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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichte in Geschichten

»Wer kennt schon Idar-Ober­stein, Baum­hol­der, Bir­ken­feld?«, sin­nier­te ich vor gut fünf Jah­ren in Ossietzky (22/​2018, »Zeit­zei­chen«). Ja, wer könn­te wohl auf Anhieb die­se Städ­te ver­or­ten und wüss­te sofort, dass sie idyl­lisch im obe­ren Nahe­tal am Ran­de des Natur­parks Saar-Huns­rück gele­gen sind?

Ich stell­te damals das gera­de erschie­ne­ne Buch von Axel Red­mer vor, dem frü­he­ren rhein­land-pfäl­zi­schen SPD-Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten und ehe­ma­li­gen Land­rat des Land­krei­ses Bir­ken­feld, in dem er beschrieb, wie die 1968er Revol­te sich in die­ser eher abge­schie­de­nen Regi­on ent­wickelt und Fahrt auf­ge­nom­men hat­te, wie auch hier in jenen Jah­ren der »Wind of Chan­ge« weh­te, zwar nicht mit der­sel­ben Wucht wie in den gro­ßen Zen­tren der Auf­müp­fig­keit und des Auf­be­geh­rens von Ber­ke­ley über Paris bis nach Ber­lin, aber immer­hin. Ich arbei­te­te zu der Zeit als ver­ant­wort­li­cher Lokal­re­dak­teur bei einer dor­ti­gen Tageszeitung.

Das alles mach­te mich neu­gie­rig auf das im Novem­ber ver­gan­ge­nen Jah­res erschie­ne­ne neue­ste Buch Red­mers, sein drei­zehn­tes. Der Titel »Es stand in der Zei­tung« ist wört­lich zu neh­men, ent­hält es doch 61 Bei­trä­ge zur Regio­nal­ge­schich­te, die der Autor nach oft mona­te­lan­ger Recher­che zwi­schen 1983 und 2023 in Büchern und in »stets lesens­wer­ten Arti­keln in der Nahe-Zei­tung ver­öf­fent­lich­te«, wie es im Vor­wort heißt.

Wer nun befürch­tet, der Ver­fas­ser ver­lie­re sich dabei in Berich­ten über Auf­stieg und Fall regio­na­ler Fuß­ball­mann­schaf­ten oder über Glanz und Glo­ria von Spieß­bra­ten-, Feu­er­wehr- oder Hei­mat­fe­sten, der irrt sich gewal­tig. Red­mer hat sich vier Jahr­zehn­te lang auf »Spu­ren­su­che und Zeit­rei­se durch die Hei­mat« bege­ben, wie die Lokal­zei­tung ihre Buch­vor­stel­lung Anfang Dezem­ber tref­fend über­schrieb. Als deren Ergeb­nis hat er ein vom Inhalt, von der Bild­spra­che und der Les­bar­keit her muster­gül­ti­ges (Volks-) Lese­buch der Regionalgeschichte(n) vorgelegt.

Geschich­te in Geschich­ten. Der erste Arti­kel von Red­mer zu einem histo­ri­schen The­ma erschien am 23. März 1983 in der Nahe-Zei­tung. Anlass war der 50. Jah­res­tag der Abstim­mung über Hit­lers Ermäch­ti­gungs­ge­setz. Der aus Ober­stein stam­men­de Abge­ord­ne­te Emil Kirsch­mann hat­te im Reichs­tag mit 93 ande­ren Sozi­al­de­mo­kra­tin­nen und Sozi­al­de­mo­kra­ten das Gesetz abge­lehnt. »Damit war ein regio­na­ler Bezug gege­ben«, schreibt Red­mer heute.

An die­sem Bei­spiel wird das Muster vie­ler Tex­te Red­mers deut­lich und sei­ne Bestre­bung, im Regio­na­len das Über­re­gio­na­le, das All­ge­mein­gül­ti­ge zu ent­decken. Und umge­kehrt. »Ob Fran­zö­si­sche oder 1848er-Revo­lu­ti­on, ob Erster Welt­krieg oder Drit­tes Reich: Immer stell­te sich beim nähe­ren Hin­se­hen her­aus, wie sehr ›gro­ße‹ Poli­tik und regio­na­le Abläu­fe mit­ein­an­der ver­floch­ten sind.« Denn: »Bis­marcks Sozia­li­sten­ge­setz, mit dem die erstar­ken­de Sozi­al­de­mo­kra­tie aus­ge­schal­tet wer­den soll­te, traf nicht nur August Bebel in Leip­zig, son­dern eben­so Karl Wey­and in Ober­stein.« (Wey­and war ein Sozi­al­de­mo­krat, der wegen sei­ner poli­ti­schen Akti­vi­tät sogar ins Visier des Poli­zei­prä­si­den­ten von Ber­lin geriet. K.N.) Und: »Jüdi­sche Mit­bür­ge­rin­nen und Mit­bür­ger wur­den nicht nur von Köln nach Ausch­witz depor­tiert, son­dern auch von Neu­brücke in die öst­li­chen Ver­nich­tungs­la­ger geschleppt.« (Neu­brücke an der Nahe ist heu­te ein Orts­teil der Gemein­de Hopp­städ­ten-Wei­ers­bach, an der Eisen­bahn­tras­se Saar­brücken-Mainz gele­gen. Hier bestand 1944 und 1945 ein Außen­la­ger des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers SS-Son­der­la­ger Hin­zert bei Trier an der Mosel, das von 1939 bis Anfang 1945 exi­stier­te. K.N.)

Geschich­te in Geschich­ten. Bestür­zen­de Rea­li­tät hin­ter der Fas­sa­de des All­tags. Ab 823 such­te die Pest regel­mä­ßig auch die Nahe-Huns­rück-Regi­on heim. Da die Ursa­che der Seu­che unbe­kannt war, lie­fer­ten wil­de Spe­ku­la­tio­nen und Ver­schwö­rungs­theo­rien schein­bar plau­si­ble Erklä­rungs­mu­ster. 1200 Jah­re spä­ter war es nicht viel anders. Wir haben es gera­de erlebt. Nur: Zu Zei­ten von Coro­na waren die Men­schen nicht schutz­los; wer woll­te, konn­ten sich imp­fen las­sen, und der medi­zi­ni­sche Stan­dard von heu­te ist ein anderer.

Damals mach­ten Chri­sten die ver­hass­ten Juden als Haupt­schul­di­ge aus, neben krank­ma­chen­dem Regen oder ver­häng­nis­vol­len Pla­ne­ten­kon­stel­la­tio­nen. Red­mer schil­dert, wie Patri­zi­er und Hand­wer­ker Jagd auf Juden mach­ten, um sich so ihrer Gläu­bi­ger zu ent­le­di­gen. An Rhein, Mosel, Nahe und im Huns­rück kam es zu Pogro­men gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung, »Juden­schlä­ger« hat­ten Jagd­sai­son. Erst 1666 ebb­ten die Pest­wel­len ab. 1894 wur­de dann der Pest­ba­zil­lus entdeckt.

Regio­nal­ge­schich­te in Epi­so­den. »Ende Okto­ber bestie­gen Jen­ny und Karl Marx in Bad Kreuz­nach eine Post­kut­sche und gelang­ten nach eini­gen Zwi­schen­stopps nach Paris«, heißt es in einer Bio­gra­fie über den aus Trier stam­men­den Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­ker. Drei Tage brauch­te das frisch ver­mähl­te Paar im Herbst 1843 für die Strecke. Die preu­ßi­sche Post­li­nie Mainz-Metz führ­te über Bir­ken­feld, wo der Post­ver­wal­ter nicht nur fri­sche Pfer­de, son­dern in sei­nem »Hotel zur Post« auch ein Gabel­früh­stück bereithielt.

Reichs­weit ein hohes Anse­hen genoss Mit­te des 19. Jahr­hun­derts der Turn­päd­ago­ge und Histo­ri­ker Karl Phil­ipp Euler, den heu­te kaum noch jemand kennt. Er stammt aus dem klei­nen Ort Kir­chen­bol­len­bach, der inzwi­schen in die Stadt Idar-Ober­stein ein­ge­mein­det ist. Euler ist, kurz gesagt, zu ver­dan­ken, dass das Gerä­te­tur­nen für Jun­gen und Mäd­chen einen festen Platz im deut­schen Schul­sport erhielt. Anders als sein Vor­bild Turn­va­ter Jahn hielt er Abstand zum Antisemitismus.

Haben Sie schon ein­mal etwas von der »Gulasch­ka­no­ne» gehört? Mit Sicher­heit. Das mobi­le Gerät war 1892 von der Fir­ma Rudolf Fiss­ler, auch heu­te noch ein bekann­ter Koch­ge­schirr­her­stel­ler aus Idar-Ober­stein, zum Patent ange­mel­det wor­den und trat 1914 sei­nen welt­wei­ten Sie­ges­zug durch die Armeen aller Natio­nen an, ohne dass sich Fabri­kan­ten in den ein­zel­nen Län­dern um die Urhe­ber­rech­te scher­ten. Ihren Namen erhielt die fahr­ba­re Feld­kü­che durch die Mög­lich­keit, beim Trans­port das Ofen­rohr umzu­le­gen, wel­ches dann an das Kano­nen­rohr eines Geschüt­zes erin­ner­te. Nach­zu­le­sen bei Redmer.

Und wei­ter mit Epi­so­den in Schlag­zei­len: Robert Koch bekämpf­te den Typhus im Für­sten­tum Bir­ken­feld. – Tuber­ku­lo­se hat­te in den Edel­stein­schlei­fe­rei­en ein leich­tes Spiel, wo die Luft feucht und mit Stein­staub ange­füllt war. – Hand­werks­ge­sel­len ver­brei­ten die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Ideen Fer­di­nand Lass­al­les nach 1860 in Ober­stein. – Prä­sen­ta­ti­on des ersten Kine­ma­to­gra­fen im Kreis Bir­ken­feld. – Der »Hurra«-Patriotismus bestimmt das Bild: die Aus­wir­kun­gen des Ersten Welt­kriegs auf die Nahe-Hunsrück-Region.

Im März 2023 wur­de im Ersten Fern­seh­pro­gramm der ein Jahr­zehnt zuvor schon ein­mal aus­ge­strahl­te Vier­tei­ler »Die Män­ner der Emden« wie­der­holt. Der deut­sche Mari­ne­kreu­zer Emden war wegen sei­ner See­ge­fech­te gerühmt und gefürch­tet, wur­de aber wäh­rend einer Mis­si­on süd­west­lich von Java vor den Cocos-Inseln am 9. Novem­ber 1914 von dem austra­li­schen Kreu­zer Syd­ney zer­stört. 136 Besat­zungs­mit­glie­der kamen ums Leben, 196 über­leb­ten, unter ihnen der Hei­zer Jakob Gei­bel aus Berglan­gen­bach, einer Orts­ge­mein­de im Kreis Bir­ken­feld. Noch heu­te leben Nach­fah­ren des 1976 ver­stor­be­nen Vete­ra­nen im Land­kreis. Sie tra­gen immer noch vol­ler Stolz den Namens­zu­satz Gei­bel-Emden, der ihrem Vor­fahr 1925 als Pri­vi­leg zuge­stan­den wor­den war. Auch dies ein Kapi­tel in Red­mers Buch.

Die Lese­rin­nen und Leser erfah­ren des wei­te­ren u.a., war­um Mag­da Goeb­bels der Zei­tung »Nahe­tal-Boten« einen Leser­brief schrieb; wie Kino­be­su­cher von den Nazis indok­tri­niert wur­den; dass Sol­da­ten von der Nahe im Spa­ni­schen Bür­ger­krieg kämpf­ten; dass der fran­zö­si­sche Gitar­rist und Band­lea­der Djan­go Rhein­hardt in Idar-Ober­stein einen Cou­sin hat­te, der in Ausch­witz starb; dass es nach dem Zwei­ten Welt­krieg im Zuge der ame­ri­ka­ni­schen Trup­pen­prä­senz im Land­kreis zu Ras­sen­kon­flik­ten unter GIs vor allem am Stand­ort Baum­hol­der kam; dass auch in die­ser Regi­on Ende der 1950er Jah­re die »Halb­star­ken« auf­be­gehr­ten; dass Wil­ly Brandt an der Nahe ein Dau­er­gast war; und dass Gün­ter Grass im Nahe­tal ger­ne Pil­ze gesam­melt hat.

Das Buch wur­de von Red­mers Toch­ter Lara gestal­tet, die in Amster­dam als Art Direk­to­rin und gra­fi­sche Gestal­te­rin arbei­tet. Sie schreibt dazu, ich zitie­re aus der »Nahe-Zei­tung«, es sei ihr bei der Gestal­tung wich­tig gewe­sen, »die Geschich­ten so leben­dig wie mög­lich zu machen und Lust am Lesen zu bereiten«.

Das ist ihr per­fekt gelungen.

 Axel Red­mer: »Es stand in der Zei­tung«. Im Eigen­ver­lag 2023, 317 S., mit zahl­rei­chen zeit­ge­nös­si­schen Abbil­dun­gen, 19,80 €. Das Buch ist im regio­na­len Buch­han­del erhält­lich, in Idar-Ober­stein z. B. in den Buch­hand­lun­gen Schulz-Ebrecht und Carl Schmidt.