»Wer kennt schon Idar-Oberstein, Baumholder, Birkenfeld?«, sinnierte ich vor gut fünf Jahren in Ossietzky (22/2018, »Zeitzeichen«). Ja, wer könnte wohl auf Anhieb diese Städte verorten und wüsste sofort, dass sie idyllisch im oberen Nahetal am Rande des Naturparks Saar-Hunsrück gelegen sind?
Ich stellte damals das gerade erschienene Buch von Axel Redmer vor, dem früheren rheinland-pfälzischen SPD-Landtagsabgeordneten und ehemaligen Landrat des Landkreises Birkenfeld, in dem er beschrieb, wie die 1968er Revolte sich in dieser eher abgeschiedenen Region entwickelt und Fahrt aufgenommen hatte, wie auch hier in jenen Jahren der »Wind of Change« wehte, zwar nicht mit derselben Wucht wie in den großen Zentren der Aufmüpfigkeit und des Aufbegehrens von Berkeley über Paris bis nach Berlin, aber immerhin. Ich arbeitete zu der Zeit als verantwortlicher Lokalredakteur bei einer dortigen Tageszeitung.
Das alles machte mich neugierig auf das im November vergangenen Jahres erschienene neueste Buch Redmers, sein dreizehntes. Der Titel »Es stand in der Zeitung« ist wörtlich zu nehmen, enthält es doch 61 Beiträge zur Regionalgeschichte, die der Autor nach oft monatelanger Recherche zwischen 1983 und 2023 in Büchern und in »stets lesenswerten Artikeln in der Nahe-Zeitung veröffentlichte«, wie es im Vorwort heißt.
Wer nun befürchtet, der Verfasser verliere sich dabei in Berichten über Aufstieg und Fall regionaler Fußballmannschaften oder über Glanz und Gloria von Spießbraten-, Feuerwehr- oder Heimatfesten, der irrt sich gewaltig. Redmer hat sich vier Jahrzehnte lang auf »Spurensuche und Zeitreise durch die Heimat« begeben, wie die Lokalzeitung ihre Buchvorstellung Anfang Dezember treffend überschrieb. Als deren Ergebnis hat er ein vom Inhalt, von der Bildsprache und der Lesbarkeit her mustergültiges (Volks-) Lesebuch der Regionalgeschichte(n) vorgelegt.
Geschichte in Geschichten. Der erste Artikel von Redmer zu einem historischen Thema erschien am 23. März 1983 in der Nahe-Zeitung. Anlass war der 50. Jahrestag der Abstimmung über Hitlers Ermächtigungsgesetz. Der aus Oberstein stammende Abgeordnete Emil Kirschmann hatte im Reichstag mit 93 anderen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das Gesetz abgelehnt. »Damit war ein regionaler Bezug gegeben«, schreibt Redmer heute.
An diesem Beispiel wird das Muster vieler Texte Redmers deutlich und seine Bestrebung, im Regionalen das Überregionale, das Allgemeingültige zu entdecken. Und umgekehrt. »Ob Französische oder 1848er-Revolution, ob Erster Weltkrieg oder Drittes Reich: Immer stellte sich beim näheren Hinsehen heraus, wie sehr ›große‹ Politik und regionale Abläufe miteinander verflochten sind.« Denn: »Bismarcks Sozialistengesetz, mit dem die erstarkende Sozialdemokratie ausgeschaltet werden sollte, traf nicht nur August Bebel in Leipzig, sondern ebenso Karl Weyand in Oberstein.« (Weyand war ein Sozialdemokrat, der wegen seiner politischen Aktivität sogar ins Visier des Polizeipräsidenten von Berlin geriet. K.N.) Und: »Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden nicht nur von Köln nach Auschwitz deportiert, sondern auch von Neubrücke in die östlichen Vernichtungslager geschleppt.« (Neubrücke an der Nahe ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Hoppstädten-Weiersbach, an der Eisenbahntrasse Saarbrücken-Mainz gelegen. Hier bestand 1944 und 1945 ein Außenlager des Konzentrationslagers SS-Sonderlager Hinzert bei Trier an der Mosel, das von 1939 bis Anfang 1945 existierte. K.N.)
Geschichte in Geschichten. Bestürzende Realität hinter der Fassade des Alltags. Ab 823 suchte die Pest regelmäßig auch die Nahe-Hunsrück-Region heim. Da die Ursache der Seuche unbekannt war, lieferten wilde Spekulationen und Verschwörungstheorien scheinbar plausible Erklärungsmuster. 1200 Jahre später war es nicht viel anders. Wir haben es gerade erlebt. Nur: Zu Zeiten von Corona waren die Menschen nicht schutzlos; wer wollte, konnten sich impfen lassen, und der medizinische Standard von heute ist ein anderer.
Damals machten Christen die verhassten Juden als Hauptschuldige aus, neben krankmachendem Regen oder verhängnisvollen Planetenkonstellationen. Redmer schildert, wie Patrizier und Handwerker Jagd auf Juden machten, um sich so ihrer Gläubiger zu entledigen. An Rhein, Mosel, Nahe und im Hunsrück kam es zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, »Judenschläger« hatten Jagdsaison. Erst 1666 ebbten die Pestwellen ab. 1894 wurde dann der Pestbazillus entdeckt.
Regionalgeschichte in Episoden. »Ende Oktober bestiegen Jenny und Karl Marx in Bad Kreuznach eine Postkutsche und gelangten nach einigen Zwischenstopps nach Paris«, heißt es in einer Biografie über den aus Trier stammenden Kapitalismuskritiker. Drei Tage brauchte das frisch vermählte Paar im Herbst 1843 für die Strecke. Die preußische Postlinie Mainz-Metz führte über Birkenfeld, wo der Postverwalter nicht nur frische Pferde, sondern in seinem »Hotel zur Post« auch ein Gabelfrühstück bereithielt.
Reichsweit ein hohes Ansehen genoss Mitte des 19. Jahrhunderts der Turnpädagoge und Historiker Karl Philipp Euler, den heute kaum noch jemand kennt. Er stammt aus dem kleinen Ort Kirchenbollenbach, der inzwischen in die Stadt Idar-Oberstein eingemeindet ist. Euler ist, kurz gesagt, zu verdanken, dass das Geräteturnen für Jungen und Mädchen einen festen Platz im deutschen Schulsport erhielt. Anders als sein Vorbild Turnvater Jahn hielt er Abstand zum Antisemitismus.
Haben Sie schon einmal etwas von der »Gulaschkanone» gehört? Mit Sicherheit. Das mobile Gerät war 1892 von der Firma Rudolf Fissler, auch heute noch ein bekannter Kochgeschirrhersteller aus Idar-Oberstein, zum Patent angemeldet worden und trat 1914 seinen weltweiten Siegeszug durch die Armeen aller Nationen an, ohne dass sich Fabrikanten in den einzelnen Ländern um die Urheberrechte scherten. Ihren Namen erhielt die fahrbare Feldküche durch die Möglichkeit, beim Transport das Ofenrohr umzulegen, welches dann an das Kanonenrohr eines Geschützes erinnerte. Nachzulesen bei Redmer.
Und weiter mit Episoden in Schlagzeilen: Robert Koch bekämpfte den Typhus im Fürstentum Birkenfeld. – Tuberkulose hatte in den Edelsteinschleifereien ein leichtes Spiel, wo die Luft feucht und mit Steinstaub angefüllt war. – Handwerksgesellen verbreiten die sozialdemokratischen Ideen Ferdinand Lassalles nach 1860 in Oberstein. – Präsentation des ersten Kinematografen im Kreis Birkenfeld. – Der »Hurra«-Patriotismus bestimmt das Bild: die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Nahe-Hunsrück-Region.
Im März 2023 wurde im Ersten Fernsehprogramm der ein Jahrzehnt zuvor schon einmal ausgestrahlte Vierteiler »Die Männer der Emden« wiederholt. Der deutsche Marinekreuzer Emden war wegen seiner Seegefechte gerühmt und gefürchtet, wurde aber während einer Mission südwestlich von Java vor den Cocos-Inseln am 9. November 1914 von dem australischen Kreuzer Sydney zerstört. 136 Besatzungsmitglieder kamen ums Leben, 196 überlebten, unter ihnen der Heizer Jakob Geibel aus Berglangenbach, einer Ortsgemeinde im Kreis Birkenfeld. Noch heute leben Nachfahren des 1976 verstorbenen Veteranen im Landkreis. Sie tragen immer noch voller Stolz den Namenszusatz Geibel-Emden, der ihrem Vorfahr 1925 als Privileg zugestanden worden war. Auch dies ein Kapitel in Redmers Buch.
Die Leserinnen und Leser erfahren des weiteren u.a., warum Magda Goebbels der Zeitung »Nahetal-Boten« einen Leserbrief schrieb; wie Kinobesucher von den Nazis indoktriniert wurden; dass Soldaten von der Nahe im Spanischen Bürgerkrieg kämpften; dass der französische Gitarrist und Bandleader Django Rheinhardt in Idar-Oberstein einen Cousin hatte, der in Auschwitz starb; dass es nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der amerikanischen Truppenpräsenz im Landkreis zu Rassenkonflikten unter GIs vor allem am Standort Baumholder kam; dass auch in dieser Region Ende der 1950er Jahre die »Halbstarken« aufbegehrten; dass Willy Brandt an der Nahe ein Dauergast war; und dass Günter Grass im Nahetal gerne Pilze gesammelt hat.
Das Buch wurde von Redmers Tochter Lara gestaltet, die in Amsterdam als Art Direktorin und grafische Gestalterin arbeitet. Sie schreibt dazu, ich zitiere aus der »Nahe-Zeitung«, es sei ihr bei der Gestaltung wichtig gewesen, »die Geschichten so lebendig wie möglich zu machen und Lust am Lesen zu bereiten«.
Das ist ihr perfekt gelungen.
Axel Redmer: »Es stand in der Zeitung«. Im Eigenverlag 2023, 317 S., mit zahlreichen zeitgenössischen Abbildungen, 19,80 €. Das Buch ist im regionalen Buchhandel erhältlich, in Idar-Oberstein z. B. in den Buchhandlungen Schulz-Ebrecht und Carl Schmidt.