Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Geist und Geister

Micha­el Maar ist Ger­ma­nist und wie der Vater Paul Maar, der Erfin­der des Sams, Schrift­stel­ler. Dar­über hin­aus und vor allem hat er sich als Lite­ra­tur­kri­ti­ker einen Namen gemacht, glei­cher­ma­ßen geschätzt und geehrt als Lite­ra­ten­flü­ste­rer wie als Literatensezierer.

Nach­dem er in sei­nem viel gerühm­ten Mam­mut­werk Die Schlan­ge im Wolfs­pelz (2020) in 50 lite­ra­ri­schen Por­träts der Fra­ge nach­ge­spürt hat­te, was das Geheim­nis eines guten Stils ist und wie aus Spra­che Lite­ra­tur wird – Maars Resü­mee aus 40 Lese­jah­ren –, hat er im Dezem­ber 2023 eine Samm­lung von zwölf Essays vor­ge­legt, in deren Mit­tel­punkt Schrift­stel­ler mit ihren Neu­ro­sen, Eifer­süch­te­lei­en, Klein­lich­keits­krä­me­rei­en, Ego­ma­nien und Obses­sio­nen ste­hen. Vir­gi­nia Woolf hat es als ein­zi­ge Frau in die Rie­ge männ­li­cher Kol­le­gen geschafft, zu der Ander­sen, Proust, Kaf­ka, Musil, Tho­mas Mann, Nabo­kov, di Lam­pe­du­sa, Bor­ges, Che­ster­ton, Powell und Canet­ti gehören.

Das Buch ist eine Neu­auf­la­ge, die Ori­gi­nal­aus­ga­be erschien vor 17 Jah­ren im Beren­berg Ver­lag. Wäh­rend Maar aber in ande­ren Samm­lun­gen mit Lite­ra­tur­es­says – zum Bei­spiel in Die Feu­er- und die Was­ser­pro­be – schon ein­mal ver­öf­fent­lich­te Tex­te vor einer erneu­ten Edi­ti­on einer zwei­ten Inspek­ti­on unter­warf, scheint das hier unter­blie­ben zu sein, was auch dar­an zu sehen ist, dass noch die alte Recht­schrei­bung ver­wen­det wird (es sei denn, es ist gewollt). Auch ist Maar in Ein­zel­ver­öf­fent­li­chun­gen bei­spiels­wei­se zu Tho­mas Mann, H.C. Ander­sen, Mar­cel Proust oder Vla­di­mir Nabo­kov die­sen näher­ge­kom­men als in den Essays aus dem Jahr 2007.

Die­se Anmer­kung schmä­lert jedoch weder Lese­ver­gnü­gen noch Erkennt­nis­ge­winn. Ich schla­ge das Buch auf, lan­de bei Tho­mas Mann und einem klei­nen Rate­spiel: »Wer ist die erste Figur, die in Tho­mas Manns erstem Roman ange­ru­fen wird?«, fragt Maar (er benutzt »anru­fen« hier im Sin­ne einer Für­bit­te). Ich grei­fe zu den Bud­den­brooks, erster Teil, erstes Kapitel:

»Was ist das. – Was – ist das…«

»Je, den Düwel ook, c’est la que­sti­on, ma très chè­re demoiselle!«

Kon­sul Bud­den­brook sitzt am Fen­ster, die acht­jäh­ri­ge Enke­lin auf den Knien, die sich mit dem soeben, Anno 1835, neu erschie­ne­nen Kate­chis­mus abmüht – wäh­rend der Groß­va­ter scherz­haft flu­chend dem Teu­fel die Ehre erweist. Habe ich mir die­se Sät­ze bis­her »ein­ver­leibt«, ohne mir groß Gedan­ken dar­über zu machen, so geht Maar gleich in die Vollen:

»Dies ist der Anfang, gewis­ser­ma­ßen das Ein­gangs­por­tal des Mann­schen Doms und gewal­ti­gen Lebens­werks.« Denn: »Der­sel­be Düwel, der in ihm lehnt, ver­ab­schie­det den Leser nach sech­zig Jah­ren.« Und zwar in Manns letz­ter Erzäh­lung, in der ein böser schwar­zer Schwan sein Unwe­sen treibt – in der Mär­chen­welt, zum Bei­spiel bei Ander­sen, ein Sym­bol für das Okkul­te und den Teufel.

Über­se­hen lässt sich das »Teuf­li­sche« in Manns Werk nicht. Maar liest Dok­tor Faustus als Roman einer Teu­fels­ver­schrei­bung, in dem der Kom­po­nist Adri­an Lever­kühn die vom Teu­fel gewähr­te künst­le­ri­sche Inspi­ra­ti­on gegen sei­ne See­le ein­tauscht. Im Zau­ber­berg mit sei­nen spi­ri­ti­sti­schen Sit­zun­gen und gespen­sti­schen Erschei­nun­gen, mit sei­nem stark hin­ken­den Con­cier­ge – der Hin­ke­fuß ist im Aber­glau­ben cha­rak­te­ri­stisch für den Teu­fel – und der Kapi­tel-Über­schrift »Sata­na«, der Abschnitt »Wal­pur­gis­nacht«: Die Dämo­nie fin­det erst in der Höl­le des Schlacht­fel­des des Ersten Welt­kriegs ihr Ende. »Hans Cas­torp tau­melt über das Schlacht­feld, da schlägt vor ihm eine Gra­na­te ›wie der Teu­fel selbst­tief in den Grund‹.« Maar kom­men­tiert: »Der Teu­fel selbst, per­so­ni­fi­ziert, schießt in die Höl­le, die sich zum Ende des Rie­sen­ro­mans offen auf­tut.« Und spä­ter heißt es: »Die­ser Autor wuss­te sei­ne Wor­te zu wägen, und die Teu­fels-Ein­flech­tung unter­läuft ihm gewiss nicht unbe­dacht« (Zitat in neu­er Rechtschreibung).

Der Bei­spie­le wären noch so man­che. Doch lesen Sie, wie Maar erklärt, war­um Mann sein Leben lang Teu­fel, Dämo­nie und Zau­be­rei in sei­ne Geschich­ten ver­webt. An mei­ner Text­pas­sa­ge zu Tho­mas Mann wird das Strick­mu­ster deut­lich, nach dem Maar vor­geht. »Jedes gro­ße Werk der Lite­ra­tur birgt Rät­sel und Geheim­nis­se, und nicht sel­ten fin­det sich der Schlüs­sel zur Lösung genau an jenem Punkt, an dem sich Leben und Schrei­ben ihrer Schöp­fer berüh­ren«, heißt es im Klap­pen­text des Buches. Rät­sel, Geheim­nis­se: War­um bre­chen bei Kaf­ka die Leo­par­den in den Tem­pel ein, war­um sau­fen sie die Opfer­krü­ge leer? Was hat­te Proust gegen Neu­jahrs­ge­schen­ke? War­um stand Vir­gi­nia Woolf unter dem Ein­fluss zwei­er Mon­de? War­um trug Nabo­kovs Loli­ta Jun­gen­tracht? War­um darf Ander­sens Klei­ne See­jung­frau, die unten her­um anders ist als die Men­schen­frau­en, nicht ins Gemach des Prin­zen? War­um zähl­te Musil beim Spa­zier­gang durch Wien die Fen­ster der Häu­ser, deren eru­ier­te Zahl er daheim in sein Tage­buch ein­trug? Wie gewal­tig müs­sen Canet­tis Ego­ma­nie und »Fut­ter­neid« gewe­sen sein, dass er sei­nen Kon­kur­ren­ten Hei­mi­to von Dode­rer, der für den Lite­ra­tur­no­bel­preis nomi­niert war, in Stock­holm poli­tisch anschwärz­te, den Preis aber eini­ge Jah­re spä­ter selbst gern entgegennahm?

Maar gibt Ant­wor­ten und ver­mit­telt Ein­sich­ten, auf eine leich­te, gut les­ba­re Art. Und lässt kei­nen Zwei­fel dar­an, dass die von ihm beschrie­be­nen Autoren, trotz aller »Macken«, Wer­ke geschaf­fen haben, gro­ße erzäh­le­ri­sche Mono­li­then, für die es nur eine Benen­nung geben kann: Weltliteratur.

 Micha­el Maar: Leo­par­den im Tem­pel – Por­traits gro­ßer Schrift­stel­ler, Rowohlt Ver­lag, Ham­burg 2023, 140 S., 22 €. Sie­he auch Ossietzky 11/​2021: Die Schlan­ge im Wolfs­pelz – Das Geheim­nis gro­ßer Lite­ra­tur; Ossietzky 21/​2022: Flie­gen­pa­pier – Ver­misch­te Notizen.