Der Untergang der ersten deutschen Demokratie, die nur von 1918 bis 1933 währte und im Faschismus endete, sollte eigentlich genügend Wissen hinterlassen haben, um nicht auch der seit 1949 währenden zweiten deutschen Demokratie den Garaus zu machen. Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber man stellt durchaus Parallelen zu heute fest. Der herausragende Sozialphilosoph und Soziologe Oskar Negt (1934-2024) schreibt: »›Bonn ist nicht Weimar‹, dieser Slogan richtete sich gegen falsche Analogien. (…) Die Nazis benötigten eine gewisse Zeit, um ihre Putschisten unter Kontrolle zu halten und den Machtzuwachs aus freien Wahlen zu erwarten. Gerade heute ist nachdrücklich daran zu erinnern: Während die Linksparteien der Weimarer Republik einen Großteil ihrer Energie verbrauchten, um Gesinnungsgrenzen und Feindschaft gegeneinander zu markieren, bauten die Nazis im Schutz fast ununterbrochener Wahlerfolge ihre Machtposition aus und erbeuteten am Ende Stück für Stück den Staat. (…) Das darf sich nicht wiederholen!« Und Negt schreibt weiter: »Die Linksparteien, wie ich sie unter diesem Sammelbegriff einmal bezeichnen will, sind schon aus reiner Selbsterhaltung gezwungen, im Sinne solidarischer Kooperation das Gemeinsame zur Grundlage ihres Handelns zu machen. Es gibt geschichtliche Konstellationen, die nur einmal auftreten und sich für Richtungsentscheidungen öffnen. Krisenzeiten, die Entscheidungen zwingend herausfordern, sind nur dann Erkenntniszeiten, wenn es klare gesellschaftliche Alternativen zu den als unerträglich empfundenen Verhältnissen gibt.«
Wer soll aber diese Alternativen entwickeln und aufzeigen? Die heute Herrschenden in der Politik? Regierende unterliegen einer Selbstüberhebung und sind unfähig und dekadent sowie nicht zuletzt von Torheit oder Starrsinn gekennzeichnet. Die meistgelesene US-amerikanische Historikerin der Gegenwart, Barbara Tuchman (1912-1989) beschreibt dies in ihrem Buch »Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam«: »Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betrieben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft. In der Regierungskunst, so scheint es, bleiben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Weisheit, die man definieren könnte als den Gebrauch der Urteilskraft auf der Grundlage von Erfahrung, gesundem Menschenverstand und verfügbarer Information, kommt in dieser Sphäre weniger zur Geltung und ihre Wirkung wird häufiger vereitelt, als es wünschenswert wäre.«
Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft? Diese Frage hätte man auch zum Ende der Weimarer Republik dem Parteivorstand der SPD und auch dem Gewerkschaftsvorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) sowie dem Allgemeinen freien Angestelltenbund (AfA-Bund) und den Christlichen Gewerkschaften stellen müssen, die das Angebot des KPD-Vorstands, hier insbesondere des Vorsitzenden Ernst Thälmann (1886-1944), gemeinsam mit einem Generalstreik Adolf Hitler (1889-1945) zu verhindern, abgelehnt haben. Der Politologe und Jurist Wolfgang Abendroth kommt hier zu einem deutlichen Befund: »Der Parteivorstand der SPD erklärte, nur legal gegen Hitler opponieren zu wollen, und warnte seine Mitglieder ausdrücklich vor ›undiszipliniertem Vorgehen‹. (…) Der Kampf wird wieder abgelehnt, und der Machtwechsel (…) wird auf diese Weise von der SPD und den Gewerkschaften hingenommen.«
Die Unternehmerverbände waren da schon alle auf Nazi-Linie unterwegs und warteten nur noch auf die Ernennung von Hitler zum Reichskanzler. Dabei konnte Hitler schon ab 1931 mit einer wachsenden Unterstützung der Industriellen und der allgemeinen Unternehmerschaft rechnen. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht (von 1934 bis 1937 gleichzeitig auch Reichswirtschaftsminister) sprach in einem wirtschaftspolitischen Grundsatzreferat vor Unternehmern in Bad Harzburg offen aus, was führende Industrielle in Deutschland unisono dachten: »In der Tat hat die deutsche Wirtschaft an dem Enderfolg der nationalen Bewegung das brennendste Interesse.« Nach der Rede von Hitler Anfang 1932 im Industrieclub Düsseldorf (den es heute noch gibt), vor der dort versammelten Führungsschicht der Wirtschaft, erhielt er nun auch die offene (finanzielle) Unterstützung führender Industrieller. »Im November 1932 richteten diese einen Brief an den Reichspräsidenten Hindenburg mit der unmissverständlichen Aufforderung, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.« Hitler hatte damit freie Bahn. Den Rest besorgte ein seniler 86 Jahre alter Reichspräsident, der ihm dann am 30. Januar 1933 die Macht als neuer Reichskanzler übertrug. »Nicht die Welle einer Volksbewegung hat Adolf Hitler und seine NSDAP – trotz ihres Massenanhangs, den sie in den harten Jahren der Krise von 1930 bis 1932 gefunden hatten und der Hitler zweifellos erst als Faktor ins große politische Spiel gebracht hatte – (…) an die Spitze der Reichsregierung getragen und ihm damit die Möglichkeit gegeben, (…) die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und die Aushöhlung des Rechtsstaates in Deutschland durchzuführen. Der Politikwissenschaftler und Historiker Karl Dietrich Bracher (1922-2016) schreibt: ›Es waren durchaus unverantwortliche, außerverfassungsmäßige Exponenten politischer und wirtschaftspolitischer Bestrebungen und Illusionen, die Hitler die Macht in die Hände spielten. Die rechtmäßig politisch verantwortlichen Instanzen dagegen, vor allem die Parteien, der Reichstag und der Reichspräsident, ließen sich von diesen Vorgängen ausschalten oder irreführen‹.«
Das Versagen der Elite zum Ende der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie ist erschreckend, stellt der herausragende Ökonom Karl Georg Zinn fest: »Damals lagen etliche Vorschläge vor, wie der Massenarbeitslosigkeit erfolgreich begegnet werden könnte. Es standen sich zwei Lager gegenüber, wenn von den Vorstellungen der deutschen Kommunisten abgesehen wird: auf der einen Seite die ›Reformer‹, die als Außenseiter galten und keine öffentliche Breitenwirkung erreichten; auf der anderen Seite die Orthodoxie, zu der die große Mehrheit der Universitätsökonomen und der wirtschaftlichen Führungskräfte zählte. Die damalige Situation gleicht der gegenwärtigen fast konturenscharf. Die Orthodoxen leisteten der Brüningschen Deflationspolitik kräftig Schützenhilfe, so wie auch heute von den neoliberalistischen Mehrheitsökonomen Sparpolitik auf allen Ebenen – mit Ausnahme der höheren – gefordert wird. Im Unterschied zur Weimarer Endzeit sind die heutigen Vertreter der herrschenden Lehre jedoch weitaus umfassender ›vernetzt‹, verfügen über mehr Finanzmittel für ihre ideologische Propaganda, können sich auf ›Denkfabriken‹ und eine zahlreiche Lobby stützen.« Dies hat gerade noch einmal eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung deutlich aufgezeigt. Auch heute praktiziert die herrschende Politik wieder, gegen alle Vernunft und gegen die Mehrheitsinteressen der Bevölkerung, eine kontraproduktive neoliberale Politik zur einseitigen Befriedigung des Kapitals.
Warum ist das so? Nun, die herrschende Politik ist im Kapitalismus von der Wirtschaft abhängig und setzt deshalb die Interessen der Kapitaleigener durch; selbst auch dann, wenn sich dadurch immer mehr eine segmentierte Gesellschaft herausbildet. Die verarmten und prekarisierten Menschen haben am Ende kein Vertrauen mehr in die etablierten Parteien. Auch nicht in Links-Parteien. Entweder gehen sie überhaupt nicht mehr zu Wahlen oder sie wählen heute aus Protest die AfD. Offensichtlich steht in der Gesellschaft der Zeitgeist in der Krise Rechts, nicht nur in Deutschland. Der Journalist und Kommunist August Thalheimer (1884-1948), das zeigen Kliem, Kammler und Griepenburg in einem Beitrag zum von Wolfgang Abendroth herausgegebenen Sammelband »Zur Theorie des Faschismus« (1979), hatte bereits 1923, während der ersten deutschen Demokratie, »die ersten Ansätze seiner Faschismustheorie formuliert und vor allem den Zusammenhang zwischen Klassenlage des Kleinbürgertums und den Strukturen und Inhalten der darauf aufbauenden faschistischen Ideologie beschreiben. Er entwickelte dann ein in seiner Voraussicht unübertroffenes Modell des stufenweisen Faschisierungsprozesses bürgerlich-parlamentarischer Demokratien (…). Thalheimer versuchte nachzuweisen, dass der Parlamentarismus nicht mehr den Interessen der Bourgeoisie entsprach, dass das Parlament nicht mehr in der Lage war, das politische Interesse des Bürgertums zu ermitteln, zu formulieren und durchzusetzen. Als generelle Entwicklungstendenz der bürgerlich regierten Staaten betrachtete er einen Enddemokratisierungsprozess, der dadurch gekennzeichnet war, dass die staatliche Exekutive sich in immer stärkerem Maße der Beeinflussung und Kontrolle durch die große Majorität der Bevölkerung entzog, dass der Staatspararat sich verselbständigte, um so (…) das politische Interesse der Bourgeoisie zu formulieren und durchzusetzen, notfalls auch gegen Teile dieser Klasse. (…) Der Faschismus ist für Thalheimer nicht die letzte Alternative des kapitalistischen Systems, um die unmittelbar drohende soziale Revolution zu verhindern, der letzte Verzweiflungsakt der Herrschenden, sondern im Gegenteil Ausdruck einer wachsenden Stärke der kapitalistischen Gesellschaft in einer neuen politischen Form. Thalheimer leitete so den Faschismus weder gradlinig-funktional aus den Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft ab, noch reduzierte er ihn auf die Rolle eines Agenten der bürgerlichen Klasse. Über seine Entstehung, Entwicklung und seinen Erfolg entschied die Konstellation der politischen Macht der verschiedenen sozialen Klassen.«
So muss dann heute offensichtlich die AfD zur Machtübernahme nur warten, und am Ende hat das im Kapitalismus immer entscheidende Kapital auch keine Probleme mit der faschistischen Machtübernahme. Privateigentum an den Produktionsmitteln und das Recht auf Profit werden, wie zur Nazizeit, weiter garantiert. Dabei wäre die Alternative so einfach. Die herrschende Politik müsste nur, ohne Wenn und Aber, eine links-keynesianistische Wirtschaftspolitik auf der Markt- und Makroebene und auf der Mikroebene eine Wirtschaftsdemokratie umsetzen.