Sich an bestimmte Regeln zu halten, um seine Mitmenschen und sich selbst so gut wie möglich zu schützen, dürfte angesichts der Corona-Epidemie sinnvoll sein – wenn damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt, das krank gesparte Gesundheitswesen vor Überlastung bewahrt und das Leben besonders gefährdeter Personen geschützt werden kann. Dennoch sollten wir die gegenwärtige alptraumhafte Situation im Gefolge des Coronavirus und dirigistischer staatlicher Zwangsmaßnahmen kritisch hinterfragen sowie auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit überprüfen. Schließlich gehört das zu einer lebendigen Demokratie.
Die folgenden skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen sollen dazu beitragen, die komplexe und unübersichtliche Problematik einigermaßen in den Griff zu bekommen und bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene und kontroverse Debatte – eine Debatte, die aktuell immer noch unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck leidet.
Erstens: Das Coronavirus gefährdet nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch verbriefte Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – »dank« der obrigkeitsstaatlichen Abwehrmaßnahmen, die tief in das Leben aller Menschen eingreifen: Abwehrmaßnahmen, die schwerwiegende gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Kosten und dramatische Langzeitfolgen verursachen.
Zweitens: Wir erleben einen gesundheitspolitischen Ausnahmezustand in Echtzeit und auf unbestimmte Dauer. Wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik werden durch die zwangsbewehrten Kontakt- und Versammlungsverbote elementare Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt, teilweise vollkommen unterdrückt: Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit sowie die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbe- und Reisefreiheit. Praktisch das gesamte private, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Leben eines ganzen Landes mit 83 Millionen Bewohnern kommt weitgehend zum Erliegen – um Gesundheit und Leben zu schützen. Schutzgüter, denen ansonsten nicht immer so viel Wertschätzung zuteil wird, denken wir nur etwa an Agrargifte, Umweltbelastung, Verkehrstote durch Raserei, 25.000 Tote pro Jahr durch multiresistente Krankenhaus-Keime, Zigtausende ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, Waffenexporte in Krisengebiete und an Diktaturen, verheerende Wirtschaftssanktionen oder Kriegsbeteiligungen.
Drittens: Unter solchen Bedingungen des Ausnahmezustands ist jede organisierte Gegenwehr und kollektive Meinungsäußerung im öffentlichen Raum tabu – ob in Form von Protesten, Demonstrationen oder Streiks. So etwa Demos gegen den Ausnahmezustand, gegen die Entwicklung zum »totalitären Staat«, gegen die existenzbedrohenden Folgen einer bevorstehenden Wirtschaftskrise oder aber gegen die kollektive Verdrängung der katastrophalen Zustände in griechischen Flüchtlingslagern. So wird politische und soziale Teilhabe weitgehend ausgebremst, so werden Versammlungsfreiheit und Streikrecht per Allgemeinverfügung ausgehebelt und damit in ihrem Wesenskern verletzt – in der Regel selbst dann, wenn die Aktivisten Sicherheits- und Abstandsregeln beachten.
Viertens: Auch bei großer Gefahr sind staatliche Instanzen gehalten, gesetzes- und verfassungsgemäß zu handeln – was jedoch in Zeiten der »Corona-Krise« und unter dem Primat der Gesundheitsvorsorge (»überragendes Schutzgut der menschlichen Gesundheit und des Lebens«) nicht mehr in Gänze zu gelten scheint. Doch auch in solchen Zeiten sind die sozialen Verwerfungen und gesundheitlichen Langzeitfolgen der Beschränkungen des täglichen Lebens in die Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einzubeziehen – was derzeit offenbar nicht geschieht. Denn in einem demokratischen Rechtsstaat müssen sich die Bürger*innen auch in einer Krise darauf verlassen können, dass in die Freiheitsrechte nicht unverhältnismäßig, nicht rechts- und verfassungswidrig eingegriffen wird.
Fünftens: Doch genau das passiert im Frühjahr 2020 – sowohl mit dem verschärften Infektionsschutzgesetz als auch mit Allgemeinverfügungen und Verordnungen der Bundesländer: In manchen Ländern ist etwa das Verlassen der Wohnung ohne triftigen Grund untersagt – was die Privat- und Intimsphäre tangiert. In Berlin wird schon das Lesen eines Buches auf einer einsamen Parkbank oder Picknick mit zwei Personen polizeilich geahndet. In Sachsen dürfen sich Bewohner nur im Umfeld ihrer Wohnungen bewegen. Solche Verbote sind weder aus epidemiologischer Sicht notwendig, noch sind sie verhältnismäßig. Sie grenzen an Schikane und Willkür und müssten, ebenso wie die Schließung kleiner Geschäfte, unverzüglich aufgehoben werden.
Sechstens: Die meisten Anordnungen des Bundes und der Länder dürften hinsichtlich Kontakt- und Versammlungsverboten ohnehin nicht verfassungsgemäß sein, weil dafür eine taugliche Rechtsgrundlage fehlt. So sieht es unter anderem auch die Staatsrechtlerin Andrea Edenharter: Das Infektionsschutzgesetz erlaube individuell, zeitlich und räumlich nur »eng eingegrenzte Beschränkungen«. Wochenlange Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für das gesamte Land und seine gesamte, überwiegend gesunde Bevölkerung ließen sich daraus nicht ableiten; das verletze den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit (FR 26.3.2020). Derzeit werden mehrere Klagen gegen die erlassenen Verordnungen und Maßnahmen vorbereitet.
Siebtens: Auch die parlamentarische Demokratie leidet in der »Corona-Krise«: Die Opposition scheint lahmgelegt, die demokratische Kontrolle ausgehebelt. Die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes, auf das die Kontaktverbotsmaßnahmen gestützt werden, erfolgte im Schnellverfahren – ohne Experten-Anhörungen und ohne Politikfolgenabschätzung. Obwohl es sich um existentielle Maßnahmen von großer Tragweite handelt. Jetzt kann der Bundestag befristet die sogenannte epidemische Lage von nationaler Tragweite ausrufen, sobald eine »ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit« festgestellt wird – mit der Folge, dass weitreichende Macht- und Entscheidungsbefugnisse vom Parlament auf den Bundesgesundheitsminister übertragen werden. Diesen Gesundheitsnotstand hat der Bundestag gleich am 26. März öffentlich deklariert.
Achtens: Nach dem novellierten Infektionsschutzgesetz kann der Bundesgesundheitsminister per Dekret Grenzen schließen lassen, Meldepflichten anordnen, Quarantäne-Bestimmungen erlassen, Vorgaben zur Versorgung mit Medikamenten und Schutzausrüstung machen, Einschränkungen der Bewegungs- und Reisefreiheit sowie Aufenthalts- und Kontaktverbote verfügen, ebenso Tätigkeitsverbote für bestimmte Berufsgruppen, Verbote von Veranstaltungen bis hin zur Schließung öffentlicher und privater Einrichtungen et cetera. Die Verbote sind mit Polizeigewalt durchsetzbar, Zuwiderhandlungen werden mit drastischen Bußgeldern und Strafen bedroht. Außerdem kann der Minister Ausnahmen von geltenden Gesetzen verfügen, etwa um Medikamente oder Impfstoffe unter erleichterten Bedingungen zuzulassen. Mit diesen Regelungen wird die verfassungsrechtliche Bindung der Regierung an Gesetze unterlaufen. Solche zentralisierten Blanko-Ermächtigungen der Exekutive ohne parlamentarische Kontrolle und Ländermitwirkung unterminieren die Verfassungsgrundsätze der Gewaltenteilung und des Föderalismus, weshalb diese Ermächtigungsnormen nach Auffassung etlicher Verfassungsrechtler*innen auch verfassungswidrig sein dürften.
Neuntens: In der Krise besteht darüber hinaus die Gefahr, dass ohnehin problematische Trends noch verstärkt werden: So die Militarisierung der »Inneren Sicherheit« sowie die zunehmende staatliche Überwachung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) strebt weiterhin die Ortung von Handys an: Auf diese Weise könnten automatisiert Bewegungs- und Verhaltensmuster der Mobilfunk-Nutzer erstellt werden, um festzustellen, mit welchen Personen Infizierte Kontakt hatten. Das wäre ein schwerer Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Weitergabe anonymer Telekommunikationsdaten unter anderem durch die Telekom an das Robert-Koch-Institut erfolgt bereits seit Längerem. Und künftig sollen es Apps auf Handys richten, die über Bluetooth sämtliche Kontakte zu anderen Handys mit Apps in der Nähe registrieren und für bestimmte Zeit speichern. Damit könnten im Falle der Infizierung eines der Handybesitzer die anderen informiert werden. Dies solle auf »freiwilliger Basis und anonymisiert« geschehen. Ob das wirklich funktioniert, ist fraglich, vor allem wenn nicht eine starke Mehrheit von Handybesitzern solche Apps installiert. Im Übrigen ist Vorsicht geboten, weil die digitale Überwachung sozialer Kontakte mehr als heikel wäre – und möglicherweise ein Einfallstor für weitere Begierden. So werden von einigen Gesundheitsbehörden bereits illegal persönliche Daten von Corona-Infizierten und Kontaktpersonen an die Polizei gemeldet. Whistleblower Edward Snowden warnte angesichts der Corona-Überwachungsphantasien bereits vor einem weiteren Schritt in den Überwachungsstaat.
Zehntens: Noch eine Trend-Verstärkung droht im Zuge der »Corona-Krise«: Die Bundeswehr wird bereits im Logistik- und Sanitätsbereich und für Desinfektionsaufgaben unterstützend eingesetzt – was sicher sinnvoll ist. Sie hat bereits 15.000 Soldaten für den Inlandseinsatz zur Unterstützung von Ländern und Kommunen mobilisiert, bereitet sich aber auch auf die Unterstützung der Polizei vor. Doch polizeiähnliche Exekutivbefugnisse des Militärs im Inland sind verfassungsrechtlich umstritten, da Polizei und Militär, ihre Aufgaben und Befugnisse strikt zu trennen sind – eine wichtige Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Bundeswehr ist keine nationale Sicherheitsreserve im Inland, schon gar nicht mit hoheitlichen Kompetenzen und militärischen Mitteln. Soldaten sind keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet; und sie sind auch nicht dafür da, personelle Defizite der Polizei auszugleichen.
Elftens: Inzwischen sind die wirtschaftlichen Folgen der verordneten Einschränkungen in den Fokus geraten und sollen mit einem umfangreichen und milliardenschweren Hilfspaket der Bundesregierung abgemildert werden – was jedoch berufliche Existenzverluste nicht verhindern wird. Weit weniger im Blick der öffentlichen Diskussion sind die drohenden sozialen Verwerfungen – besonders bedrohlich für sozial Benachteiligte, Arme, Obdachlose und Geflüchtete. Auch die gesundheitlichen Langzeitschäden werden zum gesellschaftlichen Problem: Denn das wochen-, möglicherweise monatelange Kontakt- und Versammlungsverbot kann zu Vereinsamung und sozialer Verelendung führen, zu existentiellem Stress und psychischen Störungen, zu Spiel- und Alkoholsucht, zu Depressionen und Suizidgefahr, aber auch zu Aggressionen und häuslicher Gewalt. All das sind Risikofaktoren für Krankheitshäufigkeit und höhere Sterblichkeit. »Wenn jetzt einzelne Todesfälle verhindert werden, sich dafür aber in den nächsten Jahren die Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung erhöht, wäre die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht gewahrt«, mahnt Stefan Willich, der Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité (Tagesspiegel 24.3.2020).
Zwölftens: Dass in angsterfüllten Zeiten der »Corona-Krise« und der politisch und massenmedial stark befeuerten Unsicherheit nur wenige nach dem hohen Preis rigider staatlicher Eingriffe fragen, ist angesichts der gesundheitlichen Gefährdungen zwar auf den ersten Blick nachvollziehbar, aber auf Dauer kurzsichtig. Denn langfristig könnten sich Abwehrmaßnahmen dieser Art auf die Gesellschaft zerstörerischer auswirken als die Abwehrgründe selbst. »Ansteckend ist Corona und ansteckend ist die Angst davor«, schreibt Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) Mitte März: »Angst macht süchtig nach allem, was die Angst zu lindern verspricht.« Aber man müsse doch fragen, »was angerichtet wird, wenn Grundrechte und Grundfreiheiten stillgelegt und das gesellschaftliche Miteinander ausgesetzt werden«. Doch wenn Gefahr und Verunsicherung nur groß genug erscheinen, dann nimmt der Großteil der Bevölkerung gesellschaftliche und individuelle Einschränkungen offenbar zustimmend, resignierend oder aber willfährig hin, teilweise auch in vorauseilendem Gehorsam. Anscheinend bekommt die Sehnsucht nach autoritärer Führung und autoritären »Lösungen«, nach klaren Ansagen und Anordnungen sowohl in Zeiten des Terrors als auch in Zeiten von Corona – überhaupt in Zeiten von Krisen, Katastrophen und Unsicherheit – erheblichen Aufwind. Der hilflose Schrei nach dem starken autoritären Staat ist unüberhörbar.
Dreizehntens: Das zeigt die riesengroße Akzeptanz der immer drastischeren Einschränkungsmaßnahmen, mit denen extreme Eingriffe in die Freiheitsrechte verbunden sind: 88 Prozent der Befragten sind damit einverstanden. Jeder Dritte wünscht sich sogar noch härtere Einschränkungen, Zweidrittel erwarten noch weitere Verbote zur Vermeidung zwischenmenschlicher Kontakte. Nur acht Prozent der Bundesdeutschen halten die Maßnahmen für überzogen (SZ 26.3.2020). Der Historiker René Schlott spricht von »erschütternder Bereitwilligkeit seitens der Bevölkerung«, die Außerkraftsetzung von Rechten als alternativlos hinzunehmen, »die in Jahrhunderten mühsam erkämpft worden sind«. Er spricht angesichts der Kontaktsperren und Versammlungsverbote vom »Rendezvous mit dem Polizeistaat« und warnt davor, die »offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten« (Augsburger Allgemeine 18.3.2020; Spiegel 1.4.2020).
Vierzehntens: Doch trotz grundsätzlicher Akzeptanz in der Bevölkerung wächst allmählich Unmut. Tatsächlich wäre es absolut unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, die ganze Bevölkerung für Monate weitgehend einzusperren – oder gar so lange, bis ein Impfstoff gefunden wird. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, warnt vor der »Erosion des Rechtsstaats«, sollten sich die »extremen Eingriffe in die Freiheit aller« noch lange hinziehen (faz.net 2.4.2020). Politik und Verwaltung müssten deshalb immer wieder prüfen, ob weniger einschneidende Maßnahmen möglich seien. Doch eine tragfähige und nachvollziehbare Exit-Strategie, die aus der Lähmung des öffentlichen Lebens herausführen könnte, gibt es bei Ossietzky-Redaktionsschluss immer noch nicht – auch wenn der Ruf nach einem abgestuften Ausstiegsszenario lauter wird.
Fünfzehntens: Die Corona-Notstandsmaßnahmen führen mit Sicherheit in eine scharfe Wirtschafts-, Gesellschafts-, Demokratie- und Verfassungskrise. Und es besteht die Gefahr, dass sie einen Beschleunigungs- und Gewöhnungseffekt auslösen in Richtung der Normalisierung von Ausnahmerecht. Und so fragt Heribert Prantl zu Recht, ob die Corona-Krise wohl »zur Blaupause für das Handeln in echten oder vermeintlichen Extremsituationen« werden könnte. Und womöglich nicht nur in Extremsituationen, sondern auch im Alltag. Denn der moderne Ausnahmezustand tendiert dazu, zum rechtlichen Normalzustand der Krisenverhütung und Krisenbewältigung zu mutieren. Wie im Zuge der Antiterror-Aufrüstungspolitik nach 9/11, als der Ausnahmezustand nach und nach verrechtlicht wurde – mit Gesetzen, die Freiheitsrechte beschneiden und längst schon als »Notstandsgesetze für den Alltag« qualifiziert werden können. Nun folgt also die Verrechtlichung des Gesundheitsnotstands; und auch hier droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden – wie es der Soziologe Ulrich Beck angesichts der Entwicklung einer »Risikogesellschaft« schon Mitte der 1980er Jahre prognostizierte. Jetzt ist höchste Wachsamkeit gefragt, damit sich der Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert und die autoritäre Wende sich nicht verfestigt.