Renate K. aus B.
Ich liebe das Gefühl moralischer Überlegenheit, mit dem ich morgens in den Spiegel gucken kann. Dafür kaufe ich hässliche Handy-Hüllen aus Filz, häkle Seifensäckchen aus Wollresten für meine Freunde, lege die Salami nicht mehr doppelt aufs Brot und gendere natürlich auch Tiernamen. Wann immer sie mir über den Weg laufen, bespucke ich Querdenker. Mein Mineralwasser und meine Zahnseide sind selbstverständlich vegan, ich gewöhne mich langsam an die Menstruationstasse und fahre mit dem Lastenfahrrad zum Unverpackt-Laden. Ich bin Protokollführerin im »Verein gegen Silvesterknaller, Wunderkerzen und Plastikkorken«, hisse am »Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit« die Regenbogenfahne und kann fehlerfrei »LSBTTIQQAA« sagen. Neuerdings bin ich Mitglied im »Apokalyptischen Chor«. Im Moment üben wir für ein Konzert an der Oder.
Mein Leben ist oft freundlos, aber immer korrekt.
Ich stehe auf der richtigen Seite.
Gabi G. aus K.
Gestern habe ich mich wieder am Bioladen vorbeigeschlichen, um bei Aldi einzukaufen; ich besitze kein Lastenfahrrad, sondern schätze mein Auto mit Verbrennungsmotor; ich kenne keine Flugscham und entsorge die stinkenden Windeln meiner Pflegefälle in zahllosen hilfreichen Plastiktüten; auf dem Weg zu einer der letzten Raucherkneipen gehe ich gerne auf einen Happen bei McDonalds vorbei; in meiner Kindheit habe ich mich mit Vorliebe als Indianersquaw verkleidet und bis heute trage ich das Elfenbeinarmband von Tante Toni. Ich lehne das Gendern ab, finde »Layla« lustig und halte die auch von der SPD Sachsen geforderte Ausstattung von Männertoiletten mit Hygiene-Eimern für die Bambus-Tampons von menstruierenden Männern für ein eher nachrangiges Weltrettungsprojekt. Die SPD sollte sich lieber für die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 einsetzen. Übrigens lehne ich die erneute Maskenpflicht ab
Krisen? Katastrophen? Apokalypse? In solche Filme gehe ich nicht. Es wird schon gut gehen!
Ich gebe es zu: Ich bin eine moralische Totalversagerin. Und kann deshalb nicht mehr in den Spiegel schauen. Weswegen ich das Badezimmer nur noch mit Schlafmaske betrete. Glücklicherweise finde ich die Zahnbürste auch blind.
Mein Leben ist voller Spaß, aber selten korrekt.
Ich stehe auf der richtigen Seite.
Annalena B. aus P.
Meine moralische Überlegenheit habe ich mir ohne größeren Aufwand erworben. Wofür ich mich von Herzen bei allen Corona-Leugnern und Impfgegnern bedanken möchte. Wegen Euch, liebe Querdenker, konnte ich mich in den vergangenen zwei Jahren so richtig gut fühlen, als besserer Mensch. Nur drei, vier Piekse in den Oberarm, die Maske immer griffbereit und hier und da eine kleine Denunziation meiner Nachbarn wegen des Verstoßes gegen das Abstandsgebot – schon gehörte ich zu den Guten. Und gelte als solidarischer verantwortungsvoller Mitbürger.
Arme berauben, Alte wegsperren, Waffenlieferungen im großen Stil?
Kein Problem. Ich darf das. Ich bin ja geimpft.
Grundrechte einschränken, Überwachung ausbauen, öffentlich-rechtliche Shitstorms organisieren?
Kein Problem. Ich darf das. Ich bin ja kein Querdenker.
Und ich weiß, wie es geht!
Übrigens bietet mir die krisenhafte Gegenwart ein neues Sprungbrett für meine moralische Überlegenheit: Den Krieg in der Ukraine. Ich habe sofort alle russischen Autoren aus meinem Bücherregal gezerrt, sie zu den Klängen von »The Star-Spangled Banner« auf dem Hof verbrannt und mich anschließend bei Twitter als Follower von Selenskyj zum Kriegseinsatz gemeldet. Für die Verteidigung unserer westlichen Werte. Aber damit kennt Ihr Euch ja nicht aus, Ihr Putin-Versteher! Ihr Lumpenpazifisten! Doch ich – ich weiß, wie es geht.
Mein Leben ist ein Leben in der Schafherde.
Ich stehe immer auf der richtigen Seite.
Und habe überall in der Wohnung Spiegel aufgehängt.