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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gegenwärtige Vergangenheit  

Der 23. Juli 1963 war ein Mon­tag. Schau­platz: Ein gro­ßer Saal im Gebäu­de der ein­sti­gen kai­ser­li­chen Mili­tär­ärzt­li­chen Aka­de­mie an der Inva­li­den­stra­ße, kurz vor dem gleich­na­mi­gen Grenz­über­gang nach Ber­lin (West) und der Sand­krug­brücke. An die­sem Tag vor sech­zig Jah­ren wur­de Dr. Hans Maria Glob­ke, nach einem zwei­wö­chi­gen Pro­zess vor dem Ober­sten Gericht der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik, in Abwe­sen­heit zu einer lebens­lan­gen Zucht­haus­stra­fe ver­ur­teilt. Die Rich­ter sahen sei­ne Betei­li­gung an der anti­se­mi­ti­schen Gesetz­ge­bung des Nazi-Regimes als Mini­ste­ri­al­rat im Reichs­in­nen­mi­ni­ste­ri­um und Kom­men­ta­tor der Nürn­ber­ger Ras­se­ge­set­ze als erwie­sen an. Am 15. Okto­ber 1963 trat der Ver­ur­teil­te als Kanz­ler­amts­chef der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zurück. Als er in die Schweiz über­sie­deln woll­te, ver­wei­ger­te das zustän­di­ge Regio­nal­par­la­ment die Aufenthaltsgenehmigung.

Das Gericht lei­te­te sei­ne Zustän­dig­keit – wie auch das Jeru­sa­le­mer Bezirks­ge­richt im Eich­mann-Pro­zess – aus dem Welt­rechts­prin­zip ab, das eine welt­wei­te Zustän­dig­keit aller Gerich­te für nach dem Völ­ker­straf­recht straf­ba­re Hand­lun­gen vor­sieht. Außer­dem habe Glob­ke die ange­klag­ten Taten als deut­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger über­wie­gend an sei­nem dama­li­gen Dienst­ort Ber­lin began­gen. Rechts­grund­la­ge für den Pro­zess waren die inter­na­tio­nal aner­kann­ten Nürn­ber­ger Prin­zi­pi­en, Art. 6 des Lon­do­ner Sta­tuts für das Inter­na­tio­na­le Mili­tär­tri­bu­nal vom 8. August 1945 in Ver­bin­dung mit Arti­kel 5 Abs. 1 der Ver­fas­sung der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik von 1949 sowie §§ 211, 47 des in der DDR damals noch fort­gel­ten­den Reichs­straf­ge­setz­buchs (Ver­bre­chen des Mordes).

Anders als im Eich­mann-Pro­zess befass­te sich das Gericht unter Vor­sitz sei­nes Prä­si­den­ten Dr. Hein­rich Töplitz (CDU, DDR) umfas­send mit den gesetz­li­chen Grund­la­gen der NS-Ras­sen­po­li­tik und dem Anteil Glob­kes als Schreib­tisch­tä­ter an deren Zustan­de­kom­men und Durch­füh­rung. Ins­be­son­de­re wur­den jene Wei­sun­gen und Anord­nun­gen the­ma­ti­siert, auf die sich Eich­mann zur Recht­fer­ti­gung als Befehls­emp­fän­ger beru­fen hat­te. Ange­hört wur­den 59 Zeu­gen aus sie­ben Län­dern und zahl­rei­che Sach­ver­stän­di­ge aus der UdSSR, der Volks­re­pu­blik Polen, der Tsche­cho­slo­wa­kei und der DDR.

Als Ver­tei­di­ger war der pro­mi­nen­te Anwalt Fried­rich Wolff tätig. Zu den Zeu­gen zähl­te am 11. Juli 1963 der ehe­ma­li­ge Autor der Weltbühne und spä­te­re Schrift­stel­ler Peter Edel. Die­ses Ver­fah­ren brach alte Wun­den auf, die er in sei­nem Roman Die Bil­der des Zeu­gen Schattmann. Ein Roman über deut­sche Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart lite­ra­risch auf­ar­bei­te­te. Sein Vater Erich, sei­ne Frau Lie­se­lot­te sowie vie­le wei­te­re Mit­glie­der aus sei­ner Fami­lie waren Opfer der juri­stisch von Glob­ke aus­ge­klü­gel­ten ras­si­sti­schen Bestim­mun­gen gewor­den. Als Refe­rent für Fra­gen der Staats­an­ge­hö­rig­keit hat­te er z. B. 1938 vor­ge­schla­gen, dass alle Deut­schen mosai­schen Glau­bens, so die Bezeich­nung in frü­he­ren Urkun­den, zu ihrem eige­nen einen zwei­ten Vor­na­men füh­ren muss­ten: Sara oder Isra­el. Das gestem­pel­te J in den Päs­sen war sei­ne Idee.

Das The­ma G. war, ist und bleibt gegen­wär­ti­ge Ver­gan­gen­heit – bis hin zur über­bü­ro­kra­ti­sier­ten, peni­blen Staats­ver­wal­tung. Im Ber­li­ner Kanz­ler­amt hängt wei­ter­hin das Por­trät die­ses Man­nes, aller­dings mit einer histo­ri­schen Wer­tung (vgl. Ossietzky, 8/​2020, »Por­trait kom­men­tiert – end­lich«). Es fehlt ein­deu­tig der Wil­le zu einer radi­ka­len Lösung in der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, mit Blick auf die Ex-Kanz­ler Kon­rad Ade­nau­er und Kurt Georg Kie­sin­ger, auf Ex-Bun­des­prä­si­dent Hein­rich Lüb­ke, Ex-Gene­ral­bun­des­an­walt Wolf­gang Frän­kel, auf Mili­tärs wie Spei­del, Heu­sin­ger, Trett­ner & Co.

Klaus Bäst­lein betont in sei­nem Buch »Der Fall Glob­ke, Pro­pa­gan­da und Justiz in Ost und West«, dass die Schat­ten der brau­nen Ver­gan­gen­heit in der Bun­des­re­pu­blik jahr­zehn­te­lang über­mäch­tig gewe­sen sei­en. Und nie­mand habe das so klar und deut­lich wie Glob­ke sym­bo­li­siert, der als Chef im Bon­ner Kanz­ler­amt die Inte­gra­ti­on der NS-Eli­ten in die west­deut­sche Gesell­schaft beför­der­te. Im dama­li­gen Kanz­ler­amt waren nur drei der 107 Spit­zen­be­am­ten unbe­la­stet. Da zu sei­nem Auf­ga­ben­be­reich auch die Kon­trol­le von BND und Ver­fas­sungs­schutz gehör­te, fällt es leicht, sich vor­zu­stel­len, war­um sich das brau­ne Geflecht aus­brei­ten konnte.

Ein gro­ßer Teil der Akten aus sei­ner Zeit im Kanz­ler­amt befin­det sich nicht dort oder dem Bun­des­ar­chiv, son­dern bei der Kon­rad-Ade­nau­er-Stif­tung. Da CDU-affin und pri­vat wird nach Guts­her­ren­art ent­schie­den, wer was dort in den Akten erfor­schen darf oder nicht. Das Bun­des­ar­chiv bemüh­te sich ver­geb­lich um Ände­rung. Die Justiz scheint wenig Inter­es­se zu haben, das zu ändern.

Histo­ri­ker der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on mei­nen mitt­ler­wei­le gar: »Wir haben sogar gelernt, dass die Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik, oder ihre Ent­wick­lung, nicht zuletzt mit Hil­fe von ehe­ma­li­gen Nazis erfolg­reich war, die bereit waren, dem neu­en Staats­we­sen zu die­nen, ihm oft sogar Moder­ni­sie­rungs­im­pul­se gege­ben haben oder auch leich­ter lenk­bar waren, weil ihre Loya­li­tät jetzt dem neu­en Staat in beson­de­rer Wei­se galt, um die eige­ne Bela­stung aufzuheben.«

Ein Per­sil­schein erster Güte. Eine argu­men­ta­ti­ve Abso­lu­ti­on pro AfD. Deren Licht­ge­stal­ten wie Alex­an­der Gau­land, vor­mals CDU, und Ober­stu­di­en­rat Björn Höcke in Thü­rin­gen froh­locken. Ganz rechts­staat­lich erklomm ihre Par­tei die Gip­fel der Poli­tik in Bun­des­tag und 14 Landesparlamenten.

Justi­tia hat­te treue Leh­rer und Die­ner im Gei­ste – den Ver­fas­sungs­recht­ler Theo­dor Maunz zum Bei­spiel. 1958 begrün­de­te er mit Gün­ter Dürig einen der füh­ren­den Kom­men­ta­re zum Grund­ge­setz, den Maunz/​Dürig, jahr­zehn­te­lang Stan­dard­werk (!) der juri­sti­schen Aus­bil­dung. Maunz – und, ihm nach­fol­gend, sein Schü­ler Roman Her­zog, der spä­te­re Bun­des­prä­si­dent – erklär­ten z. B. den Art. 139 GG nach Abschluss der Ent­na­zi­fi­zie­rung für »obso­let«. Abzu­leh­nen sei ins­be­son­de­re der Ver­such, ihn als Grund­satz­aus­sa­ge über die Hal­tung des Grund­ge­set­zes gegen­über natio­nal­so­zia­li­sti­schen Staats­auf­fas­sun­gen anzu­se­hen und inso­weit fort­gel­ten zu las­sen. Im Juli 2021 erklär­te der Ver­lag C.H. Beck, bei dem der Maunz/​Dürig erschien, das Werk wer­de zukünf­tig Dürig/​Herzog/​Scholz hei­ßen. Der Ver­lag habe sich ent­schlos­sen, Wer­ke mit dem Namen von Juri­sten wie Maunz, die wäh­rend der NS-Dik­ta­tur eine akti­ve Rol­le ein­ge­nom­men haben, umzubenennen.

In 1265 deut­schen Städ­ten und Gemein­den sowie in 31 Län­dern Euro­pas erin­nern Stol­per­stei­ne an die Opfer der Nazi-Ver­bre­chen. In Nürn­berg wur­de Ende Mai die­ses Jah­res der 100.000 in der Bar­tho­lo­mä­us-Stra­ße ver­legt. Er erin­nert an den Feu­er­wehr­mann Johann Wild, der wegen Abhö­rens und Ver­brei­tens aus­län­di­scher Rund­funk­mel­dun­gen von den Nazis im Mai 1941 in Mün­chen mit dem Fall­beil hin­ge­rich­tet wurde.

Jeder Stein eine Ankla­ge. Jeder ein stum­mer Zeu­ge. Jeder ein Urteil.

Rein­hard Strecker: Dr. Hans Glob­ke. Akten­aus­zü­ge, Doku­men­te. Ruet­ten & Loe­ning, 1961.
Dr. Klaus Bäst­lein: Der Fall Glob­ke, Pro­pa­gan­da und Justiz