Michael Maar ist Germanist und wie der Vater Paul Maar, der Erfinder des Sams, Schriftsteller. Darüber hinaus und vor allem hat er sich als Literaturkritiker einen Namen gemacht, gleichermaßen geschätzt und geehrt als Literatenflüsterer wie als Literatensezierer.
Nachdem er in seinem viel gerühmten Mammutwerk Die Schlange im Wolfspelz (2020) in 50 literarischen Porträts der Frage nachgespürt hatte, was das Geheimnis eines guten Stils ist und wie aus Sprache Literatur wird – Maars Resümee aus 40 Lesejahren –, hat er im Dezember 2023 eine Sammlung von zwölf Essays vorgelegt, in deren Mittelpunkt Schriftsteller mit ihren Neurosen, Eifersüchteleien, Kleinlichkeitskrämereien, Egomanien und Obsessionen stehen. Virginia Woolf hat es als einzige Frau in die Riege männlicher Kollegen geschafft, zu der Andersen, Proust, Kafka, Musil, Thomas Mann, Nabokov, di Lampedusa, Borges, Chesterton, Powell und Canetti gehören.
Das Buch ist eine Neuauflage, die Originalausgabe erschien vor 17 Jahren im Berenberg Verlag. Während Maar aber in anderen Sammlungen mit Literaturessays – zum Beispiel in Die Feuer- und die Wasserprobe – schon einmal veröffentlichte Texte vor einer erneuten Edition einer zweiten Inspektion unterwarf, scheint das hier unterblieben zu sein, was auch daran zu sehen ist, dass noch die alte Rechtschreibung verwendet wird (es sei denn, es ist gewollt). Auch ist Maar in Einzelveröffentlichungen beispielsweise zu Thomas Mann, H.C. Andersen, Marcel Proust oder Vladimir Nabokov diesen nähergekommen als in den Essays aus dem Jahr 2007.
Diese Anmerkung schmälert jedoch weder Lesevergnügen noch Erkenntnisgewinn. Ich schlage das Buch auf, lande bei Thomas Mann und einem kleinen Ratespiel: »Wer ist die erste Figur, die in Thomas Manns erstem Roman angerufen wird?«, fragt Maar (er benutzt »anrufen« hier im Sinne einer Fürbitte). Ich greife zu den Buddenbrooks, erster Teil, erstes Kapitel:
»Was ist das. – Was – ist das…«
»Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!«
Konsul Buddenbrook sitzt am Fenster, die achtjährige Enkelin auf den Knien, die sich mit dem soeben, Anno 1835, neu erschienenen Katechismus abmüht – während der Großvater scherzhaft fluchend dem Teufel die Ehre erweist. Habe ich mir diese Sätze bisher »einverleibt«, ohne mir groß Gedanken darüber zu machen, so geht Maar gleich in die Vollen:
»Dies ist der Anfang, gewissermaßen das Eingangsportal des Mannschen Doms und gewaltigen Lebenswerks.« Denn: »Derselbe Düwel, der in ihm lehnt, verabschiedet den Leser nach sechzig Jahren.« Und zwar in Manns letzter Erzählung, in der ein böser schwarzer Schwan sein Unwesen treibt – in der Märchenwelt, zum Beispiel bei Andersen, ein Symbol für das Okkulte und den Teufel.
Übersehen lässt sich das »Teuflische« in Manns Werk nicht. Maar liest Doktor Faustus als Roman einer Teufelsverschreibung, in dem der Komponist Adrian Leverkühn die vom Teufel gewährte künstlerische Inspiration gegen seine Seele eintauscht. Im Zauberberg mit seinen spiritistischen Sitzungen und gespenstischen Erscheinungen, mit seinem stark hinkenden Concierge – der Hinkefuß ist im Aberglauben charakteristisch für den Teufel – und der Kapitel-Überschrift »Satana«, der Abschnitt »Walpurgisnacht«: Die Dämonie findet erst in der Hölle des Schlachtfeldes des Ersten Weltkriegs ihr Ende. »Hans Castorp taumelt über das Schlachtfeld, da schlägt vor ihm eine Granate ›wie der Teufel selbsttief in den Grund‹.« Maar kommentiert: »Der Teufel selbst, personifiziert, schießt in die Hölle, die sich zum Ende des Riesenromans offen auftut.« Und später heißt es: »Dieser Autor wusste seine Worte zu wägen, und die Teufels-Einflechtung unterläuft ihm gewiss nicht unbedacht« (Zitat in neuer Rechtschreibung).
Der Beispiele wären noch so manche. Doch lesen Sie, wie Maar erklärt, warum Mann sein Leben lang Teufel, Dämonie und Zauberei in seine Geschichten verwebt. An meiner Textpassage zu Thomas Mann wird das Strickmuster deutlich, nach dem Maar vorgeht. »Jedes große Werk der Literatur birgt Rätsel und Geheimnisse, und nicht selten findet sich der Schlüssel zur Lösung genau an jenem Punkt, an dem sich Leben und Schreiben ihrer Schöpfer berühren«, heißt es im Klappentext des Buches. Rätsel, Geheimnisse: Warum brechen bei Kafka die Leoparden in den Tempel ein, warum saufen sie die Opferkrüge leer? Was hatte Proust gegen Neujahrsgeschenke? Warum stand Virginia Woolf unter dem Einfluss zweier Monde? Warum trug Nabokovs Lolita Jungentracht? Warum darf Andersens Kleine Seejungfrau, die unten herum anders ist als die Menschenfrauen, nicht ins Gemach des Prinzen? Warum zählte Musil beim Spaziergang durch Wien die Fenster der Häuser, deren eruierte Zahl er daheim in sein Tagebuch eintrug? Wie gewaltig müssen Canettis Egomanie und »Futterneid« gewesen sein, dass er seinen Konkurrenten Heimito von Doderer, der für den Literaturnobelpreis nominiert war, in Stockholm politisch anschwärzte, den Preis aber einige Jahre später selbst gern entgegennahm?
Maar gibt Antworten und vermittelt Einsichten, auf eine leichte, gut lesbare Art. Und lässt keinen Zweifel daran, dass die von ihm beschriebenen Autoren, trotz aller »Macken«, Werke geschaffen haben, große erzählerische Monolithen, für die es nur eine Benennung geben kann: Weltliteratur.
Michael Maar: Leoparden im Tempel – Portraits großer Schriftsteller, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 140 S., 22 €. Siehe auch Ossietzky 11/2021: Die Schlange im Wolfspelz – Das Geheimnis großer Literatur; Ossietzky 21/2022: Fliegenpapier – Vermischte Notizen.