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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichte wiederholt sich doch?

Der Unter­gang der ersten deut­schen Demo­kra­tie, die nur von 1918 bis 1933 währ­te und im Faschis­mus ende­te, soll­te eigent­lich genü­gend Wis­sen hin­ter­las­sen haben, um nicht auch der seit 1949 wäh­ren­den zwei­ten deut­schen Demo­kra­tie den Gar­aus zu machen. Geschich­te wie­der­holt sich zwar nicht, aber man stellt durch­aus Par­al­le­len zu heu­te fest. Der her­aus­ra­gen­de Sozi­al­phi­lo­soph und Sozio­lo­ge Oskar Negt (1934-2024) schreibt: »›Bonn ist nicht Wei­mar‹, die­ser Slo­gan rich­te­te sich gegen fal­sche Ana­lo­gien. (…) Die Nazis benö­tig­ten eine gewis­se Zeit, um ihre Put­schi­sten unter Kon­trol­le zu hal­ten und den Macht­zu­wachs aus frei­en Wah­len zu erwar­ten. Gera­de heu­te ist nach­drück­lich dar­an zu erin­nern: Wäh­rend die Links­par­tei­en der Wei­ma­rer Repu­blik einen Groß­teil ihrer Ener­gie ver­brauch­ten, um Gesin­nungs­gren­zen und Feind­schaft gegen­ein­an­der zu mar­kie­ren, bau­ten die Nazis im Schutz fast unun­ter­bro­che­ner Wahl­er­fol­ge ihre Macht­po­si­ti­on aus und erbeu­te­ten am Ende Stück für Stück den Staat. (…) Das darf sich nicht wie­der­ho­len!« Und Negt schreibt wei­ter: »Die Links­par­tei­en, wie ich sie unter die­sem Sam­mel­be­griff ein­mal bezeich­nen will, sind schon aus rei­ner Selbst­er­hal­tung gezwun­gen, im Sin­ne soli­da­ri­scher Koope­ra­ti­on das Gemein­sa­me zur Grund­la­ge ihres Han­delns zu machen. Es gibt geschicht­li­che Kon­stel­la­tio­nen, die nur ein­mal auf­tre­ten und sich für Rich­tungs­ent­schei­dun­gen öff­nen. Kri­sen­zei­ten, die Ent­schei­dun­gen zwin­gend her­aus­for­dern, sind nur dann Erkennt­nis­zei­ten, wenn es kla­re gesell­schaft­li­che Alter­na­ti­ven zu den als uner­träg­lich emp­fun­de­nen Ver­hält­nis­sen gibt.«

Wer soll aber die­se Alter­na­ti­ven ent­wickeln und auf­zei­gen? Die heu­te Herr­schen­den in der Poli­tik? Regie­ren­de unter­lie­gen einer Selbst­über­he­bung und sind unfä­hig und deka­dent sowie nicht zuletzt von Tor­heit oder Starr­sinn gekenn­zeich­net. Die meist­ge­le­se­ne US-ame­ri­ka­ni­sche Histo­ri­ke­rin der Gegen­wart, Bar­ba­ra Tuch­man (1912-1989) beschreibt dies in ihrem Buch »Die Tor­heit der Regie­ren­den. Von Tro­ja bis Viet­nam«: »Die gesam­te Geschich­te, unab­hän­gig von Zeit und Ort, durch­zieht das Phä­no­men, dass Regie­run­gen und Regie­ren­de eine Poli­tik betrie­ben, die den eige­nen Inter­es­sen zuwi­der­läuft. In der Regie­rungs­kunst, so scheint es, blei­ben die Lei­stun­gen der Mensch­heit weit hin­ter dem zurück, was sie auf fast allen ande­ren Gebie­ten voll­bracht hat. Weis­heit, die man defi­nie­ren könn­te als den Gebrauch der Urteils­kraft auf der Grund­la­ge von Erfah­rung, gesun­dem Men­schen­ver­stand und ver­füg­ba­rer Infor­ma­ti­on, kommt in die­ser Sphä­re weni­ger zur Gel­tung und ihre Wir­kung wird häu­fi­ger ver­ei­telt, als es wün­schens­wert wäre.«

War­um agie­ren die Inha­ber hoher Ämter so oft in einer Wei­se, die der Ver­nunft und dem auf­ge­klär­ten Eigen­in­ter­es­se zuwi­der­läuft? Die­se Fra­ge hät­te man auch zum Ende der Wei­ma­rer Repu­blik dem Par­tei­vor­stand der SPD und auch dem Gewerk­schafts­vor­stand des All­ge­mei­nen Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des (ADGB) sowie dem All­ge­mei­nen frei­en Ange­stell­ten­bund (AfA-Bund) und den Christ­li­chen Gewerk­schaf­ten stel­len müs­sen, die das Ange­bot des KPD-Vor­stands, hier ins­be­son­de­re des Vor­sit­zen­den Ernst Thäl­mann (1886-1944), gemein­sam mit einem Gene­ral­streik Adolf Hit­ler (1889-1945) zu ver­hin­dern, abge­lehnt haben. Der Poli­to­lo­ge und Jurist Wolf­gang Abend­roth kommt hier zu einem deut­li­chen Befund: »Der Par­tei­vor­stand der SPD erklär­te, nur legal gegen Hit­ler oppo­nie­ren zu wol­len, und warn­te sei­ne Mit­glie­der aus­drück­lich vor ›undis­zi­pli­nier­tem Vor­ge­hen‹. (…) Der Kampf wird wie­der abge­lehnt, und der Macht­wech­sel (…) wird auf die­se Wei­se von der SPD und den Gewerk­schaf­ten hingenommen.«

Die Unter­neh­mer­ver­bän­de waren da schon alle auf Nazi-Linie unter­wegs und war­te­ten nur noch auf die Ernen­nung von Hit­ler zum Reichs­kanz­ler. Dabei konn­te Hit­ler schon ab 1931 mit einer wach­sen­den Unter­stüt­zung der Indu­stri­el­len und der all­ge­mei­nen Unter­neh­mer­schaft rech­nen. Reichs­bank­prä­si­dent Hjal­mar Schacht (von 1934 bis 1937 gleich­zei­tig auch Reichs­wirt­schafts­mi­ni­ster) sprach in einem wirt­schafts­po­li­ti­schen Grund­satz­re­fe­rat vor Unter­neh­mern in Bad Harz­burg offen aus, was füh­ren­de Indu­stri­el­le in Deutsch­land uni­so­no dach­ten: »In der Tat hat die deut­sche Wirt­schaft an dem End­erfolg der natio­na­len Bewe­gung das bren­nend­ste Inter­es­se.« Nach der Rede von Hit­ler Anfang 1932 im Indu­strie­club Düs­sel­dorf (den es heu­te noch gibt), vor der dort ver­sam­mel­ten Füh­rungs­schicht der Wirt­schaft, erhielt er nun auch die offe­ne (finan­zi­el­le) Unter­stüt­zung füh­ren­der Indu­stri­el­ler. »Im Novem­ber 1932 rich­te­ten die­se einen Brief an den Reichs­prä­si­den­ten Hin­den­burg mit der unmiss­ver­ständ­li­chen Auf­for­de­rung, Hit­ler zum Reichs­kanz­ler zu ernen­nen.« Hit­ler hat­te damit freie Bahn. Den Rest besorg­te ein seni­ler 86 Jah­re alter Reichs­prä­si­dent, der ihm dann am 30. Janu­ar 1933 die Macht als neu­er Reichs­kanz­ler über­trug. »Nicht die Wel­le einer Volks­be­we­gung hat Adolf Hit­ler und sei­ne NSDAP – trotz ihres Mas­sen­an­hangs, den sie in den har­ten Jah­ren der Kri­se von 1930 bis 1932 gefun­den hat­ten und der Hit­ler zwei­fel­los erst als Fak­tor ins gro­ße poli­ti­sche Spiel gebracht hat­te – (…) an die Spit­ze der Reichs­re­gie­rung getra­gen und ihm damit die Mög­lich­keit gege­ben, (…) die Besei­ti­gung der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie und die Aus­höh­lung des Rechts­staa­tes in Deutsch­land durch­zu­füh­ren. Der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und Histo­ri­ker Karl Diet­rich Bra­cher (1922-2016) schreibt: ›Es waren durch­aus unver­ant­wort­li­che, außer­ver­fas­sungs­mä­ßi­ge Expo­nen­ten poli­ti­scher und wirt­schafts­po­li­ti­scher Bestre­bun­gen und Illu­sio­nen, die Hit­ler die Macht in die Hän­de spiel­ten. Die recht­mä­ßig poli­tisch ver­ant­wort­li­chen Instan­zen dage­gen, vor allem die Par­tei­en, der Reichs­tag und der Reichs­prä­si­dent, lie­ßen sich von die­sen Vor­gän­gen aus­schal­ten oder irreführen‹.«

Das Ver­sa­gen der Eli­te zum Ende der ersten deut­schen par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie ist erschreckend, stellt der her­aus­ra­gen­de Öko­nom Karl Georg Zinn fest: »Damals lagen etli­che Vor­schlä­ge vor, wie der Mas­sen­ar­beits­lo­sig­keit erfolg­reich begeg­net wer­den könn­te. Es stan­den sich zwei Lager gegen­über, wenn von den Vor­stel­lun­gen der deut­schen Kom­mu­ni­sten abge­se­hen wird: auf der einen Sei­te die ›Refor­mer‹, die als Außen­sei­ter gal­ten und kei­ne öffent­li­che Brei­ten­wir­kung erreich­ten; auf der ande­ren Sei­te die Ortho­do­xie, zu der die gro­ße Mehr­heit der Uni­ver­si­täts­öko­no­men und der wirt­schaft­li­chen Füh­rungs­kräf­te zähl­te. Die dama­li­ge Situa­ti­on gleicht der gegen­wär­ti­gen fast kon­tu­ren­scharf. Die Ortho­do­xen lei­ste­ten der Brü­nings­chen Defla­ti­ons­po­li­tik kräf­tig Schüt­zen­hil­fe, so wie auch heu­te von den neo­li­be­ra­li­sti­schen Mehr­heits­öko­no­men Spar­po­li­tik auf allen Ebe­nen – mit Aus­nah­me der höhe­ren – gefor­dert wird. Im Unter­schied zur Wei­ma­rer End­zeit sind die heu­ti­gen Ver­tre­ter der herr­schen­den Leh­re jedoch weit­aus umfas­sen­der ›ver­netzt‹, ver­fü­gen über mehr Finanz­mit­tel für ihre ideo­lo­gi­sche Pro­pa­gan­da, kön­nen sich auf ›Denk­fa­bri­ken‹ und eine zahl­rei­che Lob­by stüt­zen.« Dies hat gera­de noch ein­mal eine Stu­die des Wis­sen­schafts­zen­trums Ber­lin für Sozi­al­for­schung deut­lich auf­ge­zeigt. Auch heu­te prak­ti­ziert die herr­schen­de Poli­tik wie­der, gegen alle Ver­nunft und gegen die Mehr­heits­in­ter­es­sen der Bevöl­ke­rung, eine kon­tra­pro­duk­ti­ve neo­li­be­ra­le Poli­tik zur ein­sei­ti­gen Befrie­di­gung des Kapitals.

War­um ist das so? Nun, die herr­schen­de Poli­tik ist im Kapi­ta­lis­mus von der Wirt­schaft abhän­gig und setzt des­halb die Inter­es­sen der Kapi­tal­ei­ge­ner durch; selbst auch dann, wenn sich dadurch immer mehr eine seg­men­tier­te Gesell­schaft her­aus­bil­det. Die ver­arm­ten und pre­ka­ri­sier­ten Men­schen haben am Ende kein Ver­trau­en mehr in die eta­blier­ten Par­tei­en. Auch nicht in Links-Par­tei­en. Ent­we­der gehen sie über­haupt nicht mehr zu Wah­len oder sie wäh­len heu­te aus Pro­test die AfD. Offen­sicht­lich steht in der Gesell­schaft der Zeit­geist in der Kri­se Rechts, nicht nur in Deutsch­land. Der Jour­na­list und Kom­mu­nist August Thal­hei­mer (1884-1948), das zei­gen Kli­em, Kamm­ler und Grie­pen­burg in einem Bei­trag zum von Wolf­gang Abend­roth her­aus­ge­ge­be­nen Sam­mel­band »Zur Theo­rie des Faschis­mus« (1979), hat­te bereits 1923, wäh­rend der ersten deut­schen Demo­kra­tie, »die ersten Ansät­ze sei­ner Faschis­mus­theo­rie for­mu­liert und vor allem den Zusam­men­hang zwi­schen Klas­sen­la­ge des Klein­bür­ger­tums und den Struk­tu­ren und Inhal­ten der dar­auf auf­bau­en­den faschi­sti­schen Ideo­lo­gie beschrei­ben. Er ent­wickel­te dann ein in sei­ner Vor­aus­sicht unüber­trof­fe­nes Modell des stu­fen­wei­sen Faschi­sie­rungs­pro­zes­ses bür­ger­lich-par­la­men­ta­ri­scher Demo­kra­tien (…). Thal­hei­mer ver­such­te nach­zu­wei­sen, dass der Par­la­men­ta­ris­mus nicht mehr den Inter­es­sen der Bour­geoi­sie ent­sprach, dass das Par­la­ment nicht mehr in der Lage war, das poli­ti­sche Inter­es­se des Bür­ger­tums zu ermit­teln, zu for­mu­lie­ren und durch­zu­set­zen. Als gene­rel­le Ent­wick­lungs­ten­denz der bür­ger­lich regier­ten Staa­ten betrach­te­te er einen End­de­mo­kra­ti­sie­rungs­pro­zess, der dadurch gekenn­zeich­net war, dass die staat­li­che Exe­ku­ti­ve sich in immer stär­ke­rem Maße der Beein­flus­sung und Kon­trol­le durch die gro­ße Majo­ri­tät der Bevöl­ke­rung ent­zog, dass der Staats­para­rat sich ver­selb­stän­dig­te, um so (…) das poli­ti­sche Inter­es­se der Bour­geoi­sie zu for­mu­lie­ren und durch­zu­set­zen, not­falls auch gegen Tei­le die­ser Klas­se. (…) Der Faschis­mus ist für Thal­hei­mer nicht die letz­te Alter­na­ti­ve des kapi­ta­li­sti­schen Systems, um die unmit­tel­bar dro­hen­de sozia­le Revo­lu­ti­on zu ver­hin­dern, der letz­te Ver­zweif­lungs­akt der Herr­schen­den, son­dern im Gegen­teil Aus­druck einer wach­sen­den Stär­ke der kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft in einer neu­en poli­ti­schen Form. Thal­hei­mer lei­te­te so den Faschis­mus weder grad­li­nig-funk­tio­nal aus den Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­sen der kapi­ta­li­sti­schen Gesell­schaft ab, noch redu­zier­te er ihn auf die Rol­le eines Agen­ten der bür­ger­li­chen Klas­se. Über sei­ne Ent­ste­hung, Ent­wick­lung und sei­nen Erfolg ent­schied die Kon­stel­la­ti­on der poli­ti­schen Macht der ver­schie­de­nen sozia­len Klassen.«

So muss dann heu­te offen­sicht­lich die AfD zur Macht­über­nah­me nur war­ten, und am Ende hat das im Kapi­ta­lis­mus immer ent­schei­den­de Kapi­tal auch kei­ne Pro­ble­me mit der faschi­sti­schen Macht­über­nah­me. Pri­vat­ei­gen­tum an den Pro­duk­ti­ons­mit­teln und das Recht auf Pro­fit wer­den, wie zur Nazi­zeit, wei­ter garan­tiert. Dabei wäre die Alter­na­ti­ve so ein­fach. Die herr­schen­de Poli­tik müss­te nur, ohne Wenn und Aber, eine links-keyne­sia­ni­sti­sche Wirt­schafts­po­li­tik auf der Markt- und Makro­ebe­ne und auf der Mikroebe­ne eine Wirt­schafts­de­mo­kra­tie umsetzen.