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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gauckeleien

Ach, lie­be Freun­de aus Ham­burg, ihr habt euch geirrt. Ihr habt vor­ei­li­ge Schlüs­se gezo­gen und so dem Ham­bur­ger Abend­blatt Unrecht getan, als ihr euch empör­tet, dass euer Leser­brief nicht abge­druckt wur­de. Ihr habt nicht erkannt, dass die Ver­öf­fent­li­chung eine beson­ders sub­ver­si­ve Akti­on des Blat­tes unter­lau­fen hät­te und daher unter­blei­ben muss­te, um die­se nicht bloß­zu­stel­len. Doch der Rei­he nach.

Die Tex­te und Fotos des in Ber­lin leben­den Repor­ters Phil­ipp Hede­mann erschei­nen nach des­sen Anga­ben in Maga­zi­nen, über­re­gio­na­len Zei­tun­gen und Regio­nal­zei­tun­gen »vom Ham­bur­ger Abend­blatt bis zum Kon­stan­zer Süd­ku­rier«. So auch Anfang Okto­ber, als er ein Inter­view mit dem 84-jäh­ri­gen Alt-Bun­des­prä­si­den­ten Joa­chim Gauck geführt hat­te. Das Ham­bur­ger Abend­blatt griff zu, ver­öf­fent­lich­te den Bei­trag am 5. Okto­ber in sei­ner Wochen­end­aus­ga­be auf Sei­te 4, zwei Tage nach­dem man ihn in der Ber­li­ner Mor­gen­post schon lesen konnte.

Inhalt des Gesprächs mit Gauck – »Sein Wort hat immer noch Gewicht« – waren »die Gefah­ren für die Demo­kra­tie, der Erfolg der AfD und Tau­rus-Marsch­flug­kör­per für die Ukrai­ne«, The­men, denen Gauck zusam­men mit sei­ner Co-Autorin, der 76-jäh­ri­gen Publi­zi­stin Hel­ga Hirsch, teils schon in dem im Mai im Sied­ler-Ver­lag erschie­ne­nen Buch Erschüt­te­run­gen – Was unse­re Demo­kra­tie von außen und innen bedroht nach­ge­gan­gen war. Laut Ver­lag ein »Weck­ruf« und schon bald ein Spie­gel-Best­sel­ler. »Gauck besticht durch sei­nen gesun­den Men­schen­ver­stand«, jubel­te die Welt am Sonn­tag in ihrer Rezen­si­on.

Eine Aus­sa­ge Gaucks in dem Inter­view traf den Nerv bei­der Zei­tun­gen, schaff­te es in Ber­lin direkt in den kur­zen Vor­spann, in Ham­burg gar als Anrei­ßer auf die Sei­te 1: »In Deutsch­land wer­den zu wenig Kin­der gebo­ren, und es gibt ein­fach zu wenig arbeits­fä­hi­ge und arbeits­wil­li­ge Bio-Deutsche.«

An die­sem Punkt star­te­te die Redak­ti­on ihre schon erwähn­te sub­ver­si­ve Akti­on. Klar, dass die ver­ant­wort­li­chen Redak­teu­re die Bedeu­tung die­ses Begriffs sofort erkann­ten und sei­ne Ver­wen­dung bewer­te­ten. Er hat­te schon 2017 sei­nen Ein­gang in die 27. Aus­ga­be des Duden gefun­den, aller­dings ohne Bin­de­strich, und wur­de als »meist iro­nisch abwer­tend für deut­scher Abstam­mung und in Deutsch­land hei­misch« vor­ge­stellt. Eben­falls klar, dass die Abend­blatt-Jour­na­li­sten sich sofort sicher waren, dass Gauck das Wort nicht iro­nisch gemeint haben konn­te: Sei­nem sal­bungs­vol­len Pathos ist jeg­li­che Iro­nie fremd.

Das Schlag­wort »bio-deutsch« tauch­te laut Wiki­pe­dia erst­mals 1996 in einem taz-Car­toon des deutsch-tür­ki­schen Kari­ka­tu­ri­sten Muh­sin Omur­ca auf, womit sei­ne sati­risch-iro­nisch-scherz­haf­te Kar­rie­re begann. Rasch fand es auch Ein­gang in die Spra­che von Poli­ti­kern, Cem Özd­emir und Omid Nou­ri­pour von den »Grü­nen« wer­den als Bei­spie­le genannt. Doch schon 2010 wur­de aus Iro­nie Ernst, und es war Schluss mit lustig. Der Bio-Deut­sche, der »ech­te Deut­sche«, wur­de geka­pert und zum Kampf­be­griff der Rech­ten. Sie mein­ten damit eine »alt­ein­ge­ses­se­ne Bevöl­ke­rung«. Bei der Wahl zum Unwort des Jah­res 2016 unter­lag »bio-deutsch« dem Schimpf­wort »Volks­ver­rä­ter«, mit dem Anhän­ger von Pegi­da, AfD und ande­rer rech­ter Bünd­nis­se Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker auf Kund­ge­bun­gen laut­hals verunglimpften.

So viel zur Histo­rie, die poli­ti­schen Jour­na­li­sten nicht fremd sein dürf­te. Daher, lie­be Ham­bur­ger Freun­de, hät­tet ihr davon aus­ge­hen müs­sen, dass die Redak­teu­re des Ham­bur­ger Abend­blatts in die­sem Fall einen raf­fi­nier­ten Akt des »inne­ren Wider­stands« voll­bracht haben. Indem sie die Gaucke­lei auf die Titel­sei­te hoben, mach­ten sie das Wort nicht etwa salon­fä­hig, wie ihr mein­tet, son­dern stell­ten es an den Pran­ger: Ecce homo. Sehet, wie und was die­ser Mensch denkt.

Ihr aber habt euch »ver­wun­dert und schockiert« gezeigt über die unkri­ti­sche Ver­wen­dung die­ser »ras­si­sti­schen For­mu­lie­rung« durch Gauck und sei­ne unkom­men­tier­te oder nicht hin­ter­frag­te Ver­öf­fent­li­chung. Die Leser­brief-Redak­ti­on hat jedoch gleich erkannt, dass der Abdruck eures Leser­briefs die listi­ge Akti­on der Abend­blatt-Redak­teu­re kon­ter­ka­riert hätte.

Ein ande­rer Aspekt war der Zei­tung hin­ge­gen kei­ne beson­de­re Her­vor­he­bung wert. Mit der Ant­wort: »Selbst­ver­ständ­lich darf die Ukrai­ne mili­tä­risch Zie­le in Russ­land angrei­fen« hat­te der ehe­ma­li­ge evan­ge­lisch-luthe­ri­sche Pastor und Kir­chen­funk­tio­när in der DDR den Wunsch­träu­men des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten eben­so sei­nen Segen erteilt wie mit sei­ner Ant­wort auf die näch­ste Fra­ge: »Ich habe mich mit mili­tä­ri­schen Fach­leu­ten aus­ge­tauscht und spre­che mich für die Lie­fe­rung der Tau­rus-Marsch­flug­kör­per aus.«

Ja, frü­her seg­ne­ten die got­tes­treu­en Joa­chims mit ihrem nas­sen Besen die Kano­nen für den Ost­feld­zug. Heu­te wol­len sie Marsch­flug­kör­per nach Russ­land schicken. Olaf, bleib standhaft.