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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gaza: Krieg und Justiz

Der Inter­na­tio­na­le Gerichts­hof und der UN-Sicher­heits­rat haben, bei­de mit ver­bind­li­cher Wir­kung, einen Waf­fen­still­stand im Gaza-Krieg gefor­dert. Doch Isra­el küm­mert sich nicht um die auch die eige­ne Regie­rung bin­den­den Ent­schei­dun­gen. Die Anzahl der Opfer steigt täg­lich, selbst aus­ge­wie­se­ne Flucht- und Sicher­heits­zo­nen sind nicht vor geziel­ten Angrif­fen sicher. Wer nicht bei der immer wie­der­keh­ren­den und depri­mie­ren­den Auf­zäh­lung der Opfer ste­hen blei­ben will, soll­te nach den Grün­den für die voll­kom­men aus den Nor­men gera­te­ne Kriegs­wut fra­gen. Der Hin­ter­grund der Kriegs­zie­le und ihrer Moti­ve mag da eini­gen Auf­schluss geben.

Betrach­ten wir also die Inten­ti­on und Stra­te­gie der bei­den Haupt­be­tei­lig­ten Isra­el und USA: In einem Weiß­buch, das mehr als eine Woche nach dem Angriff der Hamas vom 7. Okto­ber 2023 ver­öf­fent­licht wur­de, prä­sen­tiert das »Insti­tut für natio­na­le Sicher­heit und zio­ni­sti­sche Stra­te­gie« einen Plan für die Umsied­lung und end­gül­ti­ge Ein­glie­de­rung der gesam­ten Bevöl­ke­rung des Gaza­strei­fens in Ägyp­ten«, der auf der »ein­zig­ar­ti­gen und sel­te­nen Gele­gen­heit zur Eva­ku­ie­rung des gesam­ten Gaza­strei­fens basiert. Ver­fas­ser ist Amir Weit­mann ein Invest­ment­ma­na­ger und Gast­for­scher. Das Doku­ment beginnt mit der Fest­stel­lung, dass im benach­bar­ten Ägyp­ten 10 Mio. Woh­nun­gen leer ste­hen, die »sofort« mit Palä­sti­nen­sern besetzt wer­den könn­ten. Weit­mann schlägt vor, dass Isra­el die­se Grund­stücke für 5 bis 8 Mil­li­ar­den Dol­lar kauft, was gera­de ein­mal 1 bis 1,5 Pro­zent des israe­li­schen BIP ent­spre­chen würde.

Im Jahr 2004 leg­te der israe­li­sche Demo­graph Arnon Sofer von der Uni­ver­si­tät Hai­fa der Regie­rung von Ari­el Scha­ron detail­lier­te Plä­ne für die Iso­lie­rung des Gaza­strei­fens vor. Die Plä­ne umfass­ten den voll­stän­di­gen Abzug der israe­li­schen Streit­kräf­te aus dem Gebiet und den Auf­bau eines stren­gen Über­wa­chungs- und Sicher­heits­sy­stems, das gewähr­lei­stet, dass nie­mand und nichts ohne israe­li­sche Geneh­mi­gung ein oder aus­rei­sen kann. So geschah es dann auch, Scha­ron ließ 2005 die Armee abzie­hen und eva­ku­ier­te die Sied­ler. 2006 nach dem Wahl­sieg der Hamas ver­häng­te er eine tota­le Blocka­de über den Gaza­strei­fen. Sofer pro­phe­zei­te ein stän­di­ges Blut­bad: »Wenn 2,5 Mil­lio­nen Men­schen in einem abge­rie­gel­ten Gaza­strei­fen leben, wird das eine mensch­li­che Kata­stro­phe sein. Die­se Men­schen wer­den zu noch grö­ße­ren Tie­ren wer­den, als sie es heu­te sind (…). Wenn wir also am Leben blei­ben wol­len, wer­den wir töten, töten und töten müs­sen. Den gan­zen Tag, jeden Tag.« Pro­phe­ti­sche Wor­te, die Isra­el kei­ne zwan­zig Jah­re spä­ter in die Rea­li­tät umset­zen soll­te. Weit­mann, der die­se Plä­ne natür­lich kann­te, ver­mu­tet, dass West­eu­ro­pa »den Trans­fer der gesam­ten Bevöl­ke­rung des Gaza­strei­fens nach Ägyp­tern« – eine ver­gleich­bar huma­ne Lösung – begrü­ßen wird. Auch Riad wer­de die Umsied­lung begrü­ßen, da die Eva­ku­ie­rung des Gaza­strei­fens die Besei­ti­gung eines wich­ti­gen Ver­bün­de­ten des Iran bedeutet.

Unab­hän­gig von den ideo­lo­gi­schen Trieb­kräf­ten spielt natür­lich die Über­le­bens­stra­te­gie Netan­ja­hus in die­sem Krieg eine beson­de­re Rol­le. Sein Rück­halt in der israe­li­schen Bevöl­ke­rung ist stark geschrumpft: die zahl­rei­chen Kor­rup­ti­ons­vor­wür­fe, sein Angriff auf die Justiz mit einem offen ras­si­sti­schen Kabi­nett und die wach­sen­den Zwei­fel an sei­ner Kriegs­füh­rung ohne erkenn­ba­re Rück­sicht auf die Gei­seln in Gaza. Eine Ver­stän­di­gung mit der Hamas über ein schnel­les Ende des Krie­ges wür­de auch für ihn das Ende sei­ner poli­ti­schen Immu­ni­tät und den Anfang eines pein­li­chen Pro­zes­ses bedeu­ten. Es gibt Stim­men, die ver­mu­ten, dass Netan­ja­hu den Krieg bis zu den US-Wah­len hin­zie­hen wird und in dem mög­li­chen neu­en Prä­si­den­ten Trump sei­nen Ret­tungs­an­ker sieht – eine trü­ge­ri­sche Hoffnung.

Schau­en wir auf die USA. Sie sind für Netan­ja­hu und Isra­el seit Jahr­zehn­ten der stärk­ste Ver­bün­de­te, so wie Isra­el für die USA der wich­tig­ste Pfei­ler im Mitt­le­ren Osten ist. Das liegt nicht nur an der jüdi­schen und evan­ge­li­ka­len Lob­by in Washing­ton, son­dern vor allem an den nach wie vor in der Regi­on lie­gen­den rei­chen Ölvor­kom­men. Die stra­te­gi­sche Posi­ti­on eines unbe­dingt loya­len und abhän­gi­gen Part­ners im ara­bi­schen Umfeld ist zudem beson­ders wich­tig in der sich ste­tig auf­bau­en­den Kon­fron­ta­ti­on zur Volks­re­pu­blik Chi­na. Die Domi­nanz im Nahen Osten ist einer der Fix­punk­te US-ame­ri­ka­ni­scher Außen­po­li­tik seit Ende des Zwei­ten Weltkriegs.

Das bestä­tig­te der US-ame­ri­ka­ni­sche Öko­nom Micha­el Hud­son kürz­lich in einem Inter­view zum Gaza-Krieg: »Was Sie heu­te sehen, ist also nicht nur das Werk eines ein­zel­nen Man­nes, von Ben­ja­min Netan­ja­hu. Es ist das Werk des Teams, das Prä­si­dent Biden zusam­men­ge­stellt hat. Es ist das Team von Jake Sul­li­van, dem Natio­na­len Sicher­heits­be­ra­ter Blin­ken, und dem gan­zen tie­fen Staat, der gan­zen Neo­kon-Grup­pe hin­ter ihnen, Vic­to­ria Nuland und allen ande­ren. Sie alle sind selbst­er­nann­te Zio­ni­sten. Und sie haben die­sen Plan für die Beherr­schung des Nahen Ostens durch Ame­ri­ka Jahr­zehnt für Jahr­zehnt durchgespielt.«

Hud­son meint sogar, dass die israe­li­sche Stra­te­gie der Besat­zung und Kriegs­füh­rung auf den US-ame­ri­ka­ni­schen Prak­ti­ken und Erfah­run­gen im Viet­nam-Krieg auf­baut. Ich will dar­auf hier nicht wei­ter ein­ge­hen. Ich stim­me aber der Quint­essenz sei­ner Ana­ly­se zu, dass die israe­li­sche Besat­zungs­po­li­tik auf der gemein­sa­men Stra­te­gie mit den USA beruht, den palä­sti­nen­si­schen Fak­tor in der Regi­on aus­zu­schal­ten. Über die Metho­den und Prak­ti­ken mag es, wie jetzt der Dis­sens über die Rafah-Offen­si­ve zwi­schen den Prä­si­den­ten Biden und Netan­ja­hu zeigt, Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten geben – im gemein­sa­men Ziel ihrer Poli­tik sind sie sich aber einig.

Trotz aller öffent­li­chen Kri­tik an der gna­den­lo­sen Kriegs­füh­rung der israe­li­schen Armee, wenn es zur Abstim­mung in der UNO kommt, kann Isra­el auf den Schutz der USA bau­en. Die Stimm­ent­hal­tung der USA bei der For­de­rung nach einem Waf­fen­still­stand im Sicher­heits­rat, soll­te uns nicht dar­über hin­weg­täu­schen, dass die USA der­zeit nicht gewillt sind, die­ses Votum auch gegen­über der israe­li­schen Regie­rung durch­zu­set­zen. Sie wäre die ein­zi­ge Regie­rung, die das könn­te. Selbst schwe­re Kriegs­ver­bre­chen der israe­li­schen Armee, die Biden jetzt rügt, ver­an­las­sen ihn nicht zu wirk­sa­men Maß­nah­men, die­se zu unter­bin­den, zum Bei­spiel Stopp der Waf­fen­lie­fe­rung oder Stopp der Finan­zie­rung der Besat­zung, so wie sie es unmit­tel­bar nach den unbe­wie­se­nen Vor­wür­fen Isra­els gegen das UNRWA ver­fügt haben. Im Gegen­teil, erst jüngst Mit­te Mai hat Biden wie­der einen Plan für Waf­fen­lie­fe­run­gen in Höhe von 1 Mil­li­ar­de Dol­lar dem Kon­gress vorgelegt.

Blicken wir zum Schluss auf das Völ­ker­recht, wel­che Rol­le es bis­her in die­sem Kon­flikt gespielt hat und wel­che Bedeu­tung es für die Been­di­gung des Völ­ker­mor­des bekom­men kann. Isra­el hat seit dem Krieg 1967 eine tie­fe Ver­ach­tung des gel­ten­den Völ­ker­rechts durch sei­ne Besat­zung gezeigt. Es war mit Süd­afri­ka das am mei­sten durch die Insti­tu­tio­nen der UNO ver­ur­teil­te Land, und hat sich nie dar­um geküm­mert. Das hat immer gut gepasst zu dem noto­ri­schen Völ­ker­rechts­ni­hi­lis­mus der US-Admi­ni­stra­ti­on, die das Völ­ker­recht der UNO-Char­ta durch eine »regel­ba­sier­te Ord­nung« erset­zen möch­te – wir ken­nen das. Es bedürf­te die­ser neu­en Ord­nung nicht, wenn man sich an das Völ­ker­recht hiel­te. Eine »regel­ba­sier­te Ord­nung« hat jedoch den Vor­teil, nach den eige­nen Inter­es­sen geba­stelt zu sein, nach der Devi­se: Die Regeln bestim­men wir. Alle Regie­run­gen Isra­els haben kei­ne Reso­lu­ti­on akzep­tiert und höch­stens mit dem Vor­wurf des Anti­se­mi­tis­mus reagiert. Die inter­na­tio­na­le Gerichts­bar­keit konn­te dabei nie­mals ein­grei­fen, es fehl­te schlicht an Klä­gern. Erst seit weni­gen Jah­ren hat sich das grund­sätz­lich geän­dert. Es sind jetzt ins­ge­samt vier Gerichts­ver­fah­ren vor den bei­den Inter­na­tio­na­len Gerich­ten in Den Haag gegen Isra­el anhängig.

Es geht um zwei For­de­run­gen vor dem Inter­na­tio­na­len Gerichts­hof: Eine unmit­tel­bar nach sofor­ti­gem Waf­fen­still­stand, die ande­re nach Fest­stel­lung, dass der Krieg in Gaza ein Völ­ker­mord sei. Der Inter­na­tio­na­le Gerichts­hof konn­te sich erst nach dem drit­ten Antrag Ende Mai ent­schlie­ßen, den sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand zu for­dern. Das ist eine alle Betei­lig­ten ver­pflich­ten­de Reso­lu­ti­on – wir haben gese­hen, wie Isra­el reagiert hat. Das Gericht hat auch gesagt, dass der Vor­wurf des Völ­ker­mords plau­si­bel sei, eine end­gül­ti­ge Ent­schei­dung dar­über kann aber noch Jah­re dauern.

Der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof war schon nach dem schwe­ren Angriff der israe­li­schen Armee zum Jah­res­wech­sel 2008/​2009 mit über 2000 Toten von den Palä­sti­nen­sern ange­ru­fen wor­den. Die Unter­su­chun­gen wur­den ver­zö­gert und haben sich lan­ge hin­ge­zo­gen, bis der Chef­an­klä­ger, der Bri­te Karim Khan, jetzt erst – 15 Jah­re spä­ter – einen Haft­be­fehl gegen Netan­ja­hu, Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Gallant und drei Füh­rungs­per­sön­lich­kei­ten der Hamas beim Gericht bean­tragt hat. Auf die­se Ent­schei­dung war­ten wir noch. Wür­de der Haft­be­fehl aus­ge­spro­chen, hät­te das für Netan­ja­hu und Gallant gra­vie­ren­de Fol­gen. Jeder der etwa 124 Staa­ten, die sich der Recht­spre­chung des Gerich­tes unter­wor­fen haben, wäre ver­pflich­tet, die bei­den Poli­ti­ker nach Den Haag aus­zu­lie­fern, wür­den sie in einem der Staa­ten auftauchen.

Es ist aller­dings eine Illu­si­on zu glau­ben, die Justiz könn­te das errei­chen, was die Poli­tik nicht kann. Sie hat kei­ne Durch­set­zungs­ge­walt und ist für die Durch­set­zung ihrer Ent­schei­dun­gen auf die Poli­tik, genau­er den UN-Sicher­heits­rat, ange­wie­sen. Den­noch, in der Geschich­te der Staa­ten ist die seit 2000 in Den Haag errich­te­te Straf­ge­richts­bar­keit ein histo­ri­scher Fort­schritt. Es begann 1945 bis 1949 mit dem Nürn­ber­ger Tri­bu­nal der Alli­ier­ten. Es dau­er­te dann gut 50 Jah­re der Ver­hand­lun­gen, bis die Staa­ten 1998 ein inter­na­tio­na­les Straf­ge­setz­buch, das Römi­sche Sta­tut, ver­ab­schie­de­ten, dem bis­her 124 Staa­ten bei­getre­ten sind. Im Jahr 2000 wur­de der Inter­na­tio­na­le Straf­ge­richts­hof in Den Haag ein­ge­rich­tet und am 26. Mai 2024 zum ersten Mal ein Antrag eines Haft­be­fehls gegen einen Staats­chef des Westens gestellt wur­de. Es gab bis dahin nur Haft­be­feh­le gegen Al Bas­hir im Sudan, Gad­da­fi in Liby­en und Putin in Russland.

Der sehr viel älte­re Inter­na­tio­na­le Gerichts­hof in den Haag, der die Kla­gen der Staa­ten gegen­ein­an­der zu ent­schei­den hat, war schon ein­mal gegen einen Staat des Westens tätig gewe­sen, 1986, als Nica­ra­gua gegen die USA klag­te und in 11 Punk­ten sieg­te. Ein histo­ri­scher Erfolg, der aller­dings die USA nicht zur gefor­der­ten Ent­schä­di­gung bewe­gen konn­te. Und nun, am 26. Febru­ar 2024, wur­de zum zwei­ten Mal ein Staat des Westens, Isra­el, ver­ur­teilt. Wenn auch hier Isra­el eben­so das Urteil nicht beach­te­te, der Scha­den für den Staat ist groß und die Bedeu­tung der inter­na­tio­na­len Justiz ist gewachsen.

Blät­tern wir zurück. So bru­tal die­ser Krieg seit dem 7. Okto­ber geführt wird und so sehr die Selek­ti­on der Zie­le den geno­zi­da­len Cha­rak­ter die­ses Krie­ges unter­streicht, so hat er doch para­do­xer­wei­se die Bedeu­tung sei­ner der­zeit ein­zi­gen Gegen­kraft, der inter­na­tio­na­len Justiz, gestärkt. Den­noch bleibt das Ziel, auch ihre Wir­kung und Durch­set­zungs­kraft zu stärken.