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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gargantua in Jüterbog

Zwei Gold­ma­cher wer­den auf ihrer Rei­se nach Jüter­bog hell erleuch­tet, weil am Him­mel meh­re­re Neben­son­nen ange­hen. Ver­an­lasst hat das die Pots­da­mer Regie­rung, die über die Mark­graf­schaft Jüter­bog eine nicht wei­ter geklär­te Ober­auf­sicht führt. Am Him­mel erscheint eine sinn­freie Mit­tei­lung der Jüter­bo­ger Mark­grä­fin, per Kon­dens­schrift von ihr gepostet.

Was ist denn hier los? Hier wal­tet der nor­we­gi­sche Autor Erik Fos­nes Han­sen über sei­nen neu­en Roman »Zum rosa Hahn«, sie­delt ihn in einer vogel­wil­den Fabel­welt an, führt sei­ne Leser zum Bei­spiel in die Kir­che zu Unse­rer Hei­li­gen Frau der Ober­fläch­li­chen Gna­den und lässt einen Prie­ster der Mut­ter eines schwer erzieh­ba­ren Jun­gen emp­feh­len, den­sel­ben ein­zu­schlä­fern und kirch­lich zu bestat­ten. Ver­stö­rend ist so man­ches in die­sem Buch und frei fan­ta­siert fast alles. Die histo­ri­sche Ein­klei­dung von anson­sten tech­nik­be­herrsch­ten Räu­men bewirkt, dass ihr Hori­zont sich schließt, man beim Lesen die soge­nann­te Wirk­lich­keit ver­gisst. Das Gesche­hen ist auf sinn­lich Greif­ba­res beschränkt wie in einem Fantasyroman.

Dabei liegt kein sol­cher vor. Viel zu grell für das Gen­re sind der Witz und Aber­witz des Erzähl­ten, dies über wei­te Strecken die Sati­re eines durch­ge­dreh­ten Kul­tur- und Poli­tik­be­triebs. Die zwei Gold­ma­cher erschei­nen als Künst­ler, ihre Alche­mie als Gemüts­er­re­gungs­kunst. Die von ihnen geplan­te Gala­vor­stel­lung wird Jüter­bog, sein Thea­ter und sei­ne Bür­ger aus einem todes­ähn­li­chen Schlaf rei­ßen. Ein unmä­ßi­ger Spaß jagt den ande­ren, ein toll­drei­ster Ein­fall wird vom näch­sten über­trof­fen. Wie in Rabelais‘ »Gar­gan­tua und Pan­ta­gruel« geht es zu. Oder wie bei Mathi­as Énard? Des­sen »Jah­res­ban­kett der Toten­grä­ber« schien zuletzt bei Erik Fos­nes Han­sen abge­schrie­ben, hat­te des­sen Roman »Ein Hum­mer­le­ben« doch zunft­ge­nau schon das glei­che Jah­res­ban­kett ent­hal­ten. Haupt­fi­gur und Erzähl­wei­se die­ses Romans sind wie­der­um durch Sal­man Rush­dies »Mit­ter­nachts­kin­der« inspi­riert, die ihren Humor gro­ßen­teils von der »Blech­trom­mel« gelernt haben. Eine nach Michail Bacht­in kar­ne­va­li­stisch zu nen­nen­de Inter­na­tio­na­le der Fan­ta­sten, so hat es den Anschein, unter­wan­dert seit Jahr­zehn­ten den Roman. Ist Han­sen ihr Kopf?

Oder ist sein Roman bloß albern? Eini­ge Dia­lo­ge, der eines Wacht­mei­sters mit sei­ner War­ze zum Bei­spiel, lesen sich in der Tat, als sei­en sie ihrem Tex­ter zu dünn aus der Feder getropft. Hat am Ende den viel bewun­der­ten Han­sen der Ernst sei­ner Ambi­ti­on ver­las­sen? Der Ver­gleich mit Grass klang schon an. Muss man sich Sor­gen machen um einen früh voll­ende­ten und dann über Jahr­zehn­te hin­weg nach­las­sen­den Schrift­stel­ler? Frau Han­sen berich­tet, ihr Mann habe bei der Abfas­sung des »rosa Hahn« oft gelacht. Darf so was denn sein?

Ja, ver­dammt. Alle Sor­gen sind unbe­grün­det und der Albern­heits­vor­wurf ver­kennt das, was Bacht­in zur Wun­der­waf­fe der neu­zeit­li­chen Lite­ra­tur erklär­te: eine respekt­lo­se Frei­heit, die herr­schen­de Wer­te und Gewiss­hei­ten attackiert. Inso­fern geht auch Wolf­gang Schnei­ders Kri­tik im Deutsch­land­funk fehl. Er lobt die ersten zwei­hun­dert Sei­ten für ihren anar­chi­schen Erfin­dungs­reich­tum und tadelt den Schluss dafür, dass er die Hand­lungs­fä­den bün­delt. Er tue dies kon­ven­tio­nell. Es feh­le da auf ein­mal ein Sinn, auf den man zuvor genuss­voll ver­zich­tet habe. In Wahr­heit geht die Demon­ta­ge sämt­li­cher Gewiss­hei­ten in dem Roman wei­ter. Hans, der schwer erzieh­ba­re Jun­ge, ent­wickelt sich zu einem mon­strö­sen Anti­hel­den, der For­de­run­gen sei­ner Mit­men­schen unter ande­rem so zurück­weist: »Es ist wider die dem Unge­zo­ge­nen inne­woh­nen­de Wür­de der Bös­ar­tig­keit.« Weder heißt er zufäl­lig Hans noch die Schu­le, auf die er geht, zufäl­lig Hans-Kohl­ha­se-Schu­le. Viel­mehr wird mit der Remi­nis­zenz an Kleist und sei­nen Kohl­haas bewusst ein Ambi­va­lenz­raum auf­ge­macht, in dem man sich durch­aus fürch­ten kann vor dem erzäh­le­ri­schen Irr­witz. Erik Fos­nes Han­sens Ant­wort dar­auf ist die gar­gan­tua­ni­sche: Nur ein angst­frei­es Leben lohnt sich, gelöst aus den all­täg­li­chen Schon­hal­tun­gen, die uns die Vor­sicht ein­ge­übt hat. Ein Genuss, der einem so Wich­ti­ges bei­bringt wie die­ser Roman, ist dop­pelt zu empfehlen

Erik Fos­nes Han­sen: Zum rosa Hahn, Roman, aus dem Nor­we­gi­schen von Ina Kro­nen­ber­ger, Kie­pen­heu­er & Witsch 2022, 495 S., 24 €.