Ach, liebe Freunde aus Hamburg, ihr habt euch geirrt. Ihr habt voreilige Schlüsse gezogen und so dem Hamburger Abendblatt Unrecht getan, als ihr euch empörtet, dass euer Leserbrief nicht abgedruckt wurde. Ihr habt nicht erkannt, dass die Veröffentlichung eine besonders subversive Aktion des Blattes unterlaufen hätte und daher unterbleiben musste, um diese nicht bloßzustellen. Doch der Reihe nach.
Die Texte und Fotos des in Berlin lebenden Reporters Philipp Hedemann erscheinen nach dessen Angaben in Magazinen, überregionalen Zeitungen und Regionalzeitungen »vom Hamburger Abendblatt bis zum Konstanzer Südkurier«. So auch Anfang Oktober, als er ein Interview mit dem 84-jährigen Alt-Bundespräsidenten Joachim Gauck geführt hatte. Das Hamburger Abendblatt griff zu, veröffentlichte den Beitrag am 5. Oktober in seiner Wochenendausgabe auf Seite 4, zwei Tage nachdem man ihn in der Berliner Morgenpost schon lesen konnte.
Inhalt des Gesprächs mit Gauck – »Sein Wort hat immer noch Gewicht« – waren »die Gefahren für die Demokratie, der Erfolg der AfD und Taurus-Marschflugkörper für die Ukraine«, Themen, denen Gauck zusammen mit seiner Co-Autorin, der 76-jährigen Publizistin Helga Hirsch, teils schon in dem im Mai im Siedler-Verlag erschienenen Buch Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht nachgegangen war. Laut Verlag ein »Weckruf« und schon bald ein Spiegel-Bestseller. »Gauck besticht durch seinen gesunden Menschenverstand«, jubelte die Welt am Sonntag in ihrer Rezension.
Eine Aussage Gaucks in dem Interview traf den Nerv beider Zeitungen, schaffte es in Berlin direkt in den kurzen Vorspann, in Hamburg gar als Anreißer auf die Seite 1: »In Deutschland werden zu wenig Kinder geboren, und es gibt einfach zu wenig arbeitsfähige und arbeitswillige Bio-Deutsche.«
An diesem Punkt startete die Redaktion ihre schon erwähnte subversive Aktion. Klar, dass die verantwortlichen Redakteure die Bedeutung dieses Begriffs sofort erkannten und seine Verwendung bewerteten. Er hatte schon 2017 seinen Eingang in die 27. Ausgabe des Duden gefunden, allerdings ohne Bindestrich, und wurde als »meist ironisch abwertend für deutscher Abstammung und in Deutschland heimisch« vorgestellt. Ebenfalls klar, dass die Abendblatt-Journalisten sich sofort sicher waren, dass Gauck das Wort nicht ironisch gemeint haben konnte: Seinem salbungsvollen Pathos ist jegliche Ironie fremd.
Das Schlagwort »bio-deutsch« tauchte laut Wikipedia erstmals 1996 in einem taz-Cartoon des deutsch-türkischen Karikaturisten Muhsin Omurca auf, womit seine satirisch-ironisch-scherzhafte Karriere begann. Rasch fand es auch Eingang in die Sprache von Politikern, Cem Özdemir und Omid Nouripour von den »Grünen« werden als Beispiele genannt. Doch schon 2010 wurde aus Ironie Ernst, und es war Schluss mit lustig. Der Bio-Deutsche, der »echte Deutsche«, wurde gekapert und zum Kampfbegriff der Rechten. Sie meinten damit eine »alteingesessene Bevölkerung«. Bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2016 unterlag »bio-deutsch« dem Schimpfwort »Volksverräter«, mit dem Anhänger von Pegida, AfD und anderer rechter Bündnisse Politikerinnen und Politiker auf Kundgebungen lauthals verunglimpften.
So viel zur Historie, die politischen Journalisten nicht fremd sein dürfte. Daher, liebe Hamburger Freunde, hättet ihr davon ausgehen müssen, dass die Redakteure des Hamburger Abendblatts in diesem Fall einen raffinierten Akt des »inneren Widerstands« vollbracht haben. Indem sie die Gauckelei auf die Titelseite hoben, machten sie das Wort nicht etwa salonfähig, wie ihr meintet, sondern stellten es an den Pranger: Ecce homo. Sehet, wie und was dieser Mensch denkt.
Ihr aber habt euch »verwundert und schockiert« gezeigt über die unkritische Verwendung dieser »rassistischen Formulierung« durch Gauck und seine unkommentierte oder nicht hinterfragte Veröffentlichung. Die Leserbrief-Redaktion hat jedoch gleich erkannt, dass der Abdruck eures Leserbriefs die listige Aktion der Abendblatt-Redakteure konterkariert hätte.
Ein anderer Aspekt war der Zeitung hingegen keine besondere Hervorhebung wert. Mit der Antwort: »Selbstverständlich darf die Ukraine militärisch Ziele in Russland angreifen« hatte der ehemalige evangelisch-lutherische Pastor und Kirchenfunktionär in der DDR den Wunschträumen des ukrainischen Präsidenten ebenso seinen Segen erteilt wie mit seiner Antwort auf die nächste Frage: »Ich habe mich mit militärischen Fachleuten ausgetauscht und spreche mich für die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper aus.«
Ja, früher segneten die gottestreuen Joachims mit ihrem nassen Besen die Kanonen für den Ostfeldzug. Heute wollen sie Marschflugkörper nach Russland schicken. Olaf, bleib standhaft.