Jenny Farrells Buch Widerstand und Befreiung – Essays über die irische Literatur, soeben beim Verlag Neue Impulse erschienen, füllt eine bedeutende Lücke im deutschsprachigen Veröffentlichungsspektrum zur besonders versinnlichten und reichhaltigen erzählerischen Tradition dieses eigentümlich widerständigen Völkchens.
Farrell präsentiert eine sorgfältige Auswahl und Analyse und schöpft, auch als Hochschullehrerin, aus reichhaltigem Wissen – nicht nur zu den vier irischen Literaturnobelpreisträgern Yeats, Shaw, Beckett und Heaney. Das Spektrum reicht über das in irischer Sprache verfasste und von christlichen Mönchen stark veränderte eisenzeitliche Gründungsepos Rinderraub bis hin zum Lied des Propheten des neuesten Booker-Preisträgers Paul Lynch.
Besonders eigenwillig ist die geradezu notorische Detailversessenheit der Herausgeberin. Damit führt sie, ohne jede ideologische Versteifung, nahe an kulturelle und andere historisch-politische Schlussfolgerungen heran, womit gleichzeitig dichterische Welten nacherlebbar werden.
In einem gesonderten Abschnitt zu dem Dreigespann nordirischer Dichter – Heaney, Mahon und Longley – wird im »individuellen« Schmerz soziales Leiden an der Diskriminierung gespiegelt. Unruhe, wo sie nicht in die Gesellschaft findet, atomisiert sich im Magen. Nicht herausgebrochene Klassenkämpfe vermögen Herzen zu zerreißen. Die hier auch besprochene jüngere Autorin Anna Burns erhielt 2018 den Bookerpreis für ihr Buch Milchmann, das exakt diesem Thema gewidmet ist.
In Deutschland nicht ganz unbekannt, aber wenig aufgeführt, ist der aus der Dubliner Arbeiterklasse stammende große Dramatiker Sean O’Casey, der hier mit zwei Stücken vertreten ist – das während des Unabhängigkeitskrieges angesiedelte Schatten eines Rebellen sowie die herrliche Komödie Kikeriki, die im befreiten Irland spielt. O’Caseys Mentor George Bernard Shaw ist mit Pygmalion aufgenommen, einer Komödie, in der die Frauen der Arbeiterklasse die eigentlichen Heldinnen sind.
Farrell beweist mit ihren Essays zu Yeats und Beckett, dass selbst Literatur, die als »schwierig« wahrgenommen wird, durchaus zugänglich gemacht werden kann – wieder durch unaufdringliche, aber detailverliebte Lektüre, Staunen vermittelnd, ohne dem Gemälde einen Zettel in den Mund zu legen. So zeigt sie, wie Yeats’ Positionen sich entwickeln und auch wie viel Becketts Warten auf Godot mit unserer Zeit zu tun hat.
Hierzulande heutzutage unbekannt ist der in den 1920er und 30er Jahren viel ins Deutsche übersetzte Liam O’Flaherty, der in diesem Band mit mehreren Romanen besprochen wird. O’Flahertys satirische Schöpfung Lügen über Russland, in dem der Autor die Stimme eines unzuverlässigen Erzählers einnimmt, erhielt diesen deutschen Titel, um zu vermeiden, dass das Spiel mit den stereotypischen anti-sowjetischen Einstellungen dieses Erzählers nicht etwa für bare Münze genommen wird. Doch trotz der großen satirischen Tradition in der irischen Literatur wird der Text heute in Irland zumeist völlig missverstanden und als anti-sowjetisch aufgenommen. Der deutsche Titel sollte also dieser Leserverwirrung entgegenwirken. Ironischerweise wurde das Buch jedoch von den Nazis richtig verstanden und 1935 aus deutschen Bibliotheken sekretiert.
Zu den hier vorgestellten zeitgenössischen Romanautoren gehören neben Burns und Lynch auch die bekannte junge Autorin Sally Rooney (Auf der Suche nach dem marxistischen Roman) sowie Colum McCann (Apeirogon). Rooney machte auf sich neben ihren Romanen auch durch ihren Einsatz für Palästina international aufmerksam, und McCanns ungewöhnlich strukturierter Roman beschäftigt sich ebenfalls mit der Lage im Nahen Osten.
Der Titel dieser neuen Veröffentlichung Widerstand und Befreiung besagt, für welche Traditionslinie der irischen Dichtkunst die Verfasserin die Leser sensibilisieren möchte. Es öffnet ein neues Fenster aus marxistischer Perspektive auf eine Literatur, die in den deutschsprachigen Ländern nicht ausreichend bekannt ist. Der Essayband verdeutlicht, wie Kunst durch die einzigartigen Stimmen der Dichter menschliche Erfahrungen vermittelt, die das Leben der Leser bereichern und ein tieferes Verständnis für verschiedene Kulturen aus Geschichte und Gegenwart schaffen.
Jenny Farrell: Widerstand und Befreiung – Essays über irische Literatur, Verlag Neue Impulse 2024, 236 S., 24,80 €.