Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Gekürzte Menschenwürde

Ein Vater muss sich vor Gericht ver­ant­wor­ten, weil er sei­nen Sohn immer wie­der ver­prü­gelt hat. Er recht­fer­tigt die dra­sti­sche Prü­gel­stra­fe damit, dass er sei­ne Erzie­hungs­zie­le nur auf die­sem Weg durch­set­zen kann. Der Rich­ter weist in sei­nem Urteil auf Para­graph 1631 BGB hin, der sol­che Metho­den für unzu­läs­sig erklärt. Jedoch erlaubt er dem Mann, sein Kind im Sin­ne der Erzie­hungs­zie­le wei­ter­hin zu prü­geln, da die Stra­fe im Prin­zip erfor­der­lich und geeig­net sei; aller­dings dür­fe er kei­nen Stock ver­wen­den und müs­se den nack­ten Hin­tern aus­spa­ren, denn dies wür­de gegen die grund­ge­setz­lich garan­tier­te Wür­de des Men­schen verstoßen.

Die­sen Rich­ter gibt es sicher nur in mei­ner bösen Phan­ta­sie. Aller­dings ver­fuh­ren die Rich­te­rIn­nen des Ersten Senats des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (BverfG) unter sei­nem neu­en Vor­sit­zen­den Ste­phan Har­barth bei ihrem Urteil hin­sicht­lich der Ver­fas­sungs­mä­ßig­keit der Kür­zung von Hartz-IV-Lei­stun­gen genau nach dem skiz­zier­ten Muster. Wer­fen wir einen Blick in die Pres­se­mit­tei­lung des BverfG vom 5. Novem­ber – einen Blick, der nicht nur auf die juri­sti­sche Kor­rekt­heit ach­tet, also nicht durch eine défor­ma­ti­on pro­fes­sio­nel­le getrübt ist.

Zual­ler­erst fällt auf, zu wel­chen juri­stisch ver­klau­su­lier­ten Spitz­fin­dig­kei­ten das BverfG grei­fen muss, um einen logi­schen Bruch zu über­brücken. Der ent­steht dadurch, dass das BverfG in einem frü­he­ren Urteil vom 9. Febru­ar 2010 einen Anspruch auf Lei­stun­gen zur »Sicher­stel­lung eines unab­weis­ba­ren […] Bedarfs« ver­langt hat­te, der »zur Gewähr­lei­stung eines men­schen­wür­di­gen Exi­stenz­mi­ni­mums […] zwin­gend zu decken ist«. Das Sozi­al­staats­prin­zip siche­re »jedem Hil­fe­be­dürf­ti­gen die­je­ni­gen mate­ri­el­len Vor­aus­set­zun­gen zu, die für sei­ne phy­si­sche Exi­stenz und für ein Min­dest­maß an Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Leben uner­läss­lich sind«. Für den Ersten Senat gilt das heu­te anschei­nend nicht mehr.

Dass alle Sozi­al­ver­bän­de und Sach­kun­di­gen, die mit den Lebens­be­din­gun­gen von Men­schen in Armut ver­traut sind, auch die gel­ten­den Hartz-IV-Sät­ze für voll­kom­men unzu­rei­chend hal­ten, dass also die stän­dig zitier­ten Grund­ge­setz-Arti­kel 1 (Wür­de des Men­schen) und 20 (Sozi­al­staats­prin­zip) miss­ach­tet wer­den, spielt im Urteil kei­ne Rol­le. Um wie­viel Pro­zent darf das Exi­stenz­mi­ni­mum gekürzt wer­den, das gera­de noch ein Leben in Wür­de sichern soll? Ist das Ergeb­nis dann eine gekürz­te Men­schen­wür­de? Wie schon beim Hartz-IV-Urteil 2010 ver­säumt das BverfG, die Exe­ku­ti­ve dar­auf hin­zu­wei­sen, dass Grund­rech­te nicht nur bei Jubi­lä­en zu fei­ern, son­dern auch zu ver­wirk­li­chen sind. Der sozia­le Rechts­staat ver­langt zwin­gend einen gerech­ten sozia­len Aus­gleich und eine fak­ti­sche Gel­tung der Grund­rech­te für alle. Wie groß darf die Kluft zwi­schen Arm und Reich wer­den? Kön­nen alle Men­schen die Grund­rech­te in Anspruch neh­men? Die nach­weis­ba­re syste­ma­ti­sche Benach­tei­li­gung auf­grund der sozia­len Lage beweist das Gegenteil.

Die Kür­zung des Exi­stenz­mi­ni­mums ist ein Unding. Das Gericht muss zur Legi­ti­ma­ti­on des Wider­spruchs zu ver­ba­len Ver­bie­gun­gen und Tricks grei­fen. Gera­de­zu infla­to­risch ver­wen­det der Senat spe­ku­la­ti­ve, vage For­mu­lie­run­gen wie »kann sich der Gesetz­ge­ber auf plau­si­ble Annah­men stüt­zen, kann davon aus­ge­hen, genügt die Annah­me, gesetz­ge­be­ri­sche Annah­me, hin­rei­chend trag­fä­hig, erscheint jeden­falls plau­si­bel«. Das soll ein höchst­rich­ter­li­ches Urteil zur Siche­rung der Men­schen­wür­de sein? Man meint, das Unbe­ha­gen zu spü­ren, eine Pra­xis legi­ti­mie­ren zu müs­sen, die nicht dem Grund­ge­setz ent­spricht. Man fragt sich, was der fol­gen­de Kern­satz zur Recht­fer­ti­gung der Sank­tio­nen besagt: »Doch genügt die Annah­me, die Sank­ti­on tra­ge zur Errei­chung ihrer Zie­le bei, den ver­fas­sungs­recht­li­chen Anfor­de­run­gen, weil der Gesetz­ge­ber jeden­falls von einer abschrecken­den ex ante-Wir­kung die­ser Lei­stungs­min­de­rung aus­ge­hen kann.«

Einen ähn­li­chen ver­ba­len Eier­tanz muss das Gericht voll­füh­ren, wenn es die will­kür­li­che Fest­set­zung der Höhe der Sank­tio­nen zu begrün­den ver­sucht: Eine Kür­zung des Regel­be­darfs um 30 Pro­zent ist mit der Men­schen­wür­de zu ver­ein­ba­ren, um 60 Pro­zent aber nicht? Das klingt nach: »Darf es etwas mehr sein?« Der Vor­sit­zen­de Har­barth ver­brämt die frag­wür­di­ge Kür­zung des Exi­stenz­mi­ni­mums poe­tisch: »Der Gesetz­ge­ber darf also von Men­schen ver­lan­gen, dass sie die Brücke in die Erwerbs­ar­beit beschrei­ten. Wenn er das im Bereich des grund­recht­lich geschütz­ten Exi­stenz­mi­ni­mums sank­tio­niert, darf er aber nicht zu weit gehen« (BNN, 6.11.2019). Das ist die höchst­rich­ter­li­che Recht­fer­ti­gung des frü­he­ren Vize­chefs der Uni­ons­frak­ti­on Ste­phan Har­barth, des­sen Par­tei für die Hartz-IV-Geset­ze gestimmt hat. Auch Kat­rin Göring-Eckardt begrüßt das Urteil; sie war als Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de der Grü­nen in der Regie­rungs­zeit von SPD und Grü­nen dar­an betei­ligt, die umstrit­te­nen Hartz-IV-Refor­men gegen inner­par­tei­li­che Wider­stän­de durchzusetzen.

Damit sind wir beim Kern des Pro­blems ange­langt: Ein unge­rech­tes und in der Kon­se­quenz men­schen­feind­li­ches System von Geset­zen auf der Grund­la­ge der neo­li­be­ra­len Agen­da 2010 der Koali­ti­on aus SPD und Grü­nen kann kei­ne Gerech­tig­keit und kei­ne Wür­de her­vor­brin­gen. Nicht nur die Sank­tio­nen, das gan­ze Gesetz hat repres­si­ven Cha­rak­ter. Es weist den Men­schen die Schuld an ihrer Lage zu. Hartz IV ist beschlos­sen wor­den, um Men­schen in Jobs im Nied­rig­lohn­sek­tor zwin­gen zu kön­nen und um die Arbeits­lo­sen­hil­fe auf Sozi­al­hil­fe­ni­veau zu drücken. Eine sol­che Poli­tik erzeugt nicht Inte­gra­ti­on, son­dern Aus­schluss; sie kommt nicht ohne Stra­fen aus. Und auch nicht ohne Erzeu­gung von Res­sen­ti­ments und Vor­ur­tei­len gegen die Opfer des neo­li­be­ra­len Umbaus. Die­sem Men­schen­bild – wir erin­nern uns an die unsäg­li­che Het­ze von Poli­ti­kern, an »Para­si­ten« und »Min­der­lei­ster« und »spät­rö­mi­sche Deka­denz« – wird durch das Urteil nichts ent­ge­gen­ge­setzt. Im Gegen­teil. Aber Sank­tio­nen sind genau­so »geeig­net, erfor­der­lich und ver­hält­nis­mä­ßig« (Kri­te­ri­en aus dem Urteil) wie die Prü­gel­stra­fe in dem von mir kon­stru­ier­ten Ein­gangs­bei­spiel. Eine Poli­tik und eine Recht­spre­chung, die der Men­schen­wür­de und den wirt­schaft­lich-sozia­len Men­schen­rech­ten gerecht wer­den will, muss nicht nur die Sank­tio­nen, son­dern muss Hartz IV abschaffen.