Es ist für mich, der ich in eine überlebende jüdische Familie hinein geboren wurde, unfassbar, mit welcher Gefühlskälte angeblich christliche Politiker, Kirchenleute und vermeintlich gebildete Redakteure der Leitmedien, ja, selbst einst mehr oder weniger, linke Friedensbewegte, sich heute die Waffenlogik des Krieges zu eigen machen und nur noch die Sprache des militärischen Sieges und der Milliarden verschlingenden Aufrüstung kennen! Ein demokratischer Dialog, auf Augenhöhe, über die tieferen historischen Hintergründe des Ukraine-Krieges ist derzeit vollständig blockiert. Diese Haltungen der Nato-Politiker gleichen der Vergötterung des Krieges und des Tötens, nicht aber der durch Vernunft und religiöse Gebote geforderten Gottesliebe, Nächstenliebe, die es bekanntlich ohne Selbstliebe nicht gibt. Solche animalischen Zustände: »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, ohne die geringste Empathie für die Kriegstoten und Kriegsflüchtlinge, existieren schon seit Menschengedenken. Sie offenbarten sich, mit Blick auf Deutschland, bekanntlich besonders im 20. Jahrhundert mit Millionen Toten und unsagbaren Zerstörungen.
Hier scheint sich an Gefühlskälte und historischen Fehleinschätzungen bei den politisch Verantwortlichen sowie in der Mitte der Gesellschaft nach 1945 kaum etwas geändert zu haben, wenn wir die öffentlich dominanten Reaktionen zum Ukraine-Krieg und den unreflektierten Russen-Hass bedenken, die alle Sorgen und Bedenken, alle nach Frieden suchenden Gegendarstellungen nur verächtlich machen, marginalisieren und ins Leere laufen lassen wollen.
Ohne die unerbittliche Kriegsstrategie aller Seiten zu rechtfertigen, die bisher nicht eine Verhandlungslösung priorisieren können, liegt das tiefere Geheimnis der ideologischen Apologetik dieses Krieges m. E. in der ukrainisch-westlichen »Täter-Opfer-Umkehr«, der Schuldumkehr (»Viktim blaming« nach William Ryan). Die Hauptschuld des Krieges wird den ursprünglich, russischen Opfern zugeschrieben, die eine radikale Abspaltung der Ukraine von Russland nicht akzeptieren wollten und dafür Jahre lang beschossen wurden. Anstatt ernsthaften Beistand und Hilfe für eine friedliche Koexistenz von Russen und Ukrainern zu leisten, erfahren nur die Russen Anklage und Beschuldigung.
Ich frage mich schon seit langem: Wie ist ein solches seitenverkehrtes Geschichtsbild möglich? Was läuft bereits in der emotionalen und historischen Erziehung bei Kindern und Jugendliche grundverkehrt, dass eine zunehmende Gefühlskälte um sich greift, obwohl gleichzeitig behauptet wird, dass die »Würde des Menschen unantastbar« sei, wie es im Artikel 1 des Grundgesetzes heißt. Auch dieses Gebot hat sich doch längst als pure Ideologie entlarvt, wenn wir nur daran denken, wie repressiv mit Antifaschisten einerseits und nachsichtig mit Nazis andererseits seit 1945 in der Bundesrepublik umgegangen wurde und wie viele Menschen heute noch zu Opfern fremden- und frauenfeindlicher Aktionen werden, oder welche repressive Tonlage in den Arbeits- und Mietverhältnissen an der Tagesordnung ist.
Ich denke, dass diese, in Arm und Reich, in Mächtige und Machtlose zutiefst gespaltete, angeblich »freie« Gesellschaft, in der ein unbarmherziges Leistungsprinzip herrscht, sich auch in vorherrschenden Erziehungsprinzipien in Familien, im Bildungswesen, in der Politik und in den Medien reproduziert. So steht nicht humanistische Nächsten- und Selbstliebe im Mittelpunkt der Erziehung und Gesellschaftspraxis, sondern die Vermittlung universeller Rationalität und disziplinierte, ja, militante Unterordnung und Selbstbehauptung im Existenzkampf jeder gegen jeden. Der Leistungssport, der Kampf im Autoverkehr auf den Straßen etwa, der Umgang mit Flüchtlingen, die über das Mittelmeer kommen, aber auch die unvermeidlichen Kriminalserien, unterbrochen von Werbespots, in den TV-Programmen, alles das sind Abbilder dieser beinharten Klassengesellschaft, die dem nationalistischen Rechtsradikalismus Vorschub leistet. Doch diese kriegerischen Zustände werden meist als völlige Normalität, ja, sogar als spannende Unterhaltung in den Medien präsentiert. Da ist es nicht verwunderlich, mit welcher Gefühlskälte Politiker und Medien hier täglich über Lieferungen von Tod bringenden Waffengattungen aller Art gegen Russen schwadronieren, ohne die nationalistischen ukrainischen Machthaber und ihre Hintermänner genauer zu analysieren.
Sich diesen übermächtigen, inhumanen Gesellschaftsbildern zu entziehen, empfinde ich im Alltag und in der eigenen Lebensgeschichte als eine kaum zu bewältigende Herausforderung und emotionale Belastung, aufgrund meiner Familiengeschichte. Was also können wir tun, um uns dieser selbstzerstörerischen Gefühlskälte in der familiären und gesellschaftlichen Sphäre zu entziehen, ja, mit leidenschaftlicher Warmherzigkeit entgegenzustellen? Offenbar sind die scheinbar vernünftigen moralischen und gesetzlichen Gebote, das Grundgesetz oder sogar die Charta der Vereinten Nationen mit ihrer Erklärung der Menschenrechte überwiegend moralisierende Wunschvorstellungen, die in einer sozial und national gespalteten, kapitalistischen Leistungsgesellschaft nicht eingehalten werden und kaum eingehalten werden können, aufgrund der universellen gesellschaftlichen Zwänge und deren ideologische Rechtfertigungen.
Ein wohl nützliches Umdenken könnte bereits in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen beginnen. Die Bildungsziele in Elternhäusern und Bildungswesen stehen vielfach auf dem Kopf: Es sollte ein Primat der emotionalen vor der rationalen Erziehung existieren und nicht umgekehrt! D. h. die Vermittlung von künstlerischen Fächern, von sozialen und politischen Kompetenzen, von Empathie und Herzenswärme sollten zunächst ein nachhaltiges, humanistisches Fundament und Gesellschaftsbild vermitteln, ehe eine Spezialisierung auf naturwissenschaftlich-technische Fächer usw. erfolgt. Aber auch hier herrscht das Prinzip des »Nürnberger Trichters«, der oft nur Schulstress und Schulverweigerung verursacht, anstatt solides Grundlagenwissen und soziale Kompetenzen zu vermitteln.
Es ist auch viel stärker zu hinterfragen, ob die öffentlich-rechtlichen Medien ihrem Kulturauftrag und der demokratischen Meinungsvielfalt wirklich gerecht werden. Anstatt etwa wertvolle, gesellschaftskritische Filme aus der reichhaltigen deutschen und internationalen Filmgeschichte zu zeigen, werden vielfach amerikanische oder amerikanisierte Kriminalserien geboten oder billige Quiz- und Talksendungen. So werden konforme Menschenbilder vermittelt, die die Zuschauer zu bloßen Konsumenten einer Welt machen, in der tatsächliche oder scheinbar prominente und gutverdienende Leistungsträger als durchsetzungsstarke Vorbilder vorgeführt werden, die sich in der aggressiven Konkurrenzgesellschaft erfolgreich hervorgetan haben.
Schließlich ist zu hinterfragen, ob die gesellschaftlichen Organisationen und Parteien ausreichend niederschwellige Treffpunkte anbieten, damit sich mehr Menschen in Wohnnähe politisch engagieren und ihr demokratisches Mitspracherecht aktiv ausüben und auch erlernen können. Da viele Organisationen in Stadtteilen und Gemeinden gar keine entsprechenden Räume haben oder unterhalten können, ist es nicht verwunderlich, dass relativ wenige Menschen ihr Menschenrecht auf gesellschaftliche Meinungsbildung und Mitgestaltung aktiv wahrnehmen und viele gesellschaftliche Organisationen und Parteien an Mitgliederschwund leiden.
Ich weiß, dass alle diese Vorschläge in den Wind geschrieben und gesprochen sind. Aber im digitalen Zeitalter hätten gerade Gewerkschaften und auch linke Parteien wohl eine erneute Chance, nicht nur von »Oben« nach »Unten« zu agieren, sondern umgekehrt: die Meinungsbildung von »Unten« nach »Oben« demokratisch zu organisieren, indem sie Sorgen und Nöte der Menschen im Alltag, gerade auch, was existenziellen Fragen von Krieg oder Frieden für das Alltagsleben vieler Menschen bedeuten, viel stärker als bisher beachten. Solch demokratischer Übertragungsprozess ist m. E. nachhaltig gestört, wenn über 50 Prozent der Bevölkerung hierzulande gegen den Konfrontationskurs der Regierenden durch immer mehr Waffenlieferungen und für Verhandlungen sind, sich aber dadurch an der Kriegstreiberei nichts ändert, sondern diese mit unfassbarer Gefühlskälte immer weitergetrieben wird, und das von allen Parteien, die einst mit ihrer programmatischen »Friedenspolitik« auf Wählerfang gingen.
Zudem wird täglich ein verlogenes, harmonisierendes Gesellschaftsbild vermittelt, dass hierzulande und anderswo angeblich Klassenunterschiede längst eingeebnet wurden und deshalb ein nationales Gemeinschaftsgefühl besteht, dass durch die herrschenden Politiker und Leitmedien vertreten wird. In Wirklichkeit lähmt dieses Trugbild Menschen, sich gegen die bestehenden Klassen- und Nationen-Spaltungen aufzulehnen, um mitzuhelfen, sie weiter aktiv zurückzudrängen. Das ist die größte Schwäche der Sozialdemokratie und auch der Grünen, die gleichfalls das ideologische Zerrbild vermitteln, dass wir letztlich alle in einem Boot säßen. Damit lähmen sie selbst ihre eigene Kampfkraft und den Zulauf aus der Bevölkerung. Das trifft leider in noch viel stärkerem Maße auch auf ihre selbstmörderische Außenpolitik zu, die den Schulterschluss mit den reaktionärsten Kräften der USA und der Nato sucht, um das Modell ihrer sozial ungerechten, eiskalten Gesellschaftsordnung gewaltsam möglichst auf die ganze Welt zu übertragen, und uns glauben machen will, dass das die wahre »Volksherrschaft« sei. Mich erinnern die Vasallen-Aussagen von SPD-Scholz, wonach die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA heute so gut wie lange nicht mehr sind, an die Kriegsaussprüche von Hindenburg: »Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur.«
Doch von dieser Kriegsideologie der »weißen« und »christlichen« Kolonialherren lassen sich die gepeinigten und Jahrhunderte lang ausgebeuteten und gemordeten Völker nicht so ohne weiteres auf Dauer täuschen, wie die Emanzipationsgeschichte des 20. Jahrhundert beweist. Das ist und bleibt meine einzige Hoffnung.