Die fast 400 Seiten des Buches Geheimsache Italien lesen sich wie ein erschütternder Polit-Krimi, führen die Leser aber vor allem in eine weithin noch unbekannte, hochkomplexe italienische Realität und liegen nun – in der klaren Übersetzung von Klaudia Ruschkowski – endlich auch auf Deutsch vor. Diese Ausgabe ist den drei Opfern der Familie Mäder aus Deutschland gewidmet, die zu den 85 Toten des Attentats von Bologna im August 1980 gehören. Horst Mäder, Vater und Ehemann, ist Nebenkläger in einem noch immer nicht beendeten letzten Strafprozess, bei dem der allein als materieller Täter des Bombenanschlags lebenslänglich verurteilte Faschist Paolo Bellini noch einmal Berufung eingelegt hat.
Drei Schicksalsjahre der Republik 1978-1980, von der Ermordung Aldo Moros in Rom bis zum Massaker am Bahnhof von Bologna, hat der langjährige Mailänder Untersuchungsrichter Giuliano Turone einer schonungslosen Untersuchung unterzogen. Was sich in diesem gewalttätigen Triennium Ende der 70er in Italien abgespielt hat, war gewissermaßen der Kulminationspunkt eines vielschichtigen Versuchs, der die Republik schon seit ihrem Beginn (1946) begleitet hat, reaktionärer in- und ausländischer Mächte, die begonnene antifaschistisch-demokratische Entwicklung des Landes zurückzuschrauben. Eine Strategie, die sich auf andere, subtilere Weise bis heute fortsetzt.
Der mörderische Mailänder Bombenanschlag an der Piazza Fontana im Dezember 1969 gilt im Rückblick als erster Höhepunkt einer ganz neuen terroristischen Qualität politischer Gewaltanwendung, die »das Zusammenwirken antagonistischer rechter und linker bewaffneter Gruppen, der Geheimdienste und der Mafia« zu der die Demokratie »erstickenden Decke einer ›bleiernen Zeit‹ werden ließen« (so Peter Kammerer in der klug einleitenden »Gebrauchsanweisung« des Buches.)
Mafia-Organisationen und subversiv-kriminelle Milieus sowie die rückwärtsgewandte katholische Kirche hatten die in Jalta erfolgte Teilung der Welt nach Kriegsende in antagonistische Einflusssphären zumindest indirekt unterstützt mit ihren diversen Methoden zur Zurückdrängung der stärksten Kommunistischen Partei des Westens. Dennoch avancierte die KPI dank der langfristig angelegten Strategien Palmiro Togliattis und Enrico Berlinguers zum Hauptträger der demokratischen Erneuerung vor allem im Norden der langgestreckten Halbinsel. Und eben dem sollte ein Ende gesetzt werden.
Der mit der schwarzen Materie des Buches seit langem vertraute Corrado Stajano weist in seinem Vorwort denn auch auf die Existenz von zwei Italien hin, nicht im geographischen Sinne, sondern in einem gesellschaftlichen: Er benennt zum einen ein »krankes, ja häufig dem Tode nahes Land« mit seinen vielen zweifelhaften Politikern und Ministern, Abenteurern, Banditen, Provokateuren und Terroristen, Geheimagenten, Mafiabossen, korrupten Richtern und untreuen Generälen, die die sogenannte »Strategie der Spannung« verfolgt haben, und demgegenüber ein anderes Land der »Diener der Republik«, für die er – stellvertretend für viele – Tina Anselmi nennt, Partisanin, linkskatholische Politikerin und zuletzt tapfere Vorsitzende des Untersuchungsausschusses zur Loge Propaganda Due (P2), deren verbrecherische Nachkriegsgeschichte das Gerüst der vorliegenden Untersuchung bildet.
Die schon im 19. Jahrhundert gegründete Geheimloge agierte über lange Jahre verdeckt und weitgehend unerkannt, bis 962 Namen ihrer Mitglieder aus allen führenden Bereichen des Establishments im März 1981 aufgedeckt wurden. (Etwa weitere 1500 Personen blieben bis heute unbekannt und wahrscheinlich auch weiterhin geheim vernetzt). Erschütterndes kam zutage: Regierende Minister und deren Beamte, hochrangige Generäle aus Militär und Polizei, Parlamentarier, diverse Politiker, Diplomaten, Verleger, Journalisten, Unternehmer, Universitätsprofessoren, Banker, selbst Richter und Staatsanwälte agierten als Mitglieder eines subversiven Systems zur Schaffung eines »anderen Staates«, für dessen erstrebte »Wiedergeburt« es einen umfangreichen, äußerst ausgefeilten Plan gab. Dessen erste Zielsetzung war, politische Parteien, Presse und Gewerkschaften zu vereinnahmen mittels ökonomisch-finanzieller Steuerung: »Die Verfügbarkeit von 30 bis 40 Milliarden (Lire) müsste genügen, um ausgewählten Männern guten Glaubens zu gestatten, die zur Kontrolle notwendigen Schlüsselpositionen zu besetzen.« Der Kontrolle aller Medien in direkter Verbindung zur Politik diente auch die geplante Zentralisierung der Lokalpresse und ihre Koordinierung mit dem aufkommenden Kabel-TV. Das Staatsfernsehen RAI sollte aufgelöst werden, damit bekam die Privatisierung freie Bahn, und bald darauf kontrollierte Licio Gelli bereits die große Mailänder Verlagsgruppe Rizzoli und 1977 auch den Corriere Della Sera, die wichtigste Tageszeitung Italiens.
Doch nicht nur die: »Mit der P2 hatten wir Italien in der Hand. Mit uns waren das Heer, die Finanzaufsicht und die Polizei, alle angeführt von Mitgliedern der P2«, rühmte sich Gelli in einem Interview. Der auch international weit vernetzte Großmeister der Loge, ein früher Faschist, Kämpfer für Franco und Verbindungsoffizier der Schwarzhemden zu den Nazis, stand nach dem Kriege der CIA nahe. Als Finanzberater der Botschaft Argentiniens in Rom war Gelli auch an der Vorbereitung des Militärputsches in Buenos Aires beteiligt, wo Generäle des dortigen Ablegers der P2 im März 1976 ihre blutige Diktatur errichteten. Gelli garantierte eine ungestörte Zusammenarbeit der beiden Nationen. Seine mutmaßlichen geheimdienstlichen Aktivitäten deuten darauf hin, dass er auch eine wichtige Rolle im Gladio-Projekt gespielt hat. Das war jene seit den späten 40er Jahren bestehende zivile Geheimarmee, von der CIA und der Nato aufgebaut, die im Falle eines kommunistischen Putsches oder auch nur einer Regierungsbeteiligung in Italien oder anderswo in Europa zu Guerillamethoden greifen sollte.
Als der 1981 amtierende Ministerpräsident Arnoldo Forlani beschloss, die Namen der Logenmitglieder zu veröffentlichen, führte der damit entfachte Skandal zum Sturz seiner Regierung. Ihm folgte im Juni 1981 die erste nicht mehr von einem Christdemokraten geführte Regierung von Giovanni Spadolini. Mit dem Verbot der Loge kamen nach und nach große Teile ihrer kriminellen Zielsetzungen ans Tageslicht, Operationen von internationaler und nationaler Tragweite hin zu einem »schleichenden Staatsstreich«, nach dem »Plan zur demokratischen Erneuerung« (im Italienischen hieß er »rinascita« = Wiedergeburt). Der war nicht von ungefähr 1975/76 entstanden, als die KPI den höchsten Stimmenzuwachs ihrer Geschichte erreicht hatte und die DC-Regierung unter Aldo Moro sich zögernd einer Zusammenarbeit mit ihr näherte, was nicht nur die Nato nicht zulassen wollte. Es führte auch dazu, dass die Sozialisten unter dem Antikommunisten Bettino Craxi die Regierung Moro 1976 zu Fall brachten, und der bewährte Giulio Andreotti drei folgende Regierungen übernahm, bevor dann 1983 Craxi selbst an die Macht kam, der zunächst den wirtschaftlichen Aufstieg des P2-Mitglieds (Nr.1816) Silvio Berlusconi beförderte.
Die zahlreichen Finanzaffären jener Jahre haben die italienische Wirtschaft nachhaltig beeinträchtigt. Die Beziehungen zwischen Giulio Andreotti, der Cosa Nostra und den P2-Bankiers und Finanzspekulanten Michele Sindona, Roberto Calvi, Umberto Ortolani mit ihren dunklen Verbindungen in die USA, die diversen betrügerischen Bankrotte, Entführungen, Morde und Selbstmorde haben jedoch das System der P2 keineswegs zerschlagen, ebenso wenig wie das erste Gerichtsverfahren gegen die Loge P2, das 1983 mit einem allgemeinen Freispruch endete. Weitere Nachfolgeverfahren zogen sich bis weit in die 1990er Jahre hin, aber fast alle Vergehen wurden letztlich für verjährt erklärt. Der 1984 vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuss von Tina Anselmi vorgelegte Abschlussbericht zur P2-Loge wurde erst zwei Jahre später von einer Mehrheit angenommen und verpflichtete die Regierung zu einigen bindenden Aufgaben, wie die, »sicherzustellen, dass die absolute Achtung des Grundsatzes der Transparenz des demokratischen Systems und seiner Grundordnung gewährleistet ist, um die demokratische Kontrolle der Bürger über das Vorgehen der Institutionen möglich und konkret werden zu lassen«. Doch wer die Geschichte kennt, weiß, auch das wurde von folgenden Regierungen ignoriert.
All dies hatte tiefe Blutspuren hinterlassen, die noch weit über die 80er Jahre hinausführten, hin zu weiteren Mafia-Anschlägen und den mörderischen Attentaten auf die Palermitaner Ermittlungsrichter Borsellino und Falcone 1992/93. Sie gingen der Machtübernahme von Berlusconi (1994) direkt voraus. Die folgende Berlusconi-Herrschaft, die das ganze Land dann tatsächlich nachhaltig im Sinne der P2 veränderte, legte auch die Grundlage für die aktuelle Meloni-Regierung, auf deren Programm tiefe Eingriffe in die Verfassung stehen: für die Schaffung eines Präsidialsystems, bzw. für eine Stärkung der Stellung des »Premiers« und für eine »differenzierte Autonomie« der Regionen, die eine Spaltung der Nation begünstigen wird.
Giuliano Turones Bericht des Schreckens endet zwar vor dieser spätfaschistischen Aktualität – zeigt aber deutliche Bezüge zu ihr auf. Während der letzten Regierung Berlusconi äußerte sich Licio Gelli auf einer Pressekonferenz noch am 31.10.2008 stolz über seinen Plan zur Erneuerung der Republik: »… alle haben sich davon inspirieren lassen: Der Einzige, der ihn ausführen kann, ist der jetzige Ministerpräsident Silvio Berlusconi.«
Rückblickend hält Turone fest: »Italien war damals bestenfalls eine Halbdemokratie. Die verborgene Macht, wie sie sich in der Geheimloge P2 manifestierte, hatte alles Interesse daran, ein Gefühl der Bedrohung, Angst vor politischer Instabilität, den Schrecken eines gewalttätigen Ausnahmezustandes zu verbreiten.«
Giuliano Turone, GEHEIMSACHE ITALIEN. Politik – Geld – Verbrechen, S. Marix Verlag im Verlagshaus Römerweg, Wiesbaden 2023, 416 S., 29,90 €.