Der 23. Juli 1963 war ein Montag. Schauplatz: Ein großer Saal im Gebäude der einstigen kaiserlichen Militärärztlichen Akademie an der Invalidenstraße, kurz vor dem gleichnamigen Grenzübergang nach Berlin (West) und der Sandkrugbrücke. An diesem Tag vor sechzig Jahren wurde Dr. Hans Maria Globke, nach einem zweiwöchigen Prozess vor dem Obersten Gericht der Deutschen Demokratischen Republik, in Abwesenheit zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Die Richter sahen seine Beteiligung an der antisemitischen Gesetzgebung des Nazi-Regimes als Ministerialrat im Reichsinnenministerium und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze als erwiesen an. Am 15. Oktober 1963 trat der Verurteilte als Kanzleramtschef der Bundesrepublik Deutschland zurück. Als er in die Schweiz übersiedeln wollte, verweigerte das zuständige Regionalparlament die Aufenthaltsgenehmigung.
Das Gericht leitete seine Zuständigkeit – wie auch das Jerusalemer Bezirksgericht im Eichmann-Prozess – aus dem Weltrechtsprinzip ab, das eine weltweite Zuständigkeit aller Gerichte für nach dem Völkerstrafrecht strafbare Handlungen vorsieht. Außerdem habe Globke die angeklagten Taten als deutscher Staatsangehöriger überwiegend an seinem damaligen Dienstort Berlin begangen. Rechtsgrundlage für den Prozess waren die international anerkannten Nürnberger Prinzipien, Art. 6 des Londoner Statuts für das Internationale Militärtribunal vom 8. August 1945 in Verbindung mit Artikel 5 Abs. 1 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 sowie §§ 211, 47 des in der DDR damals noch fortgeltenden Reichsstrafgesetzbuchs (Verbrechen des Mordes).
Anders als im Eichmann-Prozess befasste sich das Gericht unter Vorsitz seines Präsidenten Dr. Heinrich Töplitz (CDU, DDR) umfassend mit den gesetzlichen Grundlagen der NS-Rassenpolitik und dem Anteil Globkes als Schreibtischtäter an deren Zustandekommen und Durchführung. Insbesondere wurden jene Weisungen und Anordnungen thematisiert, auf die sich Eichmann zur Rechtfertigung als Befehlsempfänger berufen hatte. Angehört wurden 59 Zeugen aus sieben Ländern und zahlreiche Sachverständige aus der UdSSR, der Volksrepublik Polen, der Tschechoslowakei und der DDR.
Als Verteidiger war der prominente Anwalt Friedrich Wolff tätig. Zu den Zeugen zählte am 11. Juli 1963 der ehemalige Autor der Weltbühne und spätere Schriftsteller Peter Edel. Dieses Verfahren brach alte Wunden auf, die er in seinem Roman Die Bilder des Zeugen Schattmann. Ein Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart literarisch aufarbeitete. Sein Vater Erich, seine Frau Lieselotte sowie viele weitere Mitglieder aus seiner Familie waren Opfer der juristisch von Globke ausgeklügelten rassistischen Bestimmungen geworden. Als Referent für Fragen der Staatsangehörigkeit hatte er z. B. 1938 vorgeschlagen, dass alle Deutschen mosaischen Glaubens, so die Bezeichnung in früheren Urkunden, zu ihrem eigenen einen zweiten Vornamen führen mussten: Sara oder Israel. Das gestempelte J in den Pässen war seine Idee.
Das Thema G. war, ist und bleibt gegenwärtige Vergangenheit – bis hin zur überbürokratisierten, peniblen Staatsverwaltung. Im Berliner Kanzleramt hängt weiterhin das Porträt dieses Mannes, allerdings mit einer historischen Wertung (vgl. Ossietzky, 8/2020, »Portrait kommentiert – endlich«). Es fehlt eindeutig der Wille zu einer radikalen Lösung in der Vergangenheitsbewältigung, mit Blick auf die Ex-Kanzler Konrad Adenauer und Kurt Georg Kiesinger, auf Ex-Bundespräsident Heinrich Lübke, Ex-Generalbundesanwalt Wolfgang Fränkel, auf Militärs wie Speidel, Heusinger, Trettner & Co.
Klaus Bästlein betont in seinem Buch »Der Fall Globke, Propaganda und Justiz in Ost und West«, dass die Schatten der braunen Vergangenheit in der Bundesrepublik jahrzehntelang übermächtig gewesen seien. Und niemand habe das so klar und deutlich wie Globke symbolisiert, der als Chef im Bonner Kanzleramt die Integration der NS-Eliten in die westdeutsche Gesellschaft beförderte. Im damaligen Kanzleramt waren nur drei der 107 Spitzenbeamten unbelastet. Da zu seinem Aufgabenbereich auch die Kontrolle von BND und Verfassungsschutz gehörte, fällt es leicht, sich vorzustellen, warum sich das braune Geflecht ausbreiten konnte.
Ein großer Teil der Akten aus seiner Zeit im Kanzleramt befindet sich nicht dort oder dem Bundesarchiv, sondern bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Da CDU-affin und privat wird nach Gutsherrenart entschieden, wer was dort in den Akten erforschen darf oder nicht. Das Bundesarchiv bemühte sich vergeblich um Änderung. Die Justiz scheint wenig Interesse zu haben, das zu ändern.
Historiker der jüngeren Generation meinen mittlerweile gar: »Wir haben sogar gelernt, dass die Gründung der Bundesrepublik, oder ihre Entwicklung, nicht zuletzt mit Hilfe von ehemaligen Nazis erfolgreich war, die bereit waren, dem neuen Staatswesen zu dienen, ihm oft sogar Modernisierungsimpulse gegeben haben oder auch leichter lenkbar waren, weil ihre Loyalität jetzt dem neuen Staat in besonderer Weise galt, um die eigene Belastung aufzuheben.«
Ein Persilschein erster Güte. Eine argumentative Absolution pro AfD. Deren Lichtgestalten wie Alexander Gauland, vormals CDU, und Oberstudienrat Björn Höcke in Thüringen frohlocken. Ganz rechtsstaatlich erklomm ihre Partei die Gipfel der Politik in Bundestag und 14 Landesparlamenten.
Justitia hatte treue Lehrer und Diener im Geiste – den Verfassungsrechtler Theodor Maunz zum Beispiel. 1958 begründete er mit Günter Dürig einen der führenden Kommentare zum Grundgesetz, den Maunz/Dürig, jahrzehntelang Standardwerk (!) der juristischen Ausbildung. Maunz – und, ihm nachfolgend, sein Schüler Roman Herzog, der spätere Bundespräsident – erklärten z. B. den Art. 139 GG nach Abschluss der Entnazifizierung für »obsolet«. Abzulehnen sei insbesondere der Versuch, ihn als Grundsatzaussage über die Haltung des Grundgesetzes gegenüber nationalsozialistischen Staatsauffassungen anzusehen und insoweit fortgelten zu lassen. Im Juli 2021 erklärte der Verlag C.H. Beck, bei dem der Maunz/Dürig erschien, das Werk werde zukünftig Dürig/Herzog/Scholz heißen. Der Verlag habe sich entschlossen, Werke mit dem Namen von Juristen wie Maunz, die während der NS-Diktatur eine aktive Rolle eingenommen haben, umzubenennen.
In 1265 deutschen Städten und Gemeinden sowie in 31 Ländern Europas erinnern Stolpersteine an die Opfer der Nazi-Verbrechen. In Nürnberg wurde Ende Mai dieses Jahres der 100.000 in der Bartholomäus-Straße verlegt. Er erinnert an den Feuerwehrmann Johann Wild, der wegen Abhörens und Verbreitens ausländischer Rundfunkmeldungen von den Nazis im Mai 1941 in München mit dem Fallbeil hingerichtet wurde.
Jeder Stein eine Anklage. Jeder ein stummer Zeuge. Jeder ein Urteil.
Reinhard Strecker: Dr. Hans Globke. Aktenauszüge, Dokumente. Ruetten & Loening, 1961.
Dr. Klaus Bästlein: Der Fall Globke, Propaganda und Justiz