Dieser ungeheuerliche Krieg lässt mich nicht schlafen, aber auch so manche der jetzt schnell und unisono beschlossenen Folgemaßnahmen rauben mir den Schlaf.
Meine Gedanken sind beim ukrainischen Volk, insbesondere bei meinen vielen langjährigen wissenschaftlichen Kooperationspartnern und Freunden, so z. B. bei meinen väterlichen Wissenschaftlerkollegen Alexei und Anton, die mich 1989/90 in ihrem Labor in Kiew aufgenommen haben und die nun beide fast 90-jährig mit ihren Frauen in der Innenstadt von Kiew ausharren.
Meine Gedanken sind bei unseren aktuellen Kooperationspartnern Tamara, Dima, Sergei und Oleg. Oleg, unser Haus steht Deinen beiden Töchtern offen, sofern ihnen die Flucht – unbeschadet von abscheulichen Menschenhändlerbanden – gelingen sollte.
Meine Gedanken sind bei meinem Kollegen Andrey, der zufällig zu Kriegsausbruch zu einem Forschungsaustausch in Deutschland weilte und nun um seinen Sohn bangt, der aufgrund des verhängten Kriegsrechts die Ukraine genauso nicht verlassen darf wie die vielen jungen Familienväter, die ihre flüchtenden Frauen und Kinder an den Grenzen der Ukraine allein weiterziehen lassen müssen.
Meine Gedanken sind bei der Kiewer Doktorandin Darina, die vor 5 Jahren in meinem Labor forschte und inzwischen in Deutschland lebt und arbeitet. Darina, wir denken noch an dieses wundervolle Festmahl kurz vor Weihnachten 2018, welches Deine fürsorgliche Mama in Eurer engen Wohnung in einem Kiewer Randbezirk für Deine Freunde aus Österreich und Deutschland gezaubert hatte. Wir erinnern uns aber auch an Deine Sorgen damals, dass die Ehe Deiner Eltern an den von Deiner Mutter nicht zu akzeptierenden ultranationalistischen Ansichten Deines Vaters zu zerbrechen droht.
Darina, ich teile Dein Entsetzen darüber, dass Deine in Deutschland arbeitenden russischen Kollegen, die z. T. seit drei Jahrzehnten bestausgebildet auf niedrig dotierten befristeten Stellen Spitzenforschung betrieben haben, nun plötzlich mit Vertragskündigungen rechnen müssen.
Meine Gedanken sind auch bei den mutigen russischen Frauen und Männern, die in ihrem Heimatland gegen diesen Krieg demonstrieren und das mit Freiheitsentzug bezahlen. Meine Gedanken sind aber auch bei denjenigen russischen Frauen und Männern, die momentan in schlaflosen Nächten mit sich ringen, diesen Schritt zu gehen, ebenso bei allen, die in Russland unter diesem Krieg leiden.
Weiter gehen meine Gedanken heute auch 20 Jahre zurück, als die afroamerikanische Abgeordnete Barbara Lee, als einzige Vertreterin beider Kongresskammern der USA, gegen die Autorisierung militärischer Gewalt als Antwort auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 gestimmt hat. In diesem Zusammenhang sei auch an den aus Wien stammenden Walter Kohn (1923-2016) erinnert. Er gelangte durch die von Großbritannien organisierten »Kindertransporte« zur Rettung jüdischer Kinder 1938/39 nach England, promovierte 10 Jahre später in den USA in theoretischer Physik und erhielt 1998 den Nobelpreis für Chemie. Walter Kohn, dessen Eltern im Holocaust umkamen, initiierte im Januar 2003 eine Deklaration von 41 US-amerikanischen Nobelpreisträgern gegen den drohenden Irakkrieg. Leider blieb diese mutige Aktion ungehört. Zwei Monate später begann die als »Präventivkrieg« bezeichnete Aggression der USA und Großbritanniens auf ein Land auf einem anderen Kontinent, deren Begründung sich als falsch erwiesen hat und die zu unzähligen zivilen Opfern führte. Die verantwortlichen Staatsmänner haben sich mit einem »I am sorry« und Hinweis darauf, dass sie falsch informiert worden wären, aus der Affäre gezogen.
Letztlich sind meine Gedanken bei der jungen, beherzten Greta Thunberg, die jeden Freitag weltweit Zehntausende junge DemonstrantInnen für Klimagerechtigkeit und Frieden mobilisiert. Jeder Tag, der dieser Krieg länger dauert, jede Waffe, die in das Kriegsgebiet geliefert wird, jeder Euro, der jetzt für die Rüstung locker gemacht wird, verschlimmert nicht nur das Leid von Unschuldigen, sondern befeuert auch den die gesamte Menschheit bedrohenden Klimawandel.