Unweit meiner noch zu DDR-Zeiten bezogenen Mietwohnung, gleichsam in Sichtweite, befinden sich der Reichstag und andere Gebäude unserer Obrigkeit. Da kommt es schon vor, dass man auf der Straße oder im Zeitungsladen auf dieses oder jenes aus dem Fernsehen bekannte Gesicht trifft. Je bedeutender das Amt, desto mehr Menschen hängen am Rockzipfel. Die meisten sind solo unterwegs, weil nur einfache Abgeordnete. Nicht wenige wohnen auch im vermeintlichen Zentrum der Macht. So ist der Weg zum Arbeitsplatz kurz und emissionsarm oder sogar -frei. Um die Ecke wohnte mal ein grüner Außenminister. Der war damals rank und schlank und joggte mit ins Gesicht gezogenem Basecap immer an der Spree entlang, gefolgt von zwei kurzatmigen Personenschützern. Manchmal glaubte ich, er lief nur zum Vergnügen, um sie zu ärgern. Die mussten ihm schließlich auf den Fersen bleiben. Als er seines Amtes und dieses Vergnügens verlustig ging, wurde er wieder fett wie einst. Aber, und deshalb erzähle ich es: Er war augenscheinlich belesen und besaß ein gewisses Gespür für Pointen. Seine Wohnung befand sich nämlich um die Ecke in der Tucholskystraße. Und unten an der Klingelleiste standen die Namen Peter Panther und Theobald Tiger.
Nur wenige hundert Meter weiter, vis-à-vis dem seinerzeitigen Haupteingang zum Pergamonmuseum, hatte eine Frau aus der Uckermark Quartier genommen. Sie wohnte in einem der restaurierten Bürgerhäuser wie Kreti und Pleti zur Miete, die ihr nachgesagte Bescheidenheit wurde auch dadurch sichtbar. Kabinettsmitglieder besaßen millionenteure Villen im Grunewald und ließen sich das Essen ins Haus bringen – sie kaufte im Supermarkt um die Ecke und trug die Taschen selbst. Am Portal des Mehrgeschossers standen verschiedene Namen, u. a. »Schön«, »Ganz« und »Lustig«. Woraus geschlossen werden konnte, dass es sich wohl um das auf diese Weise getarnte Domizil der Kanzlerin handeln musste, welche für ihren feinsinnigen Humor bekannt war. »Ganz Schön Lustig«, las man da von oben nach unten an der Leiste.
Im Kiez zwischen Tucholskystraße und Monbijou Park, Synagoge und Museumsinsel wurden und werden alte Gebäude wieder hergerichtet und als Residenz, Palais, Gropius-Ensemble, Logenhaus und Haupttelegrafenamt »an den Markt«, also an zahlungskräftige Kunden gebracht. Darunter, wie erwartet, sind auch etliche noch fremde Gesichter, deren Arbeitsweg seit dem Herbst entlang der Spree bis zum Bundestag führt. Die neuen Nachbarn scheinen allerdings weniger literarisch und historisch bewandert zu sein als ihre Vorgänger, sie wirken auch weniger lustig und vom Genius loci unberührt. An den Klingelleisten der Eingänge stehen nur Kürzel wie E. W., G. H., W. G., N. M., A. P., G. Z., D. M., B. M.
Vielleicht aber schützen sich die Bewohner mit den Initialen auch nur vor möglichen Fackelumzügen und Aufmärschen politischer Wirrköpfe und rechter Fanatiker, die jetzt in Mode gekommen sind. Diese Umzüge sind nämlich überhaupt nicht lustig.