufmerksamkeit nichts übrig für die dort herrschenden bedrückenden bis tödlichen Lebensumstände. Die Situation erscheint vertrackt, doch gibt es genau besehen nur zwei Akteure, die das üble Spiel bestimmen: die DR Kongo und Ruanda. Die DR Kongo, weil sie offensichtlich nicht willens und in der Lage ist, der eigenen Bevölkerung eine menschenwürdige Perspektive zu bieten und mit großer Energie einen Sündenbock für das eigene Versagen sucht. Ruanda, weil es ein Doppelspiel betreibt, das zynisch ist. Seit 1996 bekämpft es, mal direkt mit eigenen Soldaten, mal indirekt durch Milizen, die ohnehin fragile Ordnung im Kongo. Die antiruandische Stimmung dort, die sich in den letzten zwei Jahren zu einem regelrechten Hass auf alles Ruandische gesteigert hat, nimmt Ruanda, so muss es scheinen, in Kauf. Denn es locken Bodenschätze, die ungehindert dem Kongo gestohlen und von Ruanda aus weiterverkauft werden können. Und der steigende Hass auf Ruanda-feindliche Kongolesen dient zugleich unausgesprochen als Legitimation für die offene oder verdeckte Präsenz Ruandas im Ostkongo, wo es sich als Schutzmacht geriert. Das wiederum verträgt sich bestens mit dem räuberischen Transfer der Bodenschätze aus dem Ostkongo heraus, was aber, da begleitet von verbrecherischer Kriegsgewalt, den antiruandischen Hass nährt. Dieser wiederum dient erneut der Rechtfertigung ruandischer Präsenz usw. usf. Da ist schon beinahe eine Fußnote, dass laut eines UN-Berichts von 2010 Ruanda selbst der Begehung schwerster Verbrechen, einschließlich Völkermord, verdächtig ist, Verbrechen, die es hauptsächlich ab 1996 in der DR Kongo begangen haben soll. Natürlich blieb dieser Bericht folgenlos.
Gerd Hankel ist Völkerrechtler und war seit 2002 an den Untersuchungen des Völkermords in Ruanda beteiligt.