Die Verbindung mit Gerhard Wolf, die sich für mich über Jahrzehnte hinweg zu einer Freundschaft verfestigte, reicht bis 1965 zurück.
Der Schriftstellerverband der DDR lud junge Lyriker ein, um sich mit Gedichten vorzustellen. Auch mich, der ich noch fest in mein Ingenieursdasein eingebunden war. Zu den Gutachtern gehörte Gerhard Wolf, der als Lyriklektor bereits als Instanz galt. Nachdem ich gelesen hatte, sprach er mich an und lud mich zu sich nach Kleinmachnow ein. Ich erinnere mich an einen sonnigen Tag in seinem Arbeitszimmer, an ein lockeres Gespräch über meine mitgebrachten Gedichte (aha, interessant, nicht schlecht). Dieses Gespräch sollte sich als Auftakt für mein erstes Buch, den Gedicht-Band »Eine Straßenbahn für Nofretete«, und damit überhaupt als Einstieg in die literarische Phalanx für mich erweisen.
In dem von ihm verfassten Verlagsgutachten, das ich erst nach Jahren sah, heißt es: Die Sprechweise gewinne ihren Ton aus Zurückhaltung und behutsamer Pointierung, die dem scheinbar Unscheinbaren Sinn verleiht, er poetisiere nicht. Es war wohl diese Haltung, die eine Grundsympathie bei ihm auslöste. Gedichte blieben eine der tragenden Säulen unserer Verbundenheit.
Auch jetzt, nachdem Jahrzehnte als Filter vor der Existenz der DDR liegen, erweist sich nach wie vor, was offensichtlich war – die Lyrik der DDR von Wert ist ohne ihn nicht denkbar. Von Anfang an. Huchel, Arendt, Hermlin, die eine halbe bis ganze Generation Älteren waren die ersten, für die er sich, damals selber gerade dreißig, einsetzte. »Lyrik heute – Dichter lesen« hieß die programmatische Veranstaltung 1957, Kunert, Walter Werner, Cibulka, Kunze. Es waren nicht nur die Gleichaltrigen, denen er auf ihren literarischen Weg verhalf, sondern die nonkonformistischen, die sich herumschlugen mit dem Widerspruch zwischen sozialistischem Ideal und der vielfältigen Lebensverengung im Alltag.
Er war nicht nur Mentor, sondern geistig-ästhetischer Helfer und Ratgeber und als Lektor gleichzeitig praktischer Verwirklicher. Er verhalf Gedichten zu ihrem Dasein in Büchern, zu öffentlichem Leben, zur ständigen Verfügbarkeit, bis heute. Bekanntschaft mit uns selbst und Sonnenpferde und Astronauten hießen von ihm herausgegebene maßstabsetzende Anthologien der nächsten, zehn Jahre jüngeren Altersgruppe, die das Training des aufrechten Gangs fordernd proklamierte: Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Karl Mickel, Kurt Bartsch, Adolf Endler, Elke Erb … Wer Gerhard Wolfs Zuwendung erfuhr, war dichterisch geadelt. Zwischen diesen Autoren, die zum lyrischen Markenzeichen der DDR wurden, die den Staat verunsicherten, wenn nicht gar erschütterten, steht sein Name. Wie auch zwischen denen der letzten Generation, die die DDR noch hervorbrachte, die diesen Staat jedoch abwies, soweit es sich machen ließ: Bert Papenfuß, Stefan Döring, Jan Faktor, Sascha Anderson. Selbst für sie, die sich vorsätzlich verweigerten, oder so taten, fand er den Weg zu Büchern. Indem er benannte, wie es war: Außer der Reihe.
Er hat viel geleistet und erstaunlich viel erreicht. Ohne sich zu verraten, so groß die Anfechtungen auch waren. Er erkaufte nichts mit faulen Kompromissen. Diplomatie, Höflichkeit waren für ihn Fremdwörter – so charakterisierte ihn Christa Wolf.
Sein Credo war kein ideologisches, es war ein ethisches: Wahrhaftigkeit, die sich durch Sprach- und Denkvermögen zu Dichtung sublimiert. Und das war auch seine Lebensmaxime. Er gehörte zu den zwölf Initiatoren des Protests gegen die Ausbürgerung Biermanns aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Er war dagegen und blieb es. Er war verlässlich. Große Reden waren seine Sache nicht. Von sich sprach er nie. Über seine eigenen Bücher schon gar nicht. Denn er war selbst ein vorzüglicher Autor. Den Anspruch, den er an andere stellte, erhob er auch für sich. Er war von anspruchsvoller Bescheidenheit. Natürlich ging es in seinen Büchern nicht um ihn: Es geht um den Armen Hölderlin, um die scheinbaren Narreteien Till Eulenspiegels, um das Schicksal Johannes Bobrowskis (Beschreibung eines Zimmers).
Seine literarischen Beziehungen und Kenntnisse wurzeln tief. Essays und die von ihm gemeinsam mit Günter der Bruyn herausgegebene Reihe »Märkischer Dichtergarten« bezeugen es. Er war von universellem Kunstverstand. Sein sicheres Urteilsvermögen blieb nicht auf Literatur beschränkt, es betraf Malerei und Graphik nicht weniger. So wurden Maler und Graphiker und ihre Arbeit immer wieder seine Themen: Albert Ebert, Wieland Förster, Elena Liessner-Blomberg, Hartwig Hamer … Er publiziert ihre Arbeiten in erlesenen Büchern.
Gerhard Wolf nutzte die Wende. Er machte sich frei von der Abhängigkeit von Verlegern, von Bevormundung. Er gründete seinen eigenen Verlag. Januspress nennt er ihn listig. Er erfüllte sich einen mehrschichtigen Traum. Selbst Verleger zu sein und sein eigener Herr. Zu verlegerischer Höchstform katapultierte er, wenn es auf text-bildliche Gesamtkunstwerke hinauslaufen konnte, auf Sprachblätter (Carlfriedrich Claus), auf Reflexe aus Papier und Schatten (Martin Hoffmann), auf Sonette mit Zeichnungen des Künstlers (a.r.penk). Er war nicht nur eine Instanz für Lyrik, er liebte Bücher.
Durch meinen Wechsel von Dresden nach Berlin, wo inzwischen auch Wolfs wohnten, und durch meine Frau, Daniela Dahn, die vorher ebenfalls in Kleinmachnow gelebt und Umgang mit Christa Wolf und zur Familie gehabt hatte, entstand eine Familienfreundschaft. Die sich intensivierte, als wir mit unseren Sommergrundstücken in Mecklenburg benachbart waren. Ohne Gerhard Wolfs Ratschläge und praktische Hilfe ist mir die Nutzbarkeit unseres alten Bauernhofes kaum vorstellbar. Wir erlebten Gerhard Wolf in seinem ganz praktischen Vermögen und Wert. Den Menschen im Ganzen. Er vermittelte Handwerker, gab Tipps wo und wie Baumaterial und andere hundert Sachen zu bekommen sind. Wir erlebten, mit welcher Kennerschaft, Professionalität und Hurtigkeit er köstliche Essen, ja, Menüs verfertigte. Und er war ein hervorragender Weinkenner. Unvermeidlich ging es in Gesprächen um Bücher, ihre und unsere und um die aktuellen Zumutungen, die die gesellschaftlichen Zustände hervorriefen. Das hat sich erledigt. Unser Grundstück jedoch profitiert immer noch von seiner Zuwendung. Für seine Malven fühlte er sich verantwortlich, die idealen Stellen an unseren Ziegelmauern auszusuchen. Sie schmücken, nachdem der Brand ihres Hauses sie zum Ortswechsel zwang, immer noch unser Grundstück, mittlerweile nach Jahrzehnten.
Der Brand setzte zwar ein bitteres Ende der direkten Nachbarschaft. Jedoch nicht unserer Verbundenheit. Während Gerhard Wolf die Wende sinnvoll nutzte, wird Christa Wolf einer scham- und skrupellosen Kampagne der Aburteilung und Denunziation ausgesetzt, stellvertretend für Leistungen der DDR überhaupt. Auch in meiner Rolle im PEN erlebe ich es, und wehrte mich, auch für sie.
Literarisch bedingte Begegnungen rissen freilich nicht ab, mit neuen Beteiligten und neuen Herausforderungen. Auch Geburtstags- und Silvesterrunden setzten sich fort. Zu seinem 85. Geburtstag widmete ich ihm das Gedicht »Ein Menschen im Ganzen«. Nach Christas Tod wollte er sich nicht anmerken lassen, was ihm verloren gegangen ist. Selbst mit der stetig steigenden Zahl der Lebensjahre behielt er seine geistige Frische. Er steckt die Jahre weg, dachte ich. So war es nicht. Ganz zuletzt doch Hospiz.
Für den 7. Februar hatten wir dort einen Besuch verabredet. Um Stunden zu spät. Nun gilt es, sich an seine Bücher zu halten, zumal ans letzte, »Herzenssache«, das er unbedingt noch fertigbringen wollte.