Der Internationale Gerichtshof und der UN-Sicherheitsrat haben, beide mit verbindlicher Wirkung, einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg gefordert. Doch Israel kümmert sich nicht um die auch die eigene Regierung bindenden Entscheidungen. Die Anzahl der Opfer steigt täglich, selbst ausgewiesene Flucht- und Sicherheitszonen sind nicht vor gezielten Angriffen sicher. Wer nicht bei der immer wiederkehrenden und deprimierenden Aufzählung der Opfer stehen bleiben will, sollte nach den Gründen für die vollkommen aus den Normen geratene Kriegswut fragen. Der Hintergrund der Kriegsziele und ihrer Motive mag da einigen Aufschluss geben.
Betrachten wir also die Intention und Strategie der beiden Hauptbeteiligten Israel und USA: In einem Weißbuch, das mehr als eine Woche nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 veröffentlicht wurde, präsentiert das »Institut für nationale Sicherheit und zionistische Strategie« einen Plan für die Umsiedlung und endgültige Eingliederung der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens in Ägypten«, der auf der »einzigartigen und seltenen Gelegenheit zur Evakuierung des gesamten Gazastreifens basiert. Verfasser ist Amir Weitmann ein Investmentmanager und Gastforscher. Das Dokument beginnt mit der Feststellung, dass im benachbarten Ägypten 10 Mio. Wohnungen leer stehen, die »sofort« mit Palästinensern besetzt werden könnten. Weitmann schlägt vor, dass Israel diese Grundstücke für 5 bis 8 Milliarden Dollar kauft, was gerade einmal 1 bis 1,5 Prozent des israelischen BIP entsprechen würde.
Im Jahr 2004 legte der israelische Demograph Arnon Sofer von der Universität Haifa der Regierung von Ariel Scharon detaillierte Pläne für die Isolierung des Gazastreifens vor. Die Pläne umfassten den vollständigen Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gebiet und den Aufbau eines strengen Überwachungs- und Sicherheitssystems, das gewährleistet, dass niemand und nichts ohne israelische Genehmigung ein oder ausreisen kann. So geschah es dann auch, Scharon ließ 2005 die Armee abziehen und evakuierte die Siedler. 2006 nach dem Wahlsieg der Hamas verhängte er eine totale Blockade über den Gazastreifen. Sofer prophezeite ein ständiges Blutbad: »Wenn 2,5 Millionen Menschen in einem abgeriegelten Gazastreifen leben, wird das eine menschliche Katastrophe sein. Diese Menschen werden zu noch größeren Tieren werden, als sie es heute sind (…). Wenn wir also am Leben bleiben wollen, werden wir töten, töten und töten müssen. Den ganzen Tag, jeden Tag.« Prophetische Worte, die Israel keine zwanzig Jahre später in die Realität umsetzen sollte. Weitmann, der diese Pläne natürlich kannte, vermutet, dass Westeuropa »den Transfer der gesamten Bevölkerung des Gazastreifens nach Ägyptern« – eine vergleichbar humane Lösung – begrüßen wird. Auch Riad werde die Umsiedlung begrüßen, da die Evakuierung des Gazastreifens die Beseitigung eines wichtigen Verbündeten des Iran bedeutet.
Unabhängig von den ideologischen Triebkräften spielt natürlich die Überlebensstrategie Netanjahus in diesem Krieg eine besondere Rolle. Sein Rückhalt in der israelischen Bevölkerung ist stark geschrumpft: die zahlreichen Korruptionsvorwürfe, sein Angriff auf die Justiz mit einem offen rassistischen Kabinett und die wachsenden Zweifel an seiner Kriegsführung ohne erkennbare Rücksicht auf die Geiseln in Gaza. Eine Verständigung mit der Hamas über ein schnelles Ende des Krieges würde auch für ihn das Ende seiner politischen Immunität und den Anfang eines peinlichen Prozesses bedeuten. Es gibt Stimmen, die vermuten, dass Netanjahu den Krieg bis zu den US-Wahlen hinziehen wird und in dem möglichen neuen Präsidenten Trump seinen Rettungsanker sieht – eine trügerische Hoffnung.
Schauen wir auf die USA. Sie sind für Netanjahu und Israel seit Jahrzehnten der stärkste Verbündete, so wie Israel für die USA der wichtigste Pfeiler im Mittleren Osten ist. Das liegt nicht nur an der jüdischen und evangelikalen Lobby in Washington, sondern vor allem an den nach wie vor in der Region liegenden reichen Ölvorkommen. Die strategische Position eines unbedingt loyalen und abhängigen Partners im arabischen Umfeld ist zudem besonders wichtig in der sich stetig aufbauenden Konfrontation zur Volksrepublik China. Die Dominanz im Nahen Osten ist einer der Fixpunkte US-amerikanischer Außenpolitik seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Das bestätigte der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson kürzlich in einem Interview zum Gaza-Krieg: »Was Sie heute sehen, ist also nicht nur das Werk eines einzelnen Mannes, von Benjamin Netanjahu. Es ist das Werk des Teams, das Präsident Biden zusammengestellt hat. Es ist das Team von Jake Sullivan, dem Nationalen Sicherheitsberater Blinken, und dem ganzen tiefen Staat, der ganzen Neokon-Gruppe hinter ihnen, Victoria Nuland und allen anderen. Sie alle sind selbsternannte Zionisten. Und sie haben diesen Plan für die Beherrschung des Nahen Ostens durch Amerika Jahrzehnt für Jahrzehnt durchgespielt.«
Hudson meint sogar, dass die israelische Strategie der Besatzung und Kriegsführung auf den US-amerikanischen Praktiken und Erfahrungen im Vietnam-Krieg aufbaut. Ich will darauf hier nicht weiter eingehen. Ich stimme aber der Quintessenz seiner Analyse zu, dass die israelische Besatzungspolitik auf der gemeinsamen Strategie mit den USA beruht, den palästinensischen Faktor in der Region auszuschalten. Über die Methoden und Praktiken mag es, wie jetzt der Dissens über die Rafah-Offensive zwischen den Präsidenten Biden und Netanjahu zeigt, Meinungsverschiedenheiten geben – im gemeinsamen Ziel ihrer Politik sind sie sich aber einig.
Trotz aller öffentlichen Kritik an der gnadenlosen Kriegsführung der israelischen Armee, wenn es zur Abstimmung in der UNO kommt, kann Israel auf den Schutz der USA bauen. Die Stimmenthaltung der USA bei der Forderung nach einem Waffenstillstand im Sicherheitsrat, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA derzeit nicht gewillt sind, dieses Votum auch gegenüber der israelischen Regierung durchzusetzen. Sie wäre die einzige Regierung, die das könnte. Selbst schwere Kriegsverbrechen der israelischen Armee, die Biden jetzt rügt, veranlassen ihn nicht zu wirksamen Maßnahmen, diese zu unterbinden, zum Beispiel Stopp der Waffenlieferung oder Stopp der Finanzierung der Besatzung, so wie sie es unmittelbar nach den unbewiesenen Vorwürfen Israels gegen das UNRWA verfügt haben. Im Gegenteil, erst jüngst Mitte Mai hat Biden wieder einen Plan für Waffenlieferungen in Höhe von 1 Milliarde Dollar dem Kongress vorgelegt.
Blicken wir zum Schluss auf das Völkerrecht, welche Rolle es bisher in diesem Konflikt gespielt hat und welche Bedeutung es für die Beendigung des Völkermordes bekommen kann. Israel hat seit dem Krieg 1967 eine tiefe Verachtung des geltenden Völkerrechts durch seine Besatzung gezeigt. Es war mit Südafrika das am meisten durch die Institutionen der UNO verurteilte Land, und hat sich nie darum gekümmert. Das hat immer gut gepasst zu dem notorischen Völkerrechtsnihilismus der US-Administration, die das Völkerrecht der UNO-Charta durch eine »regelbasierte Ordnung« ersetzen möchte – wir kennen das. Es bedürfte dieser neuen Ordnung nicht, wenn man sich an das Völkerrecht hielte. Eine »regelbasierte Ordnung« hat jedoch den Vorteil, nach den eigenen Interessen gebastelt zu sein, nach der Devise: Die Regeln bestimmen wir. Alle Regierungen Israels haben keine Resolution akzeptiert und höchstens mit dem Vorwurf des Antisemitismus reagiert. Die internationale Gerichtsbarkeit konnte dabei niemals eingreifen, es fehlte schlicht an Klägern. Erst seit wenigen Jahren hat sich das grundsätzlich geändert. Es sind jetzt insgesamt vier Gerichtsverfahren vor den beiden Internationalen Gerichten in Den Haag gegen Israel anhängig.
Es geht um zwei Forderungen vor dem Internationalen Gerichtshof: Eine unmittelbar nach sofortigem Waffenstillstand, die andere nach Feststellung, dass der Krieg in Gaza ein Völkermord sei. Der Internationale Gerichtshof konnte sich erst nach dem dritten Antrag Ende Mai entschließen, den sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Das ist eine alle Beteiligten verpflichtende Resolution – wir haben gesehen, wie Israel reagiert hat. Das Gericht hat auch gesagt, dass der Vorwurf des Völkermords plausibel sei, eine endgültige Entscheidung darüber kann aber noch Jahre dauern.
Der Internationale Strafgerichtshof war schon nach dem schweren Angriff der israelischen Armee zum Jahreswechsel 2008/2009 mit über 2000 Toten von den Palästinensern angerufen worden. Die Untersuchungen wurden verzögert und haben sich lange hingezogen, bis der Chefankläger, der Brite Karim Khan, jetzt erst – 15 Jahre später – einen Haftbefehl gegen Netanjahu, Verteidigungsminister Gallant und drei Führungspersönlichkeiten der Hamas beim Gericht beantragt hat. Auf diese Entscheidung warten wir noch. Würde der Haftbefehl ausgesprochen, hätte das für Netanjahu und Gallant gravierende Folgen. Jeder der etwa 124 Staaten, die sich der Rechtsprechung des Gerichtes unterworfen haben, wäre verpflichtet, die beiden Politiker nach Den Haag auszuliefern, würden sie in einem der Staaten auftauchen.
Es ist allerdings eine Illusion zu glauben, die Justiz könnte das erreichen, was die Politik nicht kann. Sie hat keine Durchsetzungsgewalt und ist für die Durchsetzung ihrer Entscheidungen auf die Politik, genauer den UN-Sicherheitsrat, angewiesen. Dennoch, in der Geschichte der Staaten ist die seit 2000 in Den Haag errichtete Strafgerichtsbarkeit ein historischer Fortschritt. Es begann 1945 bis 1949 mit dem Nürnberger Tribunal der Alliierten. Es dauerte dann gut 50 Jahre der Verhandlungen, bis die Staaten 1998 ein internationales Strafgesetzbuch, das Römische Statut, verabschiedeten, dem bisher 124 Staaten beigetreten sind. Im Jahr 2000 wurde der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet und am 26. Mai 2024 zum ersten Mal ein Antrag eines Haftbefehls gegen einen Staatschef des Westens gestellt wurde. Es gab bis dahin nur Haftbefehle gegen Al Bashir im Sudan, Gaddafi in Libyen und Putin in Russland.
Der sehr viel ältere Internationale Gerichtshof in den Haag, der die Klagen der Staaten gegeneinander zu entscheiden hat, war schon einmal gegen einen Staat des Westens tätig gewesen, 1986, als Nicaragua gegen die USA klagte und in 11 Punkten siegte. Ein historischer Erfolg, der allerdings die USA nicht zur geforderten Entschädigung bewegen konnte. Und nun, am 26. Februar 2024, wurde zum zweiten Mal ein Staat des Westens, Israel, verurteilt. Wenn auch hier Israel ebenso das Urteil nicht beachtete, der Schaden für den Staat ist groß und die Bedeutung der internationalen Justiz ist gewachsen.
Blättern wir zurück. So brutal dieser Krieg seit dem 7. Oktober geführt wird und so sehr die Selektion der Ziele den genozidalen Charakter dieses Krieges unterstreicht, so hat er doch paradoxerweise die Bedeutung seiner derzeit einzigen Gegenkraft, der internationalen Justiz, gestärkt. Dennoch bleibt das Ziel, auch ihre Wirkung und Durchsetzungskraft zu stärken.