Der Historiker Eric Hobsbawm hat im Vorwort zu seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts »die Zerstörung der Vergangenheit« beklagt. Er schreibt, heute wüchsen die meisten jungen Menschen »in einer Art permanenter Gegenwart auf«, »der soziale Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft«, funktioniere nicht mehr. Die Diagnose ist zutreffend und alarmierend. Denn diejenigen, die die Vergangenheit nicht kennen, sind dazu verurteilt, sie zu wiederholen, hat der Philosoph George Santayana gewarnt.
Der Einsicht folgt auch der Schriftsteller Wolfgang Bittner. Unermüdlich und kenntnisreich schreibt er mit inzwischen mehr als 60 Büchern gegen die Geschichtsvergessenheit unserer Zeit an. Jetzt hat er mit »Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen« einen großartigen Roman veröffentlicht, ein »deutsches Lebensbild«, das einen vielfach verdrängten und vernebelten Abschnitt der jüngeren deutschen Vergangenheit erkennbar macht. Auf 351 fesselnd geschriebenen Seiten lässt er uns während des Zweiten Weltkrieges hautnah in den Kosmos einer schlesischen Großfamilie eintauchen, die in der Stadt Gleiwitz lebt, die 1945 in Gliwice umbenannt wird und die seitdem eine polnische Stadt ist. Bittner ist dort 1941 geboren worden, und in der von ihm komponierten Geschichte, die er aus der Perspektive eines kleinen namenlosen Jungen erzählt, mischt sich Fiktion mit eigenem Erleben.
Entlang des Schicksals der Romanfamilie nimmt Bittner uns mit auf eine Reise durch die Zeit und die Folgen des Krieges. Die beginnt im Sommer 1942 mit Siegesmeldungen aus dem Volksempfänger über den Vormarsch der deutschen Truppen auf Stalingrad. Sie endet Anfang der 1950er Jahre mit dem beginnenden Wirtschaftswunder in Westdeutschland. Gekonnt verwebt Bittner das familiäre Geschehen mit den realen historischen Ereignissen, die er mit solide recherchierten historischen Fakten detailreich und farbig in Erinnerung ruft. Für die Gleiwitzer Großfamilie scheint der Krieg anfangs weit weg zu sein. Der Vater schickt Feldpostbriefe aus vielen Ecken Europas. Ahnungsvoll unkt die Großmutter schon früh: »Gnade uns Gott, wenn wir den Krieg verlieren sollten.« Doch es dauert lange, die Städte im Westen Deutschlands liegen längst in Schutt und Asche, bis ein erster Alarm die Familie in den Keller flüchten lässt, der Schaden in Gleiwitz aber bleibt gering. Und derweil die deutschen Soldaten im Rundfunk und in der Wochenschau nach wie vor siegreich gegen England fahren, beginnen die Menschen schließlich auch in Gleiwitz zu ahnen, »dass etwas Unvorhergesehenes, etwas Grauenhaftes, das sie bislang woanders geortet hatten, auf sie zukommen könnte«.
Wir Leser verfolgen das Geschehen mit den Augen und Ohren des namenlosen kleinen Jungen, der im Roman »das Kind«, später »der Junge« genannt wird. Das Kind begreift nicht alles, nimmt aber den Stimmungswandel wahr. Die Hölle des Krieges bricht in Gleiwitz schließlich los, als die Fronttruppe der Roten Armee auf ihrem Weg nach Westen über die Stadt hinwegzieht. Die Familie will in Gleiwitz bleiben, ein von der Großmutter in dunkler Nacht vergrabener Schmalztopf hilft beim Überleben. Doch wenige Monate nach dem Ende des Krieges ist Schluss. Die Siegerstaaten sprechen Schlesien dem polnischen Staat zu. Für Mutter und Sohn beginnt eine Schreckensfahrt auf dem Dach eines Zuges in Richtung Westen, eine Odyssee, die durch Ruinenlandschaften und via Potsdam in die Uckermark führt, bis die beiden schließlich halb verhungert die Kleinstadt an der Nordseeküste erreichen, wo der in den letzten Kriegstagen in Belgien verwundete Vater im Lazarett liegt. Es folgen entbehrungsreiche Jahre in einem tristen norddeutschen Barackenlager, wo die kluge Mutter bald einen »Salon« einrichtet – einen geistig belebenden Jour fix in ihrer Barackenküche, wo Nachbarn und Bekannte munter über die Zeitläufe und über Politik debattieren. Die Mutter, die zunächst unpolitisch dargestellt wird, lebt auf und profitiert wie auch der Leser, der wie nebenbei viel über die westdeutsche Restauration erfährt und darüber, wie nach dem Krieg die ersten Weichen für das gestellt worden sind, was Bittner in seinem letzten Sachbuch »sie Eroberung Europas durch die USA« (Westend Verlag 2017) genannt hat.
Auch der Junge beginnt, sich für Politik zu interessieren. Ihn empört, dass Politiker wie Adenauer und Strauß die atomare Bewaffnung der Bundeswehr betreiben, doch er findet in der norddeutschen Kleinstadt keine Gleichgesinnten. Die Menschen, die dort vor dem Krieg zu 70 Prozent für die Nazis votiert hatten, scheinen nun nur daran interessiert zu sein, »sich gemütlich einzurichten, ungestört ihren Geschäften nachzugehen«. Dann, so lesen wir, streift er abends »durch die menschenleeren Straßen mit ihren niedrigen Klinkerhäuschen und »fühlt […] sich heimatlos«. Trotz der Wehmut über den Verlust der »geliebten Heimat« endet der Roman hoffnungsvoll. Mit der Hilfe eines cleveren Schwarzmarktschiebers erlangt die Familie endlich wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen. Und auch dem Jungen wird es leicht ums Herz, wenn er nach den Schularbeiten durch die grünen Felder in den duftenden, blühenden Wald laufen kann. »Und alles, alles ist gut«, heißt der Schlusssatz.
Bittner hat einen brandaktuellen historischen Roman über Krieg und Vertreibung geschrieben. Wer in ihn eintaucht, erhält eine Lesetherapie gegen politischen Gedächtnisverlust, gegen Friedensvergessenheit, und er speichert geistiges Gegengift gegen den aktuell wieder regierungsoffiziell propagierten Wahn, dass wir mit unseren russischen Nachbarn nicht anders als aus einer Position der militärischen Stärke reden könnten.
Wolfgang Bittner: »Die Heimat, der Krieg und der Goldene Wesen. Ein deutsches Lebensbild«, Zeitgeist-Verlag, 351 Seiten, 21,90 €