Ein Vater muss sich vor Gericht verantworten, weil er seinen Sohn immer wieder verprügelt hat. Er rechtfertigt die drastische Prügelstrafe damit, dass er seine Erziehungsziele nur auf diesem Weg durchsetzen kann. Der Richter weist in seinem Urteil auf Paragraph 1631 BGB hin, der solche Methoden für unzulässig erklärt. Jedoch erlaubt er dem Mann, sein Kind im Sinne der Erziehungsziele weiterhin zu prügeln, da die Strafe im Prinzip erforderlich und geeignet sei; allerdings dürfe er keinen Stock verwenden und müsse den nackten Hintern aussparen, denn dies würde gegen die grundgesetzlich garantierte Würde des Menschen verstoßen.
Diesen Richter gibt es sicher nur in meiner bösen Phantasie. Allerdings verfuhren die RichterInnen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) unter seinem neuen Vorsitzenden Stephan Harbarth bei ihrem Urteil hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Kürzung von Hartz-IV-Leistungen genau nach dem skizzierten Muster. Werfen wir einen Blick in die Pressemitteilung des BverfG vom 5. November – einen Blick, der nicht nur auf die juristische Korrektheit achtet, also nicht durch eine déformation professionelle getrübt ist.
Zuallererst fällt auf, zu welchen juristisch verklausulierten Spitzfindigkeiten das BverfG greifen muss, um einen logischen Bruch zu überbrücken. Der entsteht dadurch, dass das BverfG in einem früheren Urteil vom 9. Februar 2010 einen Anspruch auf Leistungen zur »Sicherstellung eines unabweisbaren […] Bedarfs« verlangt hatte, der »zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums […] zwingend zu decken ist«. Das Sozialstaatsprinzip sichere »jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind«. Für den Ersten Senat gilt das heute anscheinend nicht mehr.
Dass alle Sozialverbände und Sachkundigen, die mit den Lebensbedingungen von Menschen in Armut vertraut sind, auch die geltenden Hartz-IV-Sätze für vollkommen unzureichend halten, dass also die ständig zitierten Grundgesetz-Artikel 1 (Würde des Menschen) und 20 (Sozialstaatsprinzip) missachtet werden, spielt im Urteil keine Rolle. Um wieviel Prozent darf das Existenzminimum gekürzt werden, das gerade noch ein Leben in Würde sichern soll? Ist das Ergebnis dann eine gekürzte Menschenwürde? Wie schon beim Hartz-IV-Urteil 2010 versäumt das BverfG, die Exekutive darauf hinzuweisen, dass Grundrechte nicht nur bei Jubiläen zu feiern, sondern auch zu verwirklichen sind. Der soziale Rechtsstaat verlangt zwingend einen gerechten sozialen Ausgleich und eine faktische Geltung der Grundrechte für alle. Wie groß darf die Kluft zwischen Arm und Reich werden? Können alle Menschen die Grundrechte in Anspruch nehmen? Die nachweisbare systematische Benachteiligung aufgrund der sozialen Lage beweist das Gegenteil.
Die Kürzung des Existenzminimums ist ein Unding. Das Gericht muss zur Legitimation des Widerspruchs zu verbalen Verbiegungen und Tricks greifen. Geradezu inflatorisch verwendet der Senat spekulative, vage Formulierungen wie »kann sich der Gesetzgeber auf plausible Annahmen stützen, kann davon ausgehen, genügt die Annahme, gesetzgeberische Annahme, hinreichend tragfähig, erscheint jedenfalls plausibel«. Das soll ein höchstrichterliches Urteil zur Sicherung der Menschenwürde sein? Man meint, das Unbehagen zu spüren, eine Praxis legitimieren zu müssen, die nicht dem Grundgesetz entspricht. Man fragt sich, was der folgende Kernsatz zur Rechtfertigung der Sanktionen besagt: »Doch genügt die Annahme, die Sanktion trage zur Erreichung ihrer Ziele bei, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil der Gesetzgeber jedenfalls von einer abschreckenden ex ante-Wirkung dieser Leistungsminderung ausgehen kann.«
Einen ähnlichen verbalen Eiertanz muss das Gericht vollführen, wenn es die willkürliche Festsetzung der Höhe der Sanktionen zu begründen versucht: Eine Kürzung des Regelbedarfs um 30 Prozent ist mit der Menschenwürde zu vereinbaren, um 60 Prozent aber nicht? Das klingt nach: »Darf es etwas mehr sein?« Der Vorsitzende Harbarth verbrämt die fragwürdige Kürzung des Existenzminimums poetisch: »Der Gesetzgeber darf also von Menschen verlangen, dass sie die Brücke in die Erwerbsarbeit beschreiten. Wenn er das im Bereich des grundrechtlich geschützten Existenzminimums sanktioniert, darf er aber nicht zu weit gehen« (BNN, 6.11.2019). Das ist die höchstrichterliche Rechtfertigung des früheren Vizechefs der Unionsfraktion Stephan Harbarth, dessen Partei für die Hartz-IV-Gesetze gestimmt hat. Auch Katrin Göring-Eckardt begrüßt das Urteil; sie war als Fraktionsvorsitzende der Grünen in der Regierungszeit von SPD und Grünen daran beteiligt, die umstrittenen Hartz-IV-Reformen gegen innerparteiliche Widerstände durchzusetzen.
Damit sind wir beim Kern des Problems angelangt: Ein ungerechtes und in der Konsequenz menschenfeindliches System von Gesetzen auf der Grundlage der neoliberalen Agenda 2010 der Koalition aus SPD und Grünen kann keine Gerechtigkeit und keine Würde hervorbringen. Nicht nur die Sanktionen, das ganze Gesetz hat repressiven Charakter. Es weist den Menschen die Schuld an ihrer Lage zu. Hartz IV ist beschlossen worden, um Menschen in Jobs im Niedriglohnsektor zwingen zu können und um die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau zu drücken. Eine solche Politik erzeugt nicht Integration, sondern Ausschluss; sie kommt nicht ohne Strafen aus. Und auch nicht ohne Erzeugung von Ressentiments und Vorurteilen gegen die Opfer des neoliberalen Umbaus. Diesem Menschenbild – wir erinnern uns an die unsägliche Hetze von Politikern, an »Parasiten« und »Minderleister« und »spätrömische Dekadenz« – wird durch das Urteil nichts entgegengesetzt. Im Gegenteil. Aber Sanktionen sind genauso »geeignet, erforderlich und verhältnismäßig« (Kriterien aus dem Urteil) wie die Prügelstrafe in dem von mir konstruierten Eingangsbeispiel. Eine Politik und eine Rechtsprechung, die der Menschenwürde und den wirtschaftlich-sozialen Menschenrechten gerecht werden will, muss nicht nur die Sanktionen, sondern muss Hartz IV abschaffen.