Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Gemälde

»Ja, wirk­lich«, bestä­tig­te die Aspi­ran­tin. »Das ästhe­ti­sche Niveau ist gewach­sen. Selbst in so einem Kräh­win­kel wis­sen die Men­schen kom­pli­zier­te Male­rei zu schät­zen und über­dies ihre Wech­sel­wir­kung zur Umwelt her­aus­zu­stel­len.« In Daniil Granins (1919-2017) berühm­tem Roman »Das Gemäl­de« fal­len die­se für die Kunst­be­ur­tei­lung in sozia­li­sti­schen Län­dern ganz typi­schen Wor­te. Der Roman Granins erschien 1980 in Mos­kau, auf Deutsch ist er nur noch anti­qua­risch greif­bar. Man darf ihn getrost eine der Weg­mar­ken zu »Glas­nost« und »Pere­stroi­ka« nen­nen. In schar­fem Licht wird der Umgang mit Künst­lern in der Sowjet­uni­on dar­ge­stellt und das im Grun­de bru­ta­le System der начальcтво, der zen­tra­li­sti­schen Obrig­keit, der Chefs und Vor­ge­setz­ten, der »Nat­schal­niks«.

Wäh­rend der Lek­tü­re: Ein Anruf von Pfar­rer Mar­tin Wes­kott, der einst die DDR-Bücher von den Müll­kip­pen hol­te und eine unzähl­ba­re Men­ge der geret­te­ten Exem­pla­re in der »Bücher­burg« zu Kat­len­burg auf­be­wahrt. Ihm ist ein Buch des Insel-Ver­la­ges Leip­zig aus dem Jah­re 1984 in die Hän­de gera­ten und auf­ge­fal­len: »Welt der Far­be – Niko­lai Griz­juk«. Und zwar wegen der Wid­mung, die dem Ein­füh­rungs­text vor­an­ge­stellt ist: »Valen­ti­na Griz­juk und der Ver­lag ehren mit die­sem Buch das Andenken an die Schrift­stel­le­rin Chri­sta Johann­sen, die sich für das Bekannt­wer­den der Wer­ke Niko­lai Griz­juks in viel­fäl­ti­ger Wei­se ein­ge­setzt hat.« Da ich mich mit der Bio­gra­fie Chri­sta Johann­sens beschäf­tigt habe, müs­se mich das Buch inter­es­sie­ren, mein­te er. Ich wuss­te weder von der Exi­stenz des Buches noch von der Widmung.

Chri­sta Johann­sen (1914-1981) hat den Maler Niko­lai Dem­ja­no­witsch Griz­juk (1922-1976) auf ihrer Sibi­ri­en­rei­se 1977 nicht mehr ken­nen­ler­nen kön­nen, schloss aber in Nowo­si­birsk Bekannt­schaft und wohl auch Freund­schaft mit des­sen Wit­we Valen­ti­na. Auch ein Besuch Valen­ti­nas, die als Mode­ge­stal­te­rin arbei­te­te, auf der Leip­zi­ger Mes­se 1978, wird in ihrem nicht eben zuver­läs­si­gen auto­bio­gra­fi­schen Buch »Zeit­ver­schie­bun­gen« aus­führ­lich behan­delt. Wie es zu die­sem Kon­takt gekom­men ist, wird weder aus dem Buch noch aus dem Nach­lass Johann­sens (Archiv des Lite­ra­tur­hau­ses Mag­de­burg) klar.

Johann­sen schreibt grund­sätz­lich »Grit­zuk, (Николай Грицюк, aber sie beton­te immer wie­der, dass sie das kyril­li­sche Alpha­bet nicht beherr­sche.) Viel­leicht folg­te sie Hans Magnus Enzens­ber­gers Text »für nico­lai dem­ja­no­witsch grit­zuk«. Die­ser ist, ohne wei­te­re Hin­wei­se oder Quel­len­an­ga­ben, nebst einem Foto Griz­juks auf dem Schutz­um­schlag des Insel-Buches abge­druckt. Wahr­schein­lich bedien­te man sich der von Johann­sen auf­ge­zeich­ne­ten Fas­sung, die sie in einem Brief mit­teil­te. Sie schrieb, sie habe aus tau­sen­den Gemäl­den hun­der­te für das Buch aus­ge­wählt. Als Bei­spiel dafür, wie Griz­juk auf Künst­ler wir­ke, zitiert sie dann Enzens­ber­gers Text. In dem Brief sieht so aus, als ste­he dort: »gez. Enzensberger«.

Der Text ist nicht so leicht zu fin­den: In: Hans Magnus Enzens­ber­ger, Gedich­te 1950-2005, Suhr­kamp Taschen­buch 3823, ist er nicht ent­hal­ten. Und auch im Inter­net wird man nicht gleich fün­dig. Unter https://gallerykarenina.com/nikolaj-grizuk/biography/ (Auf­ruf am 27.6.2024, 9.40 Uhr) fin­det man:

Ate­lier in Nowo­si­birsk Sept 1966

all­ge­gen­wär­ti­ger ort
wo die glüh­bir­ne kei­nen schirm trägt
wo die sehr nack­ten wände
die grau­en wände
in allen zun­gen reden
in den oran­ge­nen zun­gen modiglianis
in den rauch­blau­en zun­gen der alten impressionisten
in den gol­de­nen zun­gen der ikonenwände
und der sibi­ri­sche regen auf dem blechdach
tönt wie der regen in der toskana
der regen von montparnasse
der regen von nor­we­gen und von neuengland
alle brei­ten­gra­de der verwunderung
alle län­gen­gra­de der prophezeiung
lau­fen zusammen
am all­ge­gen­wär­ti­gen ort

Hans Magnus Enzensberger
Für Niko­lai Dem­ja­no­witsch Grizjuk

Johann­sen bausch­te die Bezie­hung zu Valen­ti­na Griz­juk gewal­tig auf. In ihrer Bezie­hung zu Valen­ti­na und eini­gen ande­ren in den »Zeit­ver­schie­bun­gen« erwähn­ten Sibi­ri­ern kul­mi­niert in hym­ni­schen, mit­un­ter den Kitsch strei­fen­den Wor­ten, ihre Bezie­hung zur Sowjet­uni­on. Hat­te sie sich Anfang der 50er Jah­re noch dar­über auf­ge­regt, dass der Sen­der Leip­zig fast nur »sla­wi­sche Musik« brin­ge, hat­te sie in ihrem unsäg­li­chen Buch »An einen Jüng­ling im Fel­de. Drei Brie­fe von Chri­sta Johann­sen (Paul List Ver­lag, Leip­zig, 1943, S. 11 f.) noch von einer »bösen Macht« gespro­chen, die aus dem Osten »anren­ne«, so wur­de Rus­si­sches jetzt zum Maß­stab und Lebens­ziel. Bis hin zum Wunsch, dort zu leben und gar begra­ben zu werden.

Den Bild­ta­feln in »Welt der Far­be«, die einen Über­blick über das Lebens­werk des Künst­lers geben, ist eine aus­führ­li­che Mono­gra­fie von Wita­li Manin vor­an­ge­stellt, ein in Wort­wahl und Inhalt gera­de­zu bei­spiel­haf­ter Text für die acht­zi­ger Jah­re, wenn es um den Umgang mit »schwie­ri­gen« Künst­lern ging. Der Klap­pen­text des Buches ist das Kon­zen­trat der Mono­gra­fie. Das klingt dann so: »Niko­lai Griz­juk gehört sicher zu den eigen­wil­lig­sten Talen­ten der sowje­ti­schen Gegen­warts­kunst. Sein Werk, das in der ›Abge­schie­den­heit‹ Nowo­si­birsks ent­stand, läßt sich nur schwer in ein sti­li­sti­sches Sche­ma pres­sen. (…) Sein künst­le­ri­sches Schaf­fen begann zunächst in den tra­di­tio­nel­len For­men. (…) Doch spä­te­stens Mit­te der sech­zi­ger Jah­re hat sich sein Stil völ­lig in eine Rich­tung ver­än­dert, in der der Aus­drucks­ge­halt von Sym­bol­far­ben und -for­men aus­reicht, um eine durch­aus zeit­be­zo­ge­ne The­ma­tik zu gestal­ten.« So wur­de her­um­ge­ei­ert, wenn sich nicht mehr alles auf den »Sozia­li­sti­schen Rea­lis­mus« bezie­hen und mit ihm erklä­ren ließ. Die Bil­der Griz­juks ver­mö­gen den Betrach­ter noch heu­te in den Bann zu schla­gen. Mir geht es so mit den Aqua­rel­len »Nowo­si­birsk. Abend­lich­ter« und »An den Bahnhöfen«.

Chri­sta Johann­sen ver­spür­te: »Ich stand vor einem der letz­ten Gemäl­de Grit­zuks. Den Opfern des Welt­raums gewid­met (…) Ich hat­te begrif­fen: Tra­gö­die eines Beses­se­nen, der sich in immer tol­le­re For­men hin­ein­ge­stei­gert hat­te, in herr­li­che Far­ben, in Visio­nen, Abstrak­tio­nen. (…) Ein Foto von ihm: der­bes Gesicht, dunk­le Haa­re, dunk­le Augen, fein­ner­vi­ge Hän­de.« (»Zeit­ver­schie­bun­gen«, S. 109 f.)

In dem Insel-Bild­band erscheint das Gemäl­de von 1974 unter dem Titel »Zum Geden­ken an die ver­un­glück­ten Kos­mo­nau­ten« unter der Num­mer 50. Eine zeit­ge­mä­ße Abschwä­chung, denn Opfer durf­te der Kos­mos damals nicht for­dern, die Welt­raum­fahrt war ein wich­ti­ges Pre­sti­ge­ob­jekt. Das Bild wird domi­niert von einer beun­ru­hi­gen­den Blau­kom­po­si­ti­on, in der Mit­te eine auf­stei­gen­de oder abstür­zen­de Welt­raum­kap­sel, die ein Gewirr umschließt. Men­schen? Zer­stör­te Appa­ra­tu­ren? Ver­suchs­tie­re? Das Gan­ze ist eine Dar­stel­lung hoff­nungs­lo­ser Ein­sam­keit und Hilf­lo­sig­keit und ver­setzt den Betrach­ter ganz schnell in die­se Gefüh­le. Abge­schwächt wur­de in »Welt der Far­be« auch die Geschich­te des Todes Griz­juks: »Die unruh­vol­len Gedan­ken des Künst­lers waren stets erfüllt von Sor­ge, zum Zer­rei­ßen gespannt und von quä­len­der Ver­wir­rung erhitzt. Viel­leicht ver­zehr­te sich des­halb sein Leben so rasch, das noch so vie­les vom Talent die­ses Künst­lers ver­spro­chen hat­te.« (Welt der Far­be, S. 42) Bei Chri­sta Johann­sen klingt es so:

»Wie ist Grit­zuk eigent­lich gestorben?«

»Gehirn­blu­tung.«

»Und wei­ter?«

»Er soll sich in gei­sti­ger Umnach­tung in den Fahr­stuhl­schacht gestürzt haben.« (Zeit­ver­schie­bun­gen, S. 114) Es gehört zu den Schwä­chen des Buches, dass Chri­sta Johann­sen, obzwar ihre Bio­gra­fie beschrei­bend und erfin­dend, in die­ser Sze­ne als »Tine (Bro­der­sen)« – das ist eines ihrer Pseud­ony­me – auf­tritt, im Gespräch mit einer »Dora«. Es geht so weiter:

»Und Sie, Tine – Glau­ben Sie an gei­sti­ge Umnachtung?«

»Nein.«

»Son­dern?«

»Schwer zu erklä­ren, es gibt die­se Affi­ni­tät, sie hat von Anfang an bestan­den.« (Zeit­ver­schie­bun­gen, S. 114) Was immer die­ser rät­sel­haf­te Satz bedeu­ten soll, für mich bekommt er Bedeu­tung dadurch, dass Chri­sta Johann­sen wahr­schein­lich eben­falls durch Selbst­mord endete.

Nach ihren Anga­ben war Chri­sta Johann­sen 1979 noch ein­mal in Sibi­ri­en. Im Archiv des Lite­ra­tur­hau­ses Mag­de­burg, das gro­ße Tei­le ihres Nach­las­ses auf­be­wahrt, fin­det sich eine Art Brief an eine Freun­din in Göt­tin­gen. Sie schreibt: »Zum 9. July 1980«, erin­nert an den 90. Geburts­tag ihrer geliebt-gehass­ten »Herd­mut­ter« Eli­se Johann­sen und erklärt, dass auf einem Foto das Grab­mal Griz­juks zu sehen sei, auf einem ande­ren Valen­ti­na Gritz­juk, sie selbst und ein Kame­ra­mann. »Das war im Sep­tem­ber 1979 in Nowo­si­birsk.« Die Fotos lie­gen dem Zet­tel bei. (Die Brie­fe an Lore Häf­ner gehö­ren zum dem Lite­ra­tur­haus Mag­de­burg über­las­se­nen Nach­lass.) Wenn Johann­sen die Fotos wirk­lich erst im Juli 1980 abge­schickt hat, dann war das neun Mona­te vor ihrem Tod. Wie weit die Arbeit mit dem Insel-Ver­lag gedie­hen war, lässt sich nicht erken­nen. Das Buch jeden­falls ist in der Welt.

Chri­sta Johann­sen, Zeit­ver­schie­bun­gen, Uni­on Ver­lag (VOB) Ber­lin, 2. Aufl. 1981.
Welt der Far­be. Niko­lai Griz­juk. Her­aus­ge­ge­ben von Wita­li Manin, Insel-Ver­lag Leip­zig 1984.
Pfar­rer Mar­tin Wes­kott, er ver­tritt die »Gesell­schaft zur För­de­rung von Kul­tur und Lite­ra­tur e. V.« (Burg­berg 10, 37191 Kat­len­burg) hat noch vie­le Exem­pla­re zu ver­ge­ben. Bit­te 4,50 € für Por­to und eine klei­ne Spen­de ein­pla­nen. Bes­ser noch ist ein Besuch in sei­ner »Bücher­burg«, man kann dort wah­re Schät­ze entdecken.