Die nach dem Ende der UdSSR geschaffene Weltordnung, geprägt von der unangefochtenen Vorherrschaft der USA und dem westlichen Unilateralismus, der die letzten dreißig Jahre der neoliberalen Globalisierung bestimmt hat, geht ihrem Untergang entgegen, inmitten von Krisen und Kriegen, die über den ganzen Planeten verteilt sind. Das Auftauchen von Wirtschaftsmächten, sogenannten Global Players, die in der Lage sind, dem Westen nicht nur in traditionellen Industriesektoren, sondern auch in den Hochtechnologien Konkurrenz zu machen und ihn zu überflügeln, hat wie eine tellurische Bewegung alle zuvor bestehenden Gleichgewichte in der Welt erschüttert und verändert – kurz gesagt: Die internationale Arbeitsteilung der Welt wird neugestaltet. China ist inzwischen nicht nur zur Fabrik der Welt geworden, sondern investiert auch enorme Mittel in Forschung und Technologie. Es strebt eine Führungsrolle im Bereich der künstlichen Intelligenz an, bringt jedes Jahr Millionen von Hochschulabsolventen hervor und spielt wirtschaftlich bereits eine globale Rolle.
Mit weiten Teilen des Planeten entwickelt China Handelsbeziehungen und ist die treibende Kraft bei den BRICS (Brasilien-Russland-Indien-China-Südafrika), auf die ein großer Teil des Südens der Welt mit Interesse blickt. Diese Staatengruppe möchte einen vom Dollar abgekoppelten Wirtschaftsraum mit einer eigenen Währung aufbauen und ernannte Dilma Rousseff, die ehemalige Präsidentin Brasiliens, zur Vorsitzenden der von ihnen gegründeten Bank. Die zunehmenden Aggressionen, die Konflikte, die der Westen mit seinem bewaffneten Arm der Nato dem Rest der Welt aufdrängt, werden von Fall zu Fall mit der Verteidigung westlicher Werte gerechtfertigt. Aber in Wirklichkeit finden sie statt, um neue internationale Gleichgewichte und damit eine Neuordnung der Machtverhältnisse mit den bisherigen Wirtschafts- und Finanzarchitekturen (Bretton Woods und IWF) zu verhindern, auf die sich die US-Hegemonie seit der Nachkriegszeit stützt. Was sich nämlich abzeichnet, ist ein mit dem hegemonialen Niedergang des Westens langsam erfolgender Prozess hin zu einer multipolaren Welt. Wie schon Eric Hobsbawm 1999 feststellte, ist die Welt »zu groß und zu kompliziert geworden, um von einem einzigen Staat beherrscht zu werden«.
Der Versuch des Westens, die sich vollziehenden Veränderungen mit Waffen und Kriegen aufzuhalten und Mauern zu errichten, entspricht der Torheit unserer Zeit, die die Menschheit der Gefahr einer Katastrophe aussetzt, nämlich ihrer eigenen Vernichtung in einem neuen Weltkonflikt, der nicht mehr punktuell, sondern global sein wird als Resultat einer direkten Konfrontation zwischen Atommächten.
Dem Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland in der Ukraine hat sich von Anfang an eine Friedensbewegung entgegengestellt, die einen sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Parteien fordert. Der Krieg und die Sanktionen gegen Russland, die in Übersee beschlossen wurden, führen zum Selbstmord Europas, das auf eine Währung, den Euro, ohne eigene Politik reduziert wird. Daraus folgt bisher schon eine Rezession in Deutschland mit Auswirkungen auf andere Volkswirtschaften, ja eine Verschärfung der wirtschaftlichen Krise in ganz Europa. Die militärische Eskalation, die auf einen Sieg der Nato über Russland abzielt, erwies sich vor Ort als Fehlschlag und kostete bereits einen enormen Tribut an ukrainischen und russischen Menschenleben, die, wie man zugeben muss, auch Opfer des westlichen Kriegsfanatismus wurden. Und wenn nach immerhin zwei Jahren Krieg und einer nach ihren gescheiterten Gegenoffensiven weitgehend erschöpften Ukraine nicht einmal der Augenschein der Tatsachen die Regierungen zum Umdenken bringt, bleibt nur der Wahnsinn der herrschenden Eliten zu konstatieren: der Schlaf der Vernunft. Während die Abneigung gegen den Krieg wächst und Papst Franziskus inständig dazu aufruft, das Blutbad zu beenden und Verhandlungen aufzunehmen, verkündete die EU dagegen den Beginn einer Kriegswirtschaft und verabschiedete am 22. März jene beunruhigende Entschließung, in der es unter Punkt 44 heißt: Der Europäische Rat unterstreicht die Notwendigkeit, die militärische und zivile Abwehrbereitschaft und das strategische Krisenmanagement im Kontext der sich verändernden Bedrohungslage unbedingt zu verstärken und zu koordinieren.
Die unmittelbare Beteiligung auch an künftigen Konflikten wird also vorbereitet, indem die Ausgaben für Aufrüstung erhöht und die Sozialausgaben gekürzt werden. Anstatt die Wirtschaft wieder unter öffentliche Kontrolle zu bringen, in soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu investieren und das verheerende und bankrotte Entwicklungsmodell dadurch zu verändern, dass Europa sich selbst als Subjekt einer Politik der Entspannung und des Friedens präsentiert, greift das von der Nato geführte Europa, das seine eigenen Gründungsprinzipien mit Füßen tritt, auf Kriegsführung zurück und verschlimmert das Modell eines grenzenlosen Wachstums ohne soziale und ökologische Auflagen.
Inzwischen wird Putins Russland von den westlichen Regierungen und Medien auf eine Weise dämonisiert, die zuvor nicht einmal den blutigen Diktaturen des 20. Jahrhunderts vor ihrem Fall zuteilwurde; ein ähnliches Schicksal wird bald auch China ereilen, denn der militärisch-industrielle Apparat braucht immer einen Feind. Der Westen hat eben diesem Militärapparat die Definition der internationalen Beziehungen überlassen, zum Schaden von Politik, Diplomatie und der Vernunft.
Das zeigt sich auch im Nahen Osten: Der furchtbare Terrorakt der Hamas vom 7. Oktober mit dem Massaker an israelischen Zivilisten hat eine Gewalt-Spirale gegen die palästinensische Zivilbevölkerung ausgelöst, die in der langen qualvollen Geschichte des Konflikts in diesem Landstrich ohne Beispiel ist. Die israelische Militäroffensive fordert Zehntausende von Opfern, vor allem Frauen und Kinder, und dies vor den Augen der Welt, die nicht in der Lage ist, das tägliche Gemetzel an Unschuldigen zu stoppen, die ihrer Häuser, ihres Wassers, ihrer Nahrungsmittel, ihrer Krankenhäuser und jeder Form von Lebensunterhalt beraubt werden.
Und die Regierungen, die sich heuchlerisch für die Formel »zwei Völker, zwei Staaten« aussprechen, ergreifen keine konkrete Initiative für einen Waffenstillstand und liefern weiterhin Waffen, während die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts auf den gesamten Nahen Osten von Tag zu Tag zunimmt. Die Wirtschaftskrise und die Kriege haben die politische Achse bereits zunehmend nach rechts verschoben und die Ungleichheit wächst nicht nur in Italien.
Dort verurteilte die Abschaffung des Mindesteinkommens Hunderttausende zu größerer Armut. Prekäre Arbeitsbedingungen wurden verstärkt, die längst zu einem Strukturelement der industriellen und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit geworden sind, ultraliberale Maßnahmen beeinträchtigen die materiellen Bedingungen der Arbeitnehmer und der jungen Generationen stark und werden mit durchschnittlich 3 Todesfällen je Arbeitstag bezahlt. In dem Land mit einem der niedrigsten Lohnniveaus in Europa, lehnt die Regierung Meloni den Vorschlag von Opposition und Gewerkschaften zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ab, mit dem Millionen von Arbeitnehmern vor Löhnen unter 9 Euro geschützt werden könnten.
Auch Eingriffe in das Streikrecht wurden bereits unternommen, in die Arbeit der öffentlichen Medien, und nun sollen weitreichende Maßnahmen zur Veränderung der Verfassung durchgesetzt werden: Eine sognannte »differenzierte Autonomie« der einzelnen Regionen soll die reichen Regionen des Nordens von denen des Südens, zu deren Nachteil, legal abspalten. Und die angestrebte künftige Direktwahl des Regierungschefs durch die Wähler soll die Rolle von Parlament und Staatsoberhaupt beschränken. Inmitten von Kriegen, einer anhaltenden sozialen, wie demokratischen Krise, mit wachsenden Ungleichheiten, Wahlverdrossenheit, zunehmender Armut und der Abwanderung junger Menschen in andere europäische Länder steht also die Aushöhlung der Integrität der Republik auf dem Programm der Regierung.
Wenn aber die Verfassung der demokratische Leuchtturm bleibt, müssen Frieden und soziale Fragen in den Mittelpunkt der Initiativen gegen den Abbau von Rechten gestellt werden, allen voran das Recht auf FRIEDEN. Diese Rechte werden nie ein für alle Mal errungen, und ihre Durchsetzung erfordert Engagement, Kampf und demokratische Mobilisierung, wie es die Resistenza in Italien vor fast 80 Jahren gelehrt hat.
Das Thema des FRIEDENS, der Ächtung des Krieges muss heute zur absoluten Priorität politischen Handelns avancieren, überall dort, wo das Verfassungsgebot gegen Krieg in Universitäten, Schulen, an Arbeitsplätzen und auf allgemeinen Plätzen praktiziert wird.
Denn die Lage, in der sich der Westen befindet und die nach Meinung vieler Historiker durchaus Analogien zu den Szenarien vor dem Ersten Weltkrieg aufweist, eröffnet beunruhigende und dramatische Perspektiven für Europas Zukunft. Die Erhaltung des Friedens muss zum entscheidenden Erkennungsmoment für den Aufbau einer immer größer werdenden Bewegung von Kräften sein, um jene europäischen Regierungen und Institutionen beeinflussen zu können, die als Hüter der neoliberalen Orthodoxie kriegerisch auftreten. Es geht darum, deren leidbergende Entscheidungen zu ändern, die die Menschheit in die Katastrophe treiben. Angesichts der bevorstehenden Europawahlen kommt die Friedensbewegung nicht umhin, durch ihre Mobilisierung maximalen Druck auf alle politischen Kräfte auszuüben und klare Erklärungen und konsequente Maßnahmen zugunsten eines Waffenstillstands und der Aufnahme von Verhandlungen in der Ukraine und in Palästina zu fordern. Die Kriegswinde, die erneut über Europa und die Welt wehen, haben den herrschenden Eliten ihren friedfertigen Schleier vom Gesicht gerissen und ihre schrecklichen Züge als Kriegstreiber im Dienst des Neoliberalismus offenbart: Rosa Luxemburgs Alternative »Sozialismus oder Barbarei« erlangt somit wieder Aktualität angesichts der Massaker, der Verwüstungen und des Zerstörungspotentials der Kriege auch des 21. Jahrhunderts.
Es ist nötig, gegen die Entfremdung und die Gleichgültigkeit anzukämpfen, die durch ein nicht unmotiviertes Misstrauen gegenüber Institutionen und Parteien verursacht sind, die bei so vielen Menschen aus den subalternen Klassen jede Hoffnung auf Veränderung erstickt und Resignation und Passivität erzeugt haben. Aber zwischen Frieden und Krieg gibt es keinen Mittelweg, man steht auf der einen oder der anderen Seite der Barrikade – und überall für FRIEDEN zu kämpfen, für Abrüstung, soziale Gerechtigkeit, Zusammenarbeit zwischen den Völkern, gegen Aufrüstung und Krieg ist die einzige Alternative zur Katastrophe.
Aus dem Italienischen von Susanna Böhme-Kuby
Giorgio Molin war über lange Jahre Generalsekretär der Metallarbeitergewerkschaft FIOM in der Region Venetien und gehört heute zum Vorstand der Partisanenorganisation ANPI in Venedig.