Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Gegen Krise und Kriege

Die nach dem Ende der UdSSR geschaf­fe­ne Welt­ord­nung, geprägt von der unan­ge­foch­te­nen Vor­herr­schaft der USA und dem west­li­chen Uni­la­te­ra­lis­mus, der die letz­ten drei­ßig Jah­re der neo­li­be­ra­len Glo­ba­li­sie­rung bestimmt hat, geht ihrem Unter­gang ent­ge­gen, inmit­ten von Kri­sen und Krie­gen, die über den gan­zen Pla­ne­ten ver­teilt sind. Das Auf­tau­chen von Wirt­schafts­mäch­ten, soge­nann­ten Glo­bal Play­ers, die in der Lage sind, dem Westen nicht nur in tra­di­tio­nel­len Indu­strie­sek­to­ren, son­dern auch in den Hoch­tech­no­lo­gien Kon­kur­renz zu machen und ihn zu über­flü­geln, hat wie eine tel­luri­sche Bewe­gung alle zuvor bestehen­den Gleich­ge­wich­te in der Welt erschüt­tert und ver­än­dert – kurz gesagt: Die inter­na­tio­na­le Arbeits­tei­lung der Welt wird neu­ge­stal­tet. Chi­na ist inzwi­schen nicht nur zur Fabrik der Welt gewor­den, son­dern inve­stiert auch enor­me Mit­tel in For­schung und Tech­no­lo­gie. Es strebt eine Füh­rungs­rol­le im Bereich der künst­li­chen Intel­li­genz an, bringt jedes Jahr Mil­lio­nen von Hoch­schul­ab­sol­ven­ten her­vor und spielt wirt­schaft­lich bereits eine glo­ba­le Rolle.

Mit wei­ten Tei­len des Pla­ne­ten ent­wickelt Chi­na Han­dels­be­zie­hun­gen und ist die trei­ben­de Kraft bei den BRICS (Bra­si­li­en-Russ­land-Indi­en-Chi­na-Süd­afri­ka), auf die ein gro­ßer Teil des Südens der Welt mit Inter­es­se blickt. Die­se Staa­ten­grup­pe möch­te einen vom Dol­lar abge­kop­pel­ten Wirt­schafts­raum mit einer eige­nen Wäh­rung auf­bau­en und ernann­te Dil­ma Rouss­eff, die ehe­ma­li­ge Prä­si­den­tin Bra­si­li­ens, zur Vor­sit­zen­den der von ihnen gegrün­de­ten Bank. Die zuneh­men­den Aggres­sio­nen, die Kon­flik­te, die der Westen mit sei­nem bewaff­ne­ten Arm der Nato dem Rest der Welt auf­drängt, wer­den von Fall zu Fall mit der Ver­tei­di­gung west­li­cher Wer­te gerecht­fer­tigt. Aber in Wirk­lich­keit fin­den sie statt, um neue inter­na­tio­na­le Gleich­ge­wich­te und damit eine Neu­ord­nung der Macht­ver­hält­nis­se mit den bis­he­ri­gen Wirt­schafts- und Finanz­ar­chi­tek­tu­ren (Bret­ton Woods und IWF) zu ver­hin­dern, auf die sich die US-Hege­mo­nie seit der Nach­kriegs­zeit stützt. Was sich näm­lich abzeich­net, ist ein mit dem hege­mo­nia­len Nie­der­gang des Westens lang­sam erfol­gen­der Pro­zess hin zu einer mul­ti­po­la­ren Welt. Wie schon Eric Hobs­bawm 1999 fest­stell­te, ist die Welt »zu groß und zu kom­pli­ziert gewor­den, um von einem ein­zi­gen Staat beherrscht zu werden«.

Der Ver­such des Westens, die sich voll­zie­hen­den Ver­än­de­run­gen mit Waf­fen und Krie­gen auf­zu­hal­ten und Mau­ern zu errich­ten, ent­spricht der Tor­heit unse­rer Zeit, die die Mensch­heit der Gefahr einer Kata­stro­phe aus­setzt, näm­lich ihrer eige­nen Ver­nich­tung in einem neu­en Welt­kon­flikt, der nicht mehr punk­tu­ell, son­dern glo­bal sein wird als Resul­tat einer direk­ten Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen Atommächten.

Dem Stell­ver­tre­ter­krieg der Nato gegen Russ­land in der Ukrai­ne hat sich von Anfang an eine Frie­dens­be­we­gung ent­ge­gen­ge­stellt, die einen sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand und die Auf­nah­me von Ver­hand­lun­gen zwi­schen den Par­tei­en for­dert. Der Krieg und die Sank­tio­nen gegen Russ­land, die in Über­see beschlos­sen wur­den, füh­ren zum Selbst­mord Euro­pas, das auf eine Wäh­rung, den Euro, ohne eige­ne Poli­tik redu­ziert wird. Dar­aus folgt bis­her schon eine Rezes­si­on in Deutsch­land mit Aus­wir­kun­gen auf ande­re Volks­wirt­schaf­ten, ja eine Ver­schär­fung der wirt­schaft­li­chen Kri­se in ganz Euro­pa. Die mili­tä­ri­sche Eska­la­ti­on, die auf einen Sieg der Nato über Russ­land abzielt, erwies sich vor Ort als Fehl­schlag und koste­te bereits einen enor­men Tri­but an ukrai­ni­schen und rus­si­schen Men­schen­le­ben, die, wie man zuge­ben muss, auch Opfer des west­li­chen Kriegs­fa­na­tis­mus wur­den. Und wenn nach immer­hin zwei Jah­ren Krieg und einer nach ihren geschei­ter­ten Gegen­of­fen­si­ven weit­ge­hend erschöpf­ten Ukrai­ne nicht ein­mal der Augen­schein der Tat­sa­chen die Regie­run­gen zum Umden­ken bringt, bleibt nur der Wahn­sinn der herr­schen­den Eli­ten zu kon­sta­tie­ren: der Schlaf der Ver­nunft. Wäh­rend die Abnei­gung gegen den Krieg wächst und Papst Fran­zis­kus instän­dig dazu auf­ruft, das Blut­bad zu been­den und Ver­hand­lun­gen auf­zu­neh­men, ver­kün­de­te die EU dage­gen den Beginn einer Kriegs­wirt­schaft und ver­ab­schie­de­te am 22. März jene beun­ru­hi­gen­de Ent­schlie­ßung, in der es unter Punkt 44 heißt: Der Euro­päi­sche Rat unter­streicht die Not­wen­dig­keit, die mili­tä­ri­sche und zivi­le Abwehr­be­reit­schaft und das stra­te­gi­sche Kri­sen­ma­nage­ment im Kon­text der sich ver­än­dern­den Bedro­hungs­la­ge unbe­dingt zu ver­stär­ken und zu koordinieren.

Die unmit­tel­ba­re Betei­li­gung auch an künf­ti­gen Kon­flik­ten wird also vor­be­rei­tet, indem die Aus­ga­ben für Auf­rü­stung erhöht und die Sozi­al­aus­ga­ben gekürzt wer­den. Anstatt die Wirt­schaft wie­der unter öffent­li­che Kon­trol­le zu brin­gen, in sozia­le und öko­lo­gi­sche Nach­hal­tig­keit zu inve­stie­ren und das ver­hee­ren­de und bank­rot­te Ent­wick­lungs­mo­dell dadurch zu ver­än­dern, dass Euro­pa sich selbst als Sub­jekt einer Poli­tik der Ent­span­nung und des Frie­dens prä­sen­tiert, greift das von der Nato geführ­te Euro­pa, das sei­ne eige­nen Grün­dungs­prin­zi­pi­en mit Füßen tritt, auf Kriegs­füh­rung zurück und ver­schlim­mert das Modell eines gren­zen­lo­sen Wachs­tums ohne sozia­le und öko­lo­gi­sche Auflagen.

Inzwi­schen wird Putins Russ­land von den west­li­chen Regie­run­gen und Medi­en auf eine Wei­se dämo­ni­siert, die zuvor nicht ein­mal den blu­ti­gen Dik­ta­tu­ren des 20. Jahr­hun­derts vor ihrem Fall zuteil­wur­de; ein ähn­li­ches Schick­sal wird bald auch Chi­na erei­len, denn der mili­tä­risch-indu­stri­el­le Appa­rat braucht immer einen Feind. Der Westen hat eben die­sem Mili­tär­ap­pa­rat die Defi­ni­ti­on der inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen über­las­sen, zum Scha­den von Poli­tik, Diplo­ma­tie und der Vernunft.

Das zeigt sich auch im Nahen Osten: Der furcht­ba­re Ter­ror­akt der Hamas vom 7. Okto­ber mit dem Mas­sa­ker an israe­li­schen Zivi­li­sten hat eine Gewalt-Spi­ra­le gegen die palä­sti­nen­si­sche Zivil­be­völ­ke­rung aus­ge­löst, die in der lan­gen qual­vol­len Geschich­te des Kon­flikts in die­sem Land­strich ohne Bei­spiel ist. Die israe­li­sche Mili­tär­of­fen­si­ve for­dert Zehn­tau­sen­de von Opfern, vor allem Frau­en und Kin­der, und dies vor den Augen der Welt, die nicht in der Lage ist, das täg­li­che Gemet­zel an Unschul­di­gen zu stop­pen, die ihrer Häu­ser, ihres Was­sers, ihrer Nah­rungs­mit­tel, ihrer Kran­ken­häu­ser und jeder Form von Lebens­un­ter­halt beraubt werden.

Und die Regie­run­gen, die sich heuch­le­risch für die For­mel »zwei Völ­ker, zwei Staa­ten« aus­spre­chen, ergrei­fen kei­ne kon­kre­te Initia­ti­ve für einen Waf­fen­still­stand und lie­fern wei­ter­hin Waf­fen, wäh­rend die Gefahr einer Aus­wei­tung des Kon­flikts auf den gesam­ten Nahen Osten von Tag zu Tag zunimmt. Die Wirt­schafts­kri­se und die Krie­ge haben die poli­ti­sche Ach­se bereits zuneh­mend nach rechts ver­scho­ben und die Ungleich­heit wächst nicht nur in Italien.

Dort ver­ur­teil­te die Abschaf­fung des Min­dest­ein­kom­mens Hun­dert­tau­sen­de zu grö­ße­rer Armut. Pre­kä­re Arbeits­be­din­gun­gen wur­den ver­stärkt, die längst zu einem Struk­tur­ele­ment der indu­stri­el­len und wirt­schaft­li­chen Wett­be­werbs­fä­hig­keit gewor­den sind, ultra­li­be­ra­le Maß­nah­men beein­träch­ti­gen die mate­ri­el­len Bedin­gun­gen der Arbeit­neh­mer und der jun­gen Gene­ra­tio­nen stark und wer­den mit durch­schnitt­lich 3 Todes­fäl­len je Arbeits­tag bezahlt. In dem Land mit einem der nied­rig­sten Lohn­ni­veaus in Euro­pa, lehnt die Regie­rung Melo­ni den Vor­schlag von Oppo­si­ti­on und Gewerk­schaf­ten zur Ein­füh­rung eines gesetz­li­chen Min­dest­lohns ab, mit dem Mil­lio­nen von Arbeit­neh­mern vor Löh­nen unter 9 Euro geschützt wer­den könnten.

Auch Ein­grif­fe in das Streik­recht wur­den bereits unter­nom­men, in die Arbeit der öffent­li­chen Medi­en, und nun sol­len weit­rei­chen­de Maß­nah­men zur Ver­än­de­rung der Ver­fas­sung durch­ge­setzt wer­den: Eine sog­nann­te »dif­fe­ren­zier­te Auto­no­mie« der ein­zel­nen Regio­nen soll die rei­chen Regio­nen des Nor­dens von denen des Südens, zu deren Nach­teil, legal abspal­ten. Und die ange­streb­te künf­ti­ge Direkt­wahl des Regie­rungs­chefs durch die Wäh­ler soll die Rol­le von Par­la­ment und Staats­ober­haupt beschrän­ken. Inmit­ten von Krie­gen, einer anhal­ten­den sozia­len, wie demo­kra­ti­schen Kri­se, mit wach­sen­den Ungleich­hei­ten, Wahl­ver­dros­sen­heit, zuneh­men­der Armut und der Abwan­de­rung jun­ger Men­schen in ande­re euro­päi­sche Län­der steht also die Aus­höh­lung der Inte­gri­tät der Repu­blik auf dem Pro­gramm der Regierung.

Wenn aber die Ver­fas­sung der demo­kra­ti­sche Leucht­turm bleibt, müs­sen Frie­den und sozia­le Fra­gen in den Mit­tel­punkt der Initia­ti­ven gegen den Abbau von Rech­ten gestellt wer­den, allen vor­an das Recht auf FRIEDEN. Die­se Rech­te wer­den nie ein für alle Mal errun­gen, und ihre Durch­set­zung erfor­dert Enga­ge­ment, Kampf und demo­kra­ti­sche Mobi­li­sie­rung, wie es die Resi­sten­za in Ita­li­en vor fast 80 Jah­ren gelehrt hat.

Das The­ma des FRIEDENS, der Äch­tung des Krie­ges muss heu­te zur abso­lu­ten Prio­ri­tät poli­ti­schen Han­delns avan­cie­ren, über­all dort, wo das Ver­fas­sungs­ge­bot gegen Krieg in Uni­ver­si­tä­ten, Schu­len, an Arbeits­plät­zen und auf all­ge­mei­nen Plät­zen prak­ti­ziert wird.

Denn die Lage, in der sich der Westen befin­det und die nach Mei­nung vie­ler Histo­ri­ker durch­aus Ana­lo­gien zu den Sze­na­ri­en vor dem Ersten Welt­krieg auf­weist, eröff­net beun­ru­hi­gen­de und dra­ma­ti­sche Per­spek­ti­ven für Euro­pas Zukunft. Die Erhal­tung des Frie­dens muss zum ent­schei­den­den Erken­nungs­mo­ment für den Auf­bau einer immer grö­ßer wer­den­den Bewe­gung von Kräf­ten sein, um jene euro­päi­schen Regie­run­gen und Insti­tu­tio­nen beein­flus­sen zu kön­nen, die als Hüter der neo­li­be­ra­len Ortho­do­xie krie­ge­risch auf­tre­ten. Es geht dar­um, deren leid­ber­gen­de Ent­schei­dun­gen zu ändern, die die Mensch­heit in die Kata­stro­phe trei­ben. Ange­sichts der bevor­ste­hen­den Euro­pa­wah­len kommt die Frie­dens­be­we­gung nicht umhin, durch ihre Mobi­li­sie­rung maxi­ma­len Druck auf alle poli­ti­schen Kräf­te aus­zu­üben und kla­re Erklä­run­gen und kon­se­quen­te Maß­nah­men zugun­sten eines Waf­fen­still­stands und der Auf­nah­me von Ver­hand­lun­gen in der Ukrai­ne und in Palä­sti­na zu for­dern. Die Kriegs­win­de, die erneut über Euro­pa und die Welt wehen, haben den herr­schen­den Eli­ten ihren fried­fer­ti­gen Schlei­er vom Gesicht geris­sen und ihre schreck­li­chen Züge als Kriegs­trei­ber im Dienst des Neo­li­be­ra­lis­mus offen­bart: Rosa Luxem­burgs Alter­na­ti­ve »Sozia­lis­mus oder Bar­ba­rei« erlangt somit wie­der Aktua­li­tät ange­sichts der Mas­sa­ker, der Ver­wü­stun­gen und des Zer­stö­rungs­po­ten­ti­als der Krie­ge auch des 21. Jahrhunderts.

Es ist nötig, gegen die Ent­frem­dung und die Gleich­gül­tig­keit anzu­kämp­fen, die durch ein nicht unmo­ti­vier­tes Miss­trau­en gegen­über Insti­tu­tio­nen und Par­tei­en ver­ur­sacht sind, die bei so vie­len Men­schen aus den sub­al­ter­nen Klas­sen jede Hoff­nung auf Ver­än­de­rung erstickt und Resi­gna­ti­on und Pas­si­vi­tät erzeugt haben. Aber zwi­schen Frie­den und Krieg gibt es kei­nen Mit­tel­weg, man steht auf der einen oder der ande­ren Sei­te der Bar­ri­ka­de – und über­all für FRIEDEN zu kämp­fen, für Abrü­stung, sozia­le Gerech­tig­keit, Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Völ­kern, gegen Auf­rü­stung und Krieg ist die ein­zi­ge Alter­na­ti­ve zur Katastrophe.

Aus dem Ita­lie­ni­schen von Susan­na Böhme-Kuby

 Gior­gio Molin war über lan­ge Jah­re Gene­ral­se­kre­tär der Metall­ar­bei­ter­ge­werk­schaft FIOM in der Regi­on Vene­ti­en und gehört heu­te zum Vor­stand der Par­ti­sa­nen­or­ga­ni­sa­ti­on ANPI in Venedig.