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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichte und Gegenwart

Jen­ny Far­rells Buch Wider­stand und Befrei­ung – Essays über die iri­sche Lite­ra­tur, soeben beim Ver­lag Neue Impul­se erschie­nen, füllt eine bedeu­ten­de Lücke im deutsch­spra­chi­gen Ver­öf­fent­li­chungs­spek­trum zur beson­ders ver­sinn­lich­ten und reich­hal­ti­gen erzäh­le­ri­schen Tra­di­ti­on die­ses eigen­tüm­lich wider­stän­di­gen Völkchens.

Far­rell prä­sen­tiert eine sorg­fäl­ti­ge Aus­wahl und Ana­ly­se und schöpft, auch als Hoch­schul­leh­re­rin, aus reich­hal­ti­gem Wis­sen – nicht nur zu den vier iri­schen Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­gern Yeats, Shaw, Beckett und Hea­ney. Das Spek­trum reicht über das in iri­scher Spra­che ver­fass­te und von christ­li­chen Mön­chen stark ver­än­der­te eisen­zeit­li­che Grün­dungs­epos Rin­der­raub bis hin zum Lied des Pro­phe­ten des neue­sten Boo­ker-Preis­trä­gers Paul Lynch.

Beson­ders eigen­wil­lig ist die gera­de­zu noto­ri­sche Detail­ver­ses­sen­heit der Her­aus­ge­be­rin. Damit führt sie, ohne jede ideo­lo­gi­sche Ver­stei­fung, nahe an kul­tu­rel­le und ande­re histo­risch-poli­ti­sche Schluss­fol­ge­run­gen her­an, womit gleich­zei­tig dich­te­ri­sche Wel­ten nach­er­leb­bar werden.

In einem geson­der­ten Abschnitt zu dem Drei­ge­spann nord­iri­scher Dich­ter – Hea­ney, Mahon und Lon­gley – wird im »indi­vi­du­el­len« Schmerz sozia­les Lei­den an der Dis­kri­mi­nie­rung gespie­gelt. Unru­he, wo sie nicht in die Gesell­schaft fin­det, ato­mi­siert sich im Magen. Nicht her­aus­ge­bro­che­ne Klas­sen­kämp­fe ver­mö­gen Her­zen zu zer­rei­ßen. Die hier auch bespro­che­ne jün­ge­re Autorin Anna Burns erhielt 2018 den Boo­ker­preis für ihr Buch Milch­mann, das exakt die­sem The­ma gewid­met ist.

In Deutsch­land nicht ganz unbe­kannt, aber wenig auf­ge­führt, ist der aus der Dub­li­ner Arbei­ter­klas­se stam­men­de gro­ße Dra­ma­ti­ker Sean O’Casey, der hier mit zwei Stücken ver­tre­ten ist – das wäh­rend des Unab­hän­gig­keits­krie­ges ange­sie­del­te Schat­ten eines Rebel­len sowie die herr­li­che Komö­die Kike­ri­ki, die im befrei­ten Irland spielt. O’Caseys Men­tor Geor­ge Ber­nard Shaw ist mit Pyg­ma­li­on auf­ge­nom­men, einer Komö­die, in der die Frau­en der Arbei­ter­klas­se die eigent­li­chen Hel­din­nen sind.

Far­rell beweist mit ihren Essays zu Yeats und Beckett, dass selbst Lite­ra­tur, die als »schwie­rig« wahr­ge­nom­men wird, durch­aus zugäng­lich gemacht wer­den kann – wie­der durch unauf­dring­li­che, aber detail­ver­lieb­te Lek­tü­re, Stau­nen ver­mit­telnd, ohne dem Gemäl­de einen Zet­tel in den Mund zu legen. So zeigt sie, wie Yeats’ Posi­tio­nen sich ent­wickeln und auch wie viel Becketts War­ten auf Godot mit unse­rer Zeit zu tun hat.

Hier­zu­lan­de heut­zu­ta­ge unbe­kannt ist der in den 1920er und 30er Jah­ren viel ins Deut­sche über­setz­te Liam O’Flaherty, der in die­sem Band mit meh­re­ren Roma­nen bespro­chen wird. O’Flahertys sati­ri­sche Schöp­fung Lügen über Russ­land, in dem der Autor die Stim­me eines unzu­ver­läs­si­gen Erzäh­lers ein­nimmt, erhielt die­sen deut­schen Titel, um zu ver­mei­den, dass das Spiel mit den ste­reo­ty­pi­schen anti-sowje­ti­schen Ein­stel­lun­gen die­ses Erzäh­lers nicht etwa für bare Mün­ze genom­men wird. Doch trotz der gro­ßen sati­ri­schen Tra­di­ti­on in der iri­schen Lite­ra­tur wird der Text heu­te in Irland zumeist völ­lig miss­ver­stan­den und als anti-sowje­tisch auf­ge­nom­men. Der deut­sche Titel soll­te also die­ser Leser­ver­wir­rung ent­ge­gen­wir­ken. Iro­ni­scher­wei­se wur­de das Buch jedoch von den Nazis rich­tig ver­stan­den und 1935 aus deut­schen Biblio­the­ken sekretiert.

Zu den hier vor­ge­stell­ten zeit­ge­nös­si­schen Roman­au­to­ren gehö­ren neben Burns und Lynch auch die bekann­te jun­ge Autorin Sal­ly Roo­ney (Auf der Suche nach dem mar­xi­sti­schen Roman) sowie Colum McCann (Apei­ro­gon). Roo­ney mach­te auf sich neben ihren Roma­nen auch durch ihren Ein­satz für Palä­sti­na inter­na­tio­nal auf­merk­sam, und McCanns unge­wöhn­lich struk­tu­rier­ter Roman beschäf­tigt sich eben­falls mit der Lage im Nahen Osten.

Der Titel die­ser neu­en Ver­öf­fent­li­chung Wider­stand und Befrei­ung besagt, für wel­che Tra­di­ti­ons­li­nie der iri­schen Dicht­kunst die Ver­fas­se­rin die Leser sen­si­bi­li­sie­ren möch­te. Es öff­net ein neu­es Fen­ster aus mar­xi­sti­scher Per­spek­ti­ve auf eine Lite­ra­tur, die in den deutsch­spra­chi­gen Län­dern nicht aus­rei­chend bekannt ist. Der Essay­band ver­deut­licht, wie Kunst durch die ein­zig­ar­ti­gen Stim­men der Dich­ter mensch­li­che Erfah­run­gen ver­mit­telt, die das Leben der Leser berei­chern und ein tie­fe­res Ver­ständ­nis für ver­schie­de­ne Kul­tu­ren aus Geschich­te und Gegen­wart schaffen.

Jen­ny Far­rell: Wider­stand und Befrei­ung – Essays über iri­sche Lite­ra­tur, Ver­lag Neue Impul­se 2024, 236 S., 24,80 €.