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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Geschichte in der Gegenwart

Judah Leon Magnes ist heu­te fast ver­ges­sen, obwohl (oder weil?) er bis zu sei­nem Tod (1948) zu den pro­mi­nen­te­sten Befür­wor­tern einer bina­tio­na­len Kon­fö­de­ra­ti­on Isra­el-Palä­sti­na gehör­te. Han­nah Are­ndt nann­te ihn »das Gewis­sen des jüdi­schen Vol­kes«. Der Grün­der und Prä­si­dent der Hebräi­schen Uni­ver­si­tät Jeru­sa­lem, gleich­zei­tig Pazi­fist und Zio­nist, for­mu­lier­te Sät­ze, die wir »Rea­li­sten« gewöhn­lich mit einem abwer­ten­den »schö­ner Traum« kom­men­tie­ren: Welch ein Segen für die Mensch­heit wäre es, wenn Juden und palä­sti­nen­si­sche Ara­ber als Freun­de koope­rie­ren wür­den, um aus die­sem Hei­li­gen Land eine blü­hen­de und fried­fer­ti­ge Schweiz zu machen, auf hal­bem Weg zwi­schen Ori­ent und Okzident.

Magnes kämpf­te schon damals auf ver­lo­re­nem Posten. Denn was ab 1948 folg­te, soll­te mitt­ler­wei­le bekannt sein. Israe­li­sche und palä­sti­nen­si­sche Histo­ri­ker wie Zim­mer­mann, Pap­pé und Sand und Kha­di­di haben die Vor­ge­schich­te der gegen­wär­ti­gen Gewal­t­erup­ti­on minu­ti­ös beschrie­ben. Der Histo­ri­ker Enzo Tra­ver­so the­ma­ti­siert in sei­nem neu­en Buch einen ande­ren Aspekt: Offen­sicht­lich reagiert (und agiert) der »glo­ba­le Süden« in der aktu­el­len Kriegs­si­tua­ti­on völ­lig anders als der »Westen«. Tra­ver­so möch­te die­se »west­li­che« Atti­tu­de mit den Werk­zeu­gen des Histo­ri­kers frei­le­gen, wohl wis­send, dass die Quel­len­la­ge nur erste Annä­he­run­gen ermög­licht. Wie­viel Geschich­te steckt also in der Gegenwart?

Tra­ver­so ist – unter ande­rem – Exper­te für faschi­sti­sche Ideologie(n). Sei­ne Ana­ly­se der gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on kommt »natur­ge­mäß« um Deutsch­land nicht her­um. Kein ande­res Land ist Isra­el (und damit auch ganz Palä­sti­na) gegen­über mit einer so gro­ßen untilg­ba­ren Schuld bela­den. Und kei­ne Regie­rung beschwört die unbe­ding­te Soli­da­ri­tät mit Isra­el so inbrün­stig wie die deut­sche. Das Prin­zip »Isra­els Sicher­heit ist unse­re Staats­rä­son« gilt als nicht hin­ter­frag­bar. Aber passt über­haupt die vor­de­mo­kra­ti­sche »Staats­rä­son« zur »Soli­da­ri­tät«? Für Tra­ver­so ist der Begriff »kuri­os und ent­hül­lend«. Histo­risch steht »Staats­rä­son« eben nicht für ethi­sches, son­dern für rein poli­tisch moti­vier­tes Staats­han­deln (die »gran­di cose« Machia­vel­lis, wel­che alle Mit­tel erlau­ben). Die Staats­rä­son legi­ti­mier­te das Mas­sa­ker der Bar­tho­lo­mä­us-Nacht eben­so wie die Krie­ge der USA nach dem 11. Sep­tem­ber. »Wenn Deutsch­land also Isra­el bedin­gungs­los unter­stützt«, so Tra­ver­so, »gibt es impli­zit Zwei­fel an sei­ner eige­nen Poli­tik zu.«

Aus der (rich­ti­gen) Prä­mis­se, dass Isra­el die Staat gewor­de­ne Ant­wort auf den Holo­caust ist, zieht der herr­schen­de Syl­lo­gis­mus die (fal­sche) Fol­ge­rung, dass Isra­el als Staat prin­zi­pi­ell kei­ne Mensch­heits­ver­bre­chen bege­hen kann, son­dern – wenn über­haupt – »nur« indi­vi­du­el­le Exzes­se. Wer dem wider­spricht, kann nur anti­se­mi­ti­sche Obses­sio­nen haben. Es gibt aber noch gra­vie­ren­de­re Kon­se­quen­zen die­ser Logik: Nach dem Völ­ker­mord an den Her­re­ro und Nama, an den euro­päi­schen Juden und den Sin­ti und Roma ist »Deutsch­land wie­der ein­mal Teil eines geno­zi­da­len Mas­sa­kers«. Deutsch­land lie­fert Waf­fen­ele­men­te an Isra­el und kämpft an der inne­ren ideo­lo­gi­schen Front, mit den Mit­teln pathe­ti­scher Poli­ti­ker­auf­trit­ten, Kri­mi­na­li­sie­rung pro-palä­sti­nen­si­scher Paro­len und Sym­bo­len sowie Auf­tritts­ver­bo­ten für pro­mi­nen­te Kri­ti­ker (poli­zei­li­che Ver­hö­re inklu­si­ve). Betrof­fen­heit wird nur gele­gent­lich geäu­ßert und wirkt ange­sichts der unge­heu­ren Gewalt im Gaza­strei­fen affirmativ.

Die trot­zi­gen Treue­schwü­re gegen­über der israe­li­schen Regie­rung fügen der Glaub­wür­dig­keit der deut­schen Poli­tik schwe­re Ver­lu­ste zu. Gleich­zei­tig aber nagt die post­ko­lo­nia­li­sti­sche Kri­tik an der so selbst­si­che­ren deut­schen Erin­ne­rungs­po­li­tik. Die angeb­li­chen »Leh­ren aus unse­rer Geschich­te« sind selbst geschichts­ver­ges­sen. Sie ste­hen in der Kon­ti­nui­tät des­sen, was sie ban­nen wollen.

Auf allen Dis­kurs­ebe­nen wird die alte kolo­nia­le Dicho­to­mie zwi­schen Zivi­li­sa­ti­on und Bar­ba­rei, Pro­gres­si­vi­tät und Zurück­ge­blie­ben­heit, Auf­klä­rung und Obsku­ran­tis­mus reani­miert. Mit selbst­ver­ständ­li­cher Offen­heit in Isra­el (schon Herzl sprach von einem »Vor­po­sten der Kul­tur gegen die Bar­ba­rei«), sub­tex­tu­ell im »Westen«, als Oppo­si­ti­on von Demo­kra­tie und Ter­ro­ris­mus. Selbst die Waf­fen (zu denen wir Citoy­ens ja neu­er­dings stre­ben) ste­hen auf der Sei­te des Fort­schritts (»intel­li­gen­te Bom­ben«). Ein bes­se­res Bei­spiel für die Funk­ti­on der »instru­men­tel­len Ver­nunft« kön­ne es nicht geben, so Traverso.

Die Nach­kom­men der einst anti­se­mi­tisch Aus­ge­schlos­se­nen sind nun­mehr im »jüdisch-christ­li­chen Abend­land« auf­ge­nom­men. Para­doxa­le Kon­se­quenz: Die Rechts­extre­men Euro­pas und der USA demon­strie­ren heu­te gegen den angeb­lich ara­bi­schen Anti­se­mi­tis­mus, den es natür­lich auch gibt, der aber histo­risch ihr eige­nes, ein euro­päi­sches Pro­dukt ist. Wer als Anti­fa­schist nicht gemein­sam mit Rechts­extre­men mar­schie­ren will, erweist sich damit als Anti­se­mit. In der ver­öf­fent­lich­ten Mei­nung Frank­reichs haben sich die »France inso­u­mi­se« und die extre­me Lin­ke mit die­ser – an sich selbst­ver­ständ­li­chen Hal­tung – als »anti­re­pu­bli­ka­nisch«, gar als »anti-France« ent­larvt. Tra­ver­so kon­sta­tiert: »Die älte­sten anti­se­mi­ti­schen Mythen wer­den reak­ti­viert, nun aber gegen die Palästinenser.«

Tra­ver­so inter­es­sie­ren beson­ders die seman­ti­schen Begriffs­ver­schie­bun­gen. So gilt das Mas­sa­ker des 7. Okto­ber fast durch­ge­hend als »schlimm­stes Pogrom der Geschich­te seit dem Holo­caust«, für den Histo­ri­ker eine begriff­li­che »Inver­si­on« der Fak­ten. Schließ­lich steht der im Zaren­reich ent­stan­de­ne Begriff Pogrom für die durch orga­ni­sier­ten »Volks­zorn« aus­ge­üb­te Gewalt einer Mehr­heit gegen die dis­kri­mi­nier­te und gede­mü­tig­te jüdi­sche Min­der­heit. Auch in extre­mer Abstrak­ti­on ist er kaum auf den 7. Okto­ber anwend­bar. Trotz­dem hat sich die Begriffs­ver­än­de­rung durch­ge­setzt, vor allem auf­grund ihres poli­ti­schen Gebrauchs­werts. Den Rest erle­digt die Kom­mu­ni­ka­ti­on. Es ist nicht leicht, außer­halb die­ses gesetz­ten Dis­kur­ses zu den­ken, geschwei­ge denn, zu spre­chen oder gar zu schreiben.

»Pogrom« bet­tet das Mas­sa­ker in die Geschich­te des uralten Anti­se­mi­tis­mus ein, der zum Holo­caust führ­te. Des­sen Grau­en bringt die jahr­zehn­te­lan­ge Kolo­ni­al­herr­schaft und die Gene­se der Gewalt in Isra­el-Palä­sti­na zum Ver­schwin­den. Schon der Ver­such einer Erklä­rung des Mas­sa­kers wird tabui­siert. Jede seriö­se Histo­ri­sie­rung wird unter den Ver­dacht gestellt, sich mit den »Ter­ro­ri­sten« zu iden­ti­fi­zie­ren und sich damit außer­halb der »Zivi­li­sa­ti­on« zu stel­len. Die­se Rea­li­täts­ab­wehr funk­tio­niert, weil sie schon lan­ge kom­mu­ni­ka­tiv ein­ge­übt ist. Außer­halb der Zivi­li­sa­ti­on waren die auf­stän­di­schen Skla­ven im 18. Jahr­hun­dert, der FLN im Alge­ri­en­krieg, die Par­ti­sa­nen im 2. Welt­krieg. Die jüngst hoch deko­rier­ten Wider­stands­kämp­fer des MOI im okku­pier­ten Frank­reich (um nur die­se zu nen­nen) waren für die Deut­schen und die Pétain-Anhän­ger »Ter­ro­ri­sten«. Heu­te ste­hen die deut­schen und fran­zö­si­schen Rechts­extre­men in »unbe­ding­ter Soli­da­ri­tät« zur Netanjahu-Regierung.

Bleibt ein letzt­lich ent­schei­den­der Aspekt: die »Leh­ren aus der Geschich­te«, das Ler­nen für die Zukunft. Bei­de Sei­ten bean­spru­chen die Paro­le »From the river to the sea« für sich, eine viel­deu­ti­ge Paro­le, die von eini­gen euro­päi­schen Staats­or­ga­nen ein­deu­tig straf­ver­folgt wird, selbst wenn ihre Fort­set­zung »… ever­yo­ne must be free« lau­tet. Der ein­gangs zitier­te Judah Leon Magnes wür­de die Paro­le wohl unter­schrei­ben, nicht jedoch die israe­li­schen (Regierungs-)Vertreter, deren Ter­ri­to­ri­ums­be­griff das alte bio­lo­gi­sche »Lebensraum«-Konzept spie­gelt. Für sie gilt wei­ter­hin das von Han­nah Are­ndt so bezeich­ne­te »ever­ything or not­hing, vic­to­ry or death«. Doch was erwar­tet die Israe­lis und die Palä­sti­nen­ser nach dem Krieg? Die Zwei­staa­ten-Lösung scheint ein­fach nicht mehr denk­bar. Sie ist wohl end­gül­tig einen ihrer vie­len Tode gestor­ben. Tra­ver­so gibt zu beden­ken: Ein zio­ni­sti­scher Staat neben einem isla­mi­schen Staat wäre ein histo­ri­scher Rück­schritt. Das Resul­tat könn­te nur eine neue Tra­gö­die sein, die weder die ame­ri­ka­ni­schen Waf­fen noch die west­li­chen Medi­en, weder die deut­sche Staats­rä­son noch das ver­zerr­te Erin­nern an die Sho­ah ver­hin­dern könnten.

Tra­ver­so plä­diert für einen bina­tio­na­len Staat Palä­sti­na. So wie sein Kol­le­ge Mos­he Zim­mer­mann. Wir leben (und ster­ben) weder im Jahr 1648 (in wel­ches der Begriff »Staats­rä­son« eher pas­sen wür­de) noch im Jahr 1919. Die Idee von zwei auf eth­ni­scher und reli­giö­ser Basis gegrün­de­ten Staa­ten im alten »Hei­li­ge Land« weist offen­sicht­lich einen Irr­weg. Ange­sichts der dro­hen­den »Alter­na­ti­ve freie Fahrt für wei­te­re 7. Okto­ber, Afgha­ni­stan, Hiro­shi­ma« (Zim­mer­mann) bleibt als ein­zi­ge Mög­lich­keit eine bina­tio­na­le Kon­fö­de­ra­ti­on. Ein Judah Leon Magnes wuss­te dies schon vor hun­dert Jahren.

Tra­ver­so und Zim­mer­mann ver­wei­sen auf die (par­ti­el­le) Erfolgs­ge­schich­te der Euro­päi­schen Uni­on nach den Krie­gen des 20. Jahr­hun­derts. Sie wis­sen um die Mam­mut­auf­ga­be der direkt Betei­lig­ten (vor allem der direkt Betrof­fe­nen), aber auch der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft. Dabei mag hel­fen, dass Palä­sti­na alle Staa­ten die­ser Erde angeht. Und eine Alter­na­ti­ve gibt es dies­mal nicht.

Enzo Tra­ver­so: Gaza davan­ti alla sto­ria, Bari-Roma 2024 (Gius). Eine deut­sche Über­set­zung erscheint im Herbst.

Mos­he Zim­mer­mann: Nie­mals Frie­den? Isra­el am Schei­de­weg, Ber­lin 2024 (Pro­py­lä­en), 192 S., 16 €.