»Ja, wirklich«, bestätigte die Aspirantin. »Das ästhetische Niveau ist gewachsen. Selbst in so einem Krähwinkel wissen die Menschen komplizierte Malerei zu schätzen und überdies ihre Wechselwirkung zur Umwelt herauszustellen.« In Daniil Granins (1919-2017) berühmtem Roman »Das Gemälde« fallen diese für die Kunstbeurteilung in sozialistischen Ländern ganz typischen Worte. Der Roman Granins erschien 1980 in Moskau, auf Deutsch ist er nur noch antiquarisch greifbar. Man darf ihn getrost eine der Wegmarken zu »Glasnost« und »Perestroika« nennen. In scharfem Licht wird der Umgang mit Künstlern in der Sowjetunion dargestellt und das im Grunde brutale System der начальcтво, der zentralistischen Obrigkeit, der Chefs und Vorgesetzten, der »Natschalniks«.
Während der Lektüre: Ein Anruf von Pfarrer Martin Weskott, der einst die DDR-Bücher von den Müllkippen holte und eine unzählbare Menge der geretteten Exemplare in der »Bücherburg« zu Katlenburg aufbewahrt. Ihm ist ein Buch des Insel-Verlages Leipzig aus dem Jahre 1984 in die Hände geraten und aufgefallen: »Welt der Farbe – Nikolai Grizjuk«. Und zwar wegen der Widmung, die dem Einführungstext vorangestellt ist: »Valentina Grizjuk und der Verlag ehren mit diesem Buch das Andenken an die Schriftstellerin Christa Johannsen, die sich für das Bekanntwerden der Werke Nikolai Grizjuks in vielfältiger Weise eingesetzt hat.« Da ich mich mit der Biografie Christa Johannsens beschäftigt habe, müsse mich das Buch interessieren, meinte er. Ich wusste weder von der Existenz des Buches noch von der Widmung.
Christa Johannsen (1914-1981) hat den Maler Nikolai Demjanowitsch Grizjuk (1922-1976) auf ihrer Sibirienreise 1977 nicht mehr kennenlernen können, schloss aber in Nowosibirsk Bekanntschaft und wohl auch Freundschaft mit dessen Witwe Valentina. Auch ein Besuch Valentinas, die als Modegestalterin arbeitete, auf der Leipziger Messe 1978, wird in ihrem nicht eben zuverlässigen autobiografischen Buch »Zeitverschiebungen« ausführlich behandelt. Wie es zu diesem Kontakt gekommen ist, wird weder aus dem Buch noch aus dem Nachlass Johannsens (Archiv des Literaturhauses Magdeburg) klar.
Johannsen schreibt grundsätzlich »Gritzuk, (Николай Грицюк, aber sie betonte immer wieder, dass sie das kyrillische Alphabet nicht beherrsche.) Vielleicht folgte sie Hans Magnus Enzensbergers Text »für nicolai demjanowitsch gritzuk«. Dieser ist, ohne weitere Hinweise oder Quellenangaben, nebst einem Foto Grizjuks auf dem Schutzumschlag des Insel-Buches abgedruckt. Wahrscheinlich bediente man sich der von Johannsen aufgezeichneten Fassung, die sie in einem Brief mitteilte. Sie schrieb, sie habe aus tausenden Gemälden hunderte für das Buch ausgewählt. Als Beispiel dafür, wie Grizjuk auf Künstler wirke, zitiert sie dann Enzensbergers Text. In dem Brief sieht so aus, als stehe dort: »gez. Enzensberger«.
Der Text ist nicht so leicht zu finden: In: Hans Magnus Enzensberger, Gedichte 1950-2005, Suhrkamp Taschenbuch 3823, ist er nicht enthalten. Und auch im Internet wird man nicht gleich fündig. Unter https://gallerykarenina.com/nikolaj-grizuk/biography/ (Aufruf am 27.6.2024, 9.40 Uhr) findet man:
Atelier in Nowosibirsk Sept 1966
allgegenwärtiger ort
wo die glühbirne keinen schirm trägt
wo die sehr nackten wände
die grauen wände
in allen zungen reden
in den orangenen zungen modiglianis
in den rauchblauen zungen der alten impressionisten
in den goldenen zungen der ikonenwände
und der sibirische regen auf dem blechdach
tönt wie der regen in der toskana
der regen von montparnasse
der regen von norwegen und von neuengland
alle breitengrade der verwunderung
alle längengrade der prophezeiung
laufen zusammen
am allgegenwärtigen ort
Hans Magnus Enzensberger
Für Nikolai Demjanowitsch Grizjuk
Johannsen bauschte die Beziehung zu Valentina Grizjuk gewaltig auf. In ihrer Beziehung zu Valentina und einigen anderen in den »Zeitverschiebungen« erwähnten Sibiriern kulminiert in hymnischen, mitunter den Kitsch streifenden Worten, ihre Beziehung zur Sowjetunion. Hatte sie sich Anfang der 50er Jahre noch darüber aufgeregt, dass der Sender Leipzig fast nur »slawische Musik« bringe, hatte sie in ihrem unsäglichen Buch »An einen Jüngling im Felde. Drei Briefe von Christa Johannsen (Paul List Verlag, Leipzig, 1943, S. 11 f.) noch von einer »bösen Macht« gesprochen, die aus dem Osten »anrenne«, so wurde Russisches jetzt zum Maßstab und Lebensziel. Bis hin zum Wunsch, dort zu leben und gar begraben zu werden.
Den Bildtafeln in »Welt der Farbe«, die einen Überblick über das Lebenswerk des Künstlers geben, ist eine ausführliche Monografie von Witali Manin vorangestellt, ein in Wortwahl und Inhalt geradezu beispielhafter Text für die achtziger Jahre, wenn es um den Umgang mit »schwierigen« Künstlern ging. Der Klappentext des Buches ist das Konzentrat der Monografie. Das klingt dann so: »Nikolai Grizjuk gehört sicher zu den eigenwilligsten Talenten der sowjetischen Gegenwartskunst. Sein Werk, das in der ›Abgeschiedenheit‹ Nowosibirsks entstand, läßt sich nur schwer in ein stilistisches Schema pressen. (…) Sein künstlerisches Schaffen begann zunächst in den traditionellen Formen. (…) Doch spätestens Mitte der sechziger Jahre hat sich sein Stil völlig in eine Richtung verändert, in der der Ausdrucksgehalt von Symbolfarben und -formen ausreicht, um eine durchaus zeitbezogene Thematik zu gestalten.« So wurde herumgeeiert, wenn sich nicht mehr alles auf den »Sozialistischen Realismus« beziehen und mit ihm erklären ließ. Die Bilder Grizjuks vermögen den Betrachter noch heute in den Bann zu schlagen. Mir geht es so mit den Aquarellen »Nowosibirsk. Abendlichter« und »An den Bahnhöfen«.
Christa Johannsen verspürte: »Ich stand vor einem der letzten Gemälde Gritzuks. Den Opfern des Weltraums gewidmet (…) Ich hatte begriffen: Tragödie eines Besessenen, der sich in immer tollere Formen hineingesteigert hatte, in herrliche Farben, in Visionen, Abstraktionen. (…) Ein Foto von ihm: derbes Gesicht, dunkle Haare, dunkle Augen, feinnervige Hände.« (»Zeitverschiebungen«, S. 109 f.)
In dem Insel-Bildband erscheint das Gemälde von 1974 unter dem Titel »Zum Gedenken an die verunglückten Kosmonauten« unter der Nummer 50. Eine zeitgemäße Abschwächung, denn Opfer durfte der Kosmos damals nicht fordern, die Weltraumfahrt war ein wichtiges Prestigeobjekt. Das Bild wird dominiert von einer beunruhigenden Blaukomposition, in der Mitte eine aufsteigende oder abstürzende Weltraumkapsel, die ein Gewirr umschließt. Menschen? Zerstörte Apparaturen? Versuchstiere? Das Ganze ist eine Darstellung hoffnungsloser Einsamkeit und Hilflosigkeit und versetzt den Betrachter ganz schnell in diese Gefühle. Abgeschwächt wurde in »Welt der Farbe« auch die Geschichte des Todes Grizjuks: »Die unruhvollen Gedanken des Künstlers waren stets erfüllt von Sorge, zum Zerreißen gespannt und von quälender Verwirrung erhitzt. Vielleicht verzehrte sich deshalb sein Leben so rasch, das noch so vieles vom Talent dieses Künstlers versprochen hatte.« (Welt der Farbe, S. 42) Bei Christa Johannsen klingt es so:
»Wie ist Gritzuk eigentlich gestorben?«
»Gehirnblutung.«
»Und weiter?«
»Er soll sich in geistiger Umnachtung in den Fahrstuhlschacht gestürzt haben.« (Zeitverschiebungen, S. 114) Es gehört zu den Schwächen des Buches, dass Christa Johannsen, obzwar ihre Biografie beschreibend und erfindend, in dieser Szene als »Tine (Brodersen)« – das ist eines ihrer Pseudonyme – auftritt, im Gespräch mit einer »Dora«. Es geht so weiter:
»Und Sie, Tine – Glauben Sie an geistige Umnachtung?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Schwer zu erklären, es gibt diese Affinität, sie hat von Anfang an bestanden.« (Zeitverschiebungen, S. 114) Was immer dieser rätselhafte Satz bedeuten soll, für mich bekommt er Bedeutung dadurch, dass Christa Johannsen wahrscheinlich ebenfalls durch Selbstmord endete.
Nach ihren Angaben war Christa Johannsen 1979 noch einmal in Sibirien. Im Archiv des Literaturhauses Magdeburg, das große Teile ihres Nachlasses aufbewahrt, findet sich eine Art Brief an eine Freundin in Göttingen. Sie schreibt: »Zum 9. July 1980«, erinnert an den 90. Geburtstag ihrer geliebt-gehassten »Herdmutter« Elise Johannsen und erklärt, dass auf einem Foto das Grabmal Grizjuks zu sehen sei, auf einem anderen Valentina Gritzjuk, sie selbst und ein Kameramann. »Das war im September 1979 in Nowosibirsk.« Die Fotos liegen dem Zettel bei. (Die Briefe an Lore Häfner gehören zum dem Literaturhaus Magdeburg überlassenen Nachlass.) Wenn Johannsen die Fotos wirklich erst im Juli 1980 abgeschickt hat, dann war das neun Monate vor ihrem Tod. Wie weit die Arbeit mit dem Insel-Verlag gediehen war, lässt sich nicht erkennen. Das Buch jedenfalls ist in der Welt.
Christa Johannsen, Zeitverschiebungen, Union Verlag (VOB) Berlin, 2. Aufl. 1981.
Welt der Farbe. Nikolai Grizjuk. Herausgegeben von Witali Manin, Insel-Verlag Leipzig 1984.
Pfarrer Martin Weskott, er vertritt die »Gesellschaft zur Förderung von Kultur und Literatur e. V.« (Burgberg 10, 37191 Katlenburg) hat noch viele Exemplare zu vergeben. Bitte 4,50 € für Porto und eine kleine Spende einplanen. Besser noch ist ein Besuch in seiner »Bücherburg«, man kann dort wahre Schätze entdecken.