Wann wird etwas als empörend empfunden? Wenn es, was so klar wie Kloßbrühe sein soll, unberechtigt ist, da es Gerechtfertigtes und Erstrebenswertes verletzt. Empörung ist ein Gefühl, dessen Intensität von der »Bedeutsamkeit« und dem »Stellenwert« des Auslösers abhängt und das dazu neigt, sich als idealistisches Engagement möglichst stark zu äußern. Empört zu sein, speist und berechtigt sich aus Gründen, von deren offensichtlicher Unabweisbarkeit das Gefühl überzeugt ist. Empörung und Überzeugung bedingen und bekräftigen sich, schaukeln sich hoch. Überzeugung kann sich einer die Wirklichkeit (bis zur Widerlegung) treffenden Feststellung verdanken oder einem Glauben entspringen, der schon seiner Überzeugtheit halber einfach richtig liegen muss. Empörung wurzelt also in allem möglichen, und wenn Empörte, um dem reinen, authentischen Ausdruck ihres Gefühls, auf den es ihnen ankommt, eine möglichst breite gemeinsame Bühne zu bereiten, darauf verzichten, sich untereinander mit dessen Fundierung auseinanderzusetzen, so bringt ihnen das – »egal, weshalb genau« – einen Pyrrhussieg.
Wenn von vielen geteilt, kann das Gefühl als Triebkraft mächtig werden und sich öffentlichkeitswirksam, wie bei Friedens- und Coronademos geschehen, »einbringen«. Das ist der Sieg. Wenn, wie es gang und gäbe ist, nach dem Motto »Hauptsache, wir sind viele« – nur darauf komme es an – ein Zusammengehen mit über dasselbe Faktum Mitempörten als größtmöglicher Zweckbündnis- und Querfronterfolg angestrebt wird, so ist es für dessen Erzielung nur hinderlich, nach Unterschiedlich-, ja Gegensätzlichkeit von Beweggründen zu fragen. Mit solch wechselseitigem »Andocken« verschwinden im Umkleideraum gelassene Differenzen aber nicht; gerade nach erfolgreicher Zurschaustellung der »Einigkeit« muss letztere auseinanderlaufen bzw. sich mit hierzulande äußerst verpönter Zerstrittenheit wieder dementieren. Das ist der Preis, der den Sieg mindert. Was tun? Das Allheilmittel, einen Kampf verschiedener Linien zu überwinden, liegt gemeinhin darin, sich nur insofern weiter um deren Absichten zu scheren, als sich allgemeingültige und somit nicht zu übertreffende Werte ankarren lassen, die vom Gegenüber einfach geteilt werden müssen, so er nicht als Untugendbold dastehen möchte.
Ein banales Beispiel aus dem Alltagsleben: Im Getränkemarkt begab sich eine gerade eingetretene, unsensibel ausgedrückt: »eingewickelte« Dame vor die wartende Pfandflaschenrückgabeschlange und verlangte sofortige Bedienung. Der Vordermann in der Schlange steuerte zu diesem empörenden Verhalten sinngemäß die folgende Belehrung bei: Im Heimatland der Dame habe er als Musiker schon vor dem König gespielt und aus hohem Munde vernommen, dass »ihr die von uns kriegt, die wir nicht bei uns haben wollen«. Der exemplarische Kommentar hat es in sich.
Erstens: Es wird eine Schädigung wahrgenommen, die empörend, da nicht zulässig ist, zumindest moralisch nicht. Die auch in zig Publikationen beklagte neuerdings eingerissene und guter alter Sitte verlustig gegangene Rüpelhaftigkeit modernen Benimms ist der Auftakt zum Zweiten, dem »Typisch!«, das ganz offensichtlich nicht von hier stammen kann, denn wenn Deutsche rüpeln, dann sind sie bloß schwarze Schafe typisch deutscher Tugenden. Drittens geht der Kommentar jedem Angesprochenen gegenüber von der selbstverständlichen Übereinstimmung darin aus, dass das beanstandete Verhalten einer Einzelnen den Ausschluss aus einer »guten« nationalen Gemeinschaft rechtfertigt. Damit hat sich eine Alltagskränkung in ein paar Sätzen zu einer zwar banalen, gängigen, vor allem aber »wertigen« Empörung hochgearbeitet, denn eigentlich geht es um nichts weniger als den Untergang des Abendlandes: »Wir« gegen »die Feinde der Nation«. Anders ausgedrückt: »Wir« verschaffen den »Drittweltländern« mit dem Deponieren unseres Mülls bei ihnen ein Geschäft, und zum Dank spülen sie »uns« hier als menschlicher Müll Angesehene an die Ufer. So etwas haben »wir« nicht bestellt!
Nach der Illustration des Generalbasses heutigen Meinens nochmals die Frage: Handelt es sich bei eigener Empörung um eine, die zutreffende Gründe materieller Schädigung kennt – oder sieht sie sich im großen ideellen, tatsächlich unterbügelnden »Wir« gut aufgehoben? »Check your indignation!« Eine Empfehlung: Wenn man empört ist, dann gibt es dafür nicht nur die im Wertekanon gelisteten, sondern auch jede Menge als »niedere« gebrandmarkte Beweggründe; für Empörung nicht über Ungerechtigkeit, sondern über Verhältnisse, die systematisch dafür sorgen, dass Reproduktionsbedürfnisse derer, die sich verdingen müssen, gerade auch mit sozialpolitischer Ausgestaltung, chronisch gefährdet bleiben müssen. Das wäre doch wirklich einmal »gefühlsecht».