Judah Leon Magnes ist heute fast vergessen, obwohl (oder weil?) er bis zu seinem Tod (1948) zu den prominentesten Befürwortern einer binationalen Konföderation Israel-Palästina gehörte. Hannah Arendt nannte ihn »das Gewissen des jüdischen Volkes«. Der Gründer und Präsident der Hebräischen Universität Jerusalem, gleichzeitig Pazifist und Zionist, formulierte Sätze, die wir »Realisten« gewöhnlich mit einem abwertenden »schöner Traum« kommentieren: Welch ein Segen für die Menschheit wäre es, wenn Juden und palästinensische Araber als Freunde kooperieren würden, um aus diesem Heiligen Land eine blühende und friedfertige Schweiz zu machen, auf halbem Weg zwischen Orient und Okzident.
Magnes kämpfte schon damals auf verlorenem Posten. Denn was ab 1948 folgte, sollte mittlerweile bekannt sein. Israelische und palästinensische Historiker wie Zimmermann, Pappé und Sand und Khadidi haben die Vorgeschichte der gegenwärtigen Gewalteruption minutiös beschrieben. Der Historiker Enzo Traverso thematisiert in seinem neuen Buch einen anderen Aspekt: Offensichtlich reagiert (und agiert) der »globale Süden« in der aktuellen Kriegssituation völlig anders als der »Westen«. Traverso möchte diese »westliche« Attitude mit den Werkzeugen des Historikers freilegen, wohl wissend, dass die Quellenlage nur erste Annäherungen ermöglicht. Wieviel Geschichte steckt also in der Gegenwart?
Traverso ist – unter anderem – Experte für faschistische Ideologie(n). Seine Analyse der gegenwärtigen Situation kommt »naturgemäß« um Deutschland nicht herum. Kein anderes Land ist Israel (und damit auch ganz Palästina) gegenüber mit einer so großen untilgbaren Schuld beladen. Und keine Regierung beschwört die unbedingte Solidarität mit Israel so inbrünstig wie die deutsche. Das Prinzip »Israels Sicherheit ist unsere Staatsräson« gilt als nicht hinterfragbar. Aber passt überhaupt die vordemokratische »Staatsräson« zur »Solidarität«? Für Traverso ist der Begriff »kurios und enthüllend«. Historisch steht »Staatsräson« eben nicht für ethisches, sondern für rein politisch motiviertes Staatshandeln (die »grandi cose« Machiavellis, welche alle Mittel erlauben). Die Staatsräson legitimierte das Massaker der Bartholomäus-Nacht ebenso wie die Kriege der USA nach dem 11. September. »Wenn Deutschland also Israel bedingungslos unterstützt«, so Traverso, »gibt es implizit Zweifel an seiner eigenen Politik zu.«
Aus der (richtigen) Prämisse, dass Israel die Staat gewordene Antwort auf den Holocaust ist, zieht der herrschende Syllogismus die (falsche) Folgerung, dass Israel als Staat prinzipiell keine Menschheitsverbrechen begehen kann, sondern – wenn überhaupt – »nur« individuelle Exzesse. Wer dem widerspricht, kann nur antisemitische Obsessionen haben. Es gibt aber noch gravierendere Konsequenzen dieser Logik: Nach dem Völkermord an den Herrero und Nama, an den europäischen Juden und den Sinti und Roma ist »Deutschland wieder einmal Teil eines genozidalen Massakers«. Deutschland liefert Waffenelemente an Israel und kämpft an der inneren ideologischen Front, mit den Mitteln pathetischer Politikerauftritten, Kriminalisierung pro-palästinensischer Parolen und Symbolen sowie Auftrittsverboten für prominente Kritiker (polizeiliche Verhöre inklusive). Betroffenheit wird nur gelegentlich geäußert und wirkt angesichts der ungeheuren Gewalt im Gazastreifen affirmativ.
Die trotzigen Treueschwüre gegenüber der israelischen Regierung fügen der Glaubwürdigkeit der deutschen Politik schwere Verluste zu. Gleichzeitig aber nagt die postkolonialistische Kritik an der so selbstsicheren deutschen Erinnerungspolitik. Die angeblichen »Lehren aus unserer Geschichte« sind selbst geschichtsvergessen. Sie stehen in der Kontinuität dessen, was sie bannen wollen.
Auf allen Diskursebenen wird die alte koloniale Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei, Progressivität und Zurückgebliebenheit, Aufklärung und Obskurantismus reanimiert. Mit selbstverständlicher Offenheit in Israel (schon Herzl sprach von einem »Vorposten der Kultur gegen die Barbarei«), subtextuell im »Westen«, als Opposition von Demokratie und Terrorismus. Selbst die Waffen (zu denen wir Citoyens ja neuerdings streben) stehen auf der Seite des Fortschritts (»intelligente Bomben«). Ein besseres Beispiel für die Funktion der »instrumentellen Vernunft« könne es nicht geben, so Traverso.
Die Nachkommen der einst antisemitisch Ausgeschlossenen sind nunmehr im »jüdisch-christlichen Abendland« aufgenommen. Paradoxale Konsequenz: Die Rechtsextremen Europas und der USA demonstrieren heute gegen den angeblich arabischen Antisemitismus, den es natürlich auch gibt, der aber historisch ihr eigenes, ein europäisches Produkt ist. Wer als Antifaschist nicht gemeinsam mit Rechtsextremen marschieren will, erweist sich damit als Antisemit. In der veröffentlichten Meinung Frankreichs haben sich die »France insoumise« und die extreme Linke mit dieser – an sich selbstverständlichen Haltung – als »antirepublikanisch«, gar als »anti-France« entlarvt. Traverso konstatiert: »Die ältesten antisemitischen Mythen werden reaktiviert, nun aber gegen die Palästinenser.«
Traverso interessieren besonders die semantischen Begriffsverschiebungen. So gilt das Massaker des 7. Oktober fast durchgehend als »schlimmstes Pogrom der Geschichte seit dem Holocaust«, für den Historiker eine begriffliche »Inversion« der Fakten. Schließlich steht der im Zarenreich entstandene Begriff Pogrom für die durch organisierten »Volkszorn« ausgeübte Gewalt einer Mehrheit gegen die diskriminierte und gedemütigte jüdische Minderheit. Auch in extremer Abstraktion ist er kaum auf den 7. Oktober anwendbar. Trotzdem hat sich die Begriffsveränderung durchgesetzt, vor allem aufgrund ihres politischen Gebrauchswerts. Den Rest erledigt die Kommunikation. Es ist nicht leicht, außerhalb dieses gesetzten Diskurses zu denken, geschweige denn, zu sprechen oder gar zu schreiben.
»Pogrom« bettet das Massaker in die Geschichte des uralten Antisemitismus ein, der zum Holocaust führte. Dessen Grauen bringt die jahrzehntelange Kolonialherrschaft und die Genese der Gewalt in Israel-Palästina zum Verschwinden. Schon der Versuch einer Erklärung des Massakers wird tabuisiert. Jede seriöse Historisierung wird unter den Verdacht gestellt, sich mit den »Terroristen« zu identifizieren und sich damit außerhalb der »Zivilisation« zu stellen. Diese Realitätsabwehr funktioniert, weil sie schon lange kommunikativ eingeübt ist. Außerhalb der Zivilisation waren die aufständischen Sklaven im 18. Jahrhundert, der FLN im Algerienkrieg, die Partisanen im 2. Weltkrieg. Die jüngst hoch dekorierten Widerstandskämpfer des MOI im okkupierten Frankreich (um nur diese zu nennen) waren für die Deutschen und die Pétain-Anhänger »Terroristen«. Heute stehen die deutschen und französischen Rechtsextremen in »unbedingter Solidarität« zur Netanjahu-Regierung.
Bleibt ein letztlich entscheidender Aspekt: die »Lehren aus der Geschichte«, das Lernen für die Zukunft. Beide Seiten beanspruchen die Parole »From the river to the sea« für sich, eine vieldeutige Parole, die von einigen europäischen Staatsorganen eindeutig strafverfolgt wird, selbst wenn ihre Fortsetzung »… everyone must be free« lautet. Der eingangs zitierte Judah Leon Magnes würde die Parole wohl unterschreiben, nicht jedoch die israelischen (Regierungs-)Vertreter, deren Territoriumsbegriff das alte biologische »Lebensraum«-Konzept spiegelt. Für sie gilt weiterhin das von Hannah Arendt so bezeichnete »everything or nothing, victory or death«. Doch was erwartet die Israelis und die Palästinenser nach dem Krieg? Die Zweistaaten-Lösung scheint einfach nicht mehr denkbar. Sie ist wohl endgültig einen ihrer vielen Tode gestorben. Traverso gibt zu bedenken: Ein zionistischer Staat neben einem islamischen Staat wäre ein historischer Rückschritt. Das Resultat könnte nur eine neue Tragödie sein, die weder die amerikanischen Waffen noch die westlichen Medien, weder die deutsche Staatsräson noch das verzerrte Erinnern an die Shoah verhindern könnten.
Traverso plädiert für einen binationalen Staat Palästina. So wie sein Kollege Moshe Zimmermann. Wir leben (und sterben) weder im Jahr 1648 (in welches der Begriff »Staatsräson« eher passen würde) noch im Jahr 1919. Die Idee von zwei auf ethnischer und religiöser Basis gegründeten Staaten im alten »Heilige Land« weist offensichtlich einen Irrweg. Angesichts der drohenden »Alternative freie Fahrt für weitere 7. Oktober, Afghanistan, Hiroshima« (Zimmermann) bleibt als einzige Möglichkeit eine binationale Konföderation. Ein Judah Leon Magnes wusste dies schon vor hundert Jahren.
Traverso und Zimmermann verweisen auf die (partielle) Erfolgsgeschichte der Europäischen Union nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Sie wissen um die Mammutaufgabe der direkt Beteiligten (vor allem der direkt Betroffenen), aber auch der internationalen Gemeinschaft. Dabei mag helfen, dass Palästina alle Staaten dieser Erde angeht. Und eine Alternative gibt es diesmal nicht.
Enzo Traverso: Gaza davanti alla storia, Bari-Roma 2024 (Gius). Eine deutsche Übersetzung erscheint im Herbst.
Moshe Zimmermann: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg, Berlin 2024 (Propyläen), 192 S., 16 €.