Zwei Goldmacher werden auf ihrer Reise nach Jüterbog hell erleuchtet, weil am Himmel mehrere Nebensonnen angehen. Veranlasst hat das die Potsdamer Regierung, die über die Markgrafschaft Jüterbog eine nicht weiter geklärte Oberaufsicht führt. Am Himmel erscheint eine sinnfreie Mitteilung der Jüterboger Markgräfin, per Kondensschrift von ihr gepostet.
Was ist denn hier los? Hier waltet der norwegische Autor Erik Fosnes Hansen über seinen neuen Roman »Zum rosa Hahn«, siedelt ihn in einer vogelwilden Fabelwelt an, führt seine Leser zum Beispiel in die Kirche zu Unserer Heiligen Frau der Oberflächlichen Gnaden und lässt einen Priester der Mutter eines schwer erziehbaren Jungen empfehlen, denselben einzuschläfern und kirchlich zu bestatten. Verstörend ist so manches in diesem Buch und frei fantasiert fast alles. Die historische Einkleidung von ansonsten technikbeherrschten Räumen bewirkt, dass ihr Horizont sich schließt, man beim Lesen die sogenannte Wirklichkeit vergisst. Das Geschehen ist auf sinnlich Greifbares beschränkt wie in einem Fantasyroman.
Dabei liegt kein solcher vor. Viel zu grell für das Genre sind der Witz und Aberwitz des Erzählten, dies über weite Strecken die Satire eines durchgedrehten Kultur- und Politikbetriebs. Die zwei Goldmacher erscheinen als Künstler, ihre Alchemie als Gemütserregungskunst. Die von ihnen geplante Galavorstellung wird Jüterbog, sein Theater und seine Bürger aus einem todesähnlichen Schlaf reißen. Ein unmäßiger Spaß jagt den anderen, ein tolldreister Einfall wird vom nächsten übertroffen. Wie in Rabelais‘ »Gargantua und Pantagruel« geht es zu. Oder wie bei Mathias Énard? Dessen »Jahresbankett der Totengräber« schien zuletzt bei Erik Fosnes Hansen abgeschrieben, hatte dessen Roman »Ein Hummerleben« doch zunftgenau schon das gleiche Jahresbankett enthalten. Hauptfigur und Erzählweise dieses Romans sind wiederum durch Salman Rushdies »Mitternachtskinder« inspiriert, die ihren Humor großenteils von der »Blechtrommel« gelernt haben. Eine nach Michail Bachtin karnevalistisch zu nennende Internationale der Fantasten, so hat es den Anschein, unterwandert seit Jahrzehnten den Roman. Ist Hansen ihr Kopf?
Oder ist sein Roman bloß albern? Einige Dialoge, der eines Wachtmeisters mit seiner Warze zum Beispiel, lesen sich in der Tat, als seien sie ihrem Texter zu dünn aus der Feder getropft. Hat am Ende den viel bewunderten Hansen der Ernst seiner Ambition verlassen? Der Vergleich mit Grass klang schon an. Muss man sich Sorgen machen um einen früh vollendeten und dann über Jahrzehnte hinweg nachlassenden Schriftsteller? Frau Hansen berichtet, ihr Mann habe bei der Abfassung des »rosa Hahn« oft gelacht. Darf so was denn sein?
Ja, verdammt. Alle Sorgen sind unbegründet und der Albernheitsvorwurf verkennt das, was Bachtin zur Wunderwaffe der neuzeitlichen Literatur erklärte: eine respektlose Freiheit, die herrschende Werte und Gewissheiten attackiert. Insofern geht auch Wolfgang Schneiders Kritik im Deutschlandfunk fehl. Er lobt die ersten zweihundert Seiten für ihren anarchischen Erfindungsreichtum und tadelt den Schluss dafür, dass er die Handlungsfäden bündelt. Er tue dies konventionell. Es fehle da auf einmal ein Sinn, auf den man zuvor genussvoll verzichtet habe. In Wahrheit geht die Demontage sämtlicher Gewissheiten in dem Roman weiter. Hans, der schwer erziehbare Junge, entwickelt sich zu einem monströsen Antihelden, der Forderungen seiner Mitmenschen unter anderem so zurückweist: »Es ist wider die dem Ungezogenen innewohnende Würde der Bösartigkeit.« Weder heißt er zufällig Hans noch die Schule, auf die er geht, zufällig Hans-Kohlhase-Schule. Vielmehr wird mit der Reminiszenz an Kleist und seinen Kohlhaas bewusst ein Ambivalenzraum aufgemacht, in dem man sich durchaus fürchten kann vor dem erzählerischen Irrwitz. Erik Fosnes Hansens Antwort darauf ist die gargantuanische: Nur ein angstfreies Leben lohnt sich, gelöst aus den alltäglichen Schonhaltungen, die uns die Vorsicht eingeübt hat. Ein Genuss, der einem so Wichtiges beibringt wie dieser Roman, ist doppelt zu empfehlen
Erik Fosnes Hansen: Zum rosa Hahn, Roman, aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger, Kiepenheuer & Witsch 2022, 495 S., 24 €.