Als am 15. März 1945, kurz nach 16 Uhr, der junge Matrose Walter Gröger wegen »Fahnenflucht im Felde« hingerichtet wurde, fand nicht nur ein junges Leben ein Ende, auch das Leben einer Frau, seiner Mutter, lag fortan in Trümmern. Ihr war – wenige Monate vor Kriegsende – der einzige Sohn genommen worden. Das Hinrichtungsdokument trug die Unterschrift des Marinestabsrichters Filbinger. »Im Namen des Volkes«.
Filbinger hatte immer wieder betont, er habe kein Todesurteil selbst gefällt. Vor dem Stuttgarter Landgericht hatte er zudem erklärt, er habe als Marinerichter überall geholfen, »wo irgendeine Aussicht auf Hilfe war«, und dabei Menschen gerettet oder vor harter Strafe bewahrt. Dabei habe er selbst »Leib und Leben« riskiert.
In großen Teilen der Öffentlichkeit wurde damals diese Verteidigung als ein Skandal empfunden. Vor allem im sozialdemokratisch-liberalen Spektrum sah man in Filbinger einen Repräsentanten der »Ewiggestrigen«, der Selbstgerechten und Unbußfertigen. In den linken Milieus galt er als Unperson. Doch selbst seine Freunde aus der CDU befürchteten, durch dessen starrsinnige Rechtfertigungshaltung könnte der »Schatten des NS-Unheils« nun auf die eigene Partei fallen. Doch Filbinger beteuerte immer wieder, er habe keine Schuld auf sich geladen. Nie gab er zu erkennen, dass er seine Mitwirkung als Marinerichter bedauerte oder bereute. Der damalige Oppositionsführer im baden-württembergischen Landtag, Erhard Eppler, attestierte dem CDU-Ministerpräsidenten ein »pathologisch gutes Gewissen«. Die Süddeutsche Zeitung schob nach: »…und ein pathologisch schlechtes Gewissen«.
Wolfram Wette u. a. haben Filbingers zweifelhafte Karriere dokumentiert. Ihre Forschungsarbeiten belegen: Filbinger war an Todesurteilen beteiligt, und er hat selbst Todesurteile gefällt. Er hat in dem militärischen Gewaltapparat des NS-Regimes bestens funktioniert und sich in der Rolle des Militärrichters genauso verhalten, wie es die militärische und politische Obrigkeit des NS-Staates von ihm erwartete. Rolf Hochhuth prägte damals den Begriff des »furchtbaren Juristen«. Diese Juristen beharrten auch nach dem Ende der Hitler-Diktatur auf der Rechtmäßigkeit ihrer Urteile. Ihre beschämende Rechtfertigung: »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.« Auch Filbinger selbst sah sich stets als Opfer einer Rufmordkampagne – musste aber schließlich 1978, nach zwölf Jahren vom Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, zurücktreten.
Die Diskussion über ihn wurde im Jahre 2007 neu entfacht, als Günther Oettinger, als einer der Nachfolger Filbingers als Ministerpräsident des Landes, in einer Trauer-Rede für den zuvor im Alter von 93 Jahren gestorbenen Ex-Marinerichter für Empörung sorgte. »Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil, er war ein Gegner des NS-Regimes«, verkündete Oettinger. Niemand hatte ob dieser Ungeheuerlichkeit die Trauerfeier im Freiburger Dom demonstrativ verlassen, doch es war eine Rede, die selbst die Bundeskanzlerin zwang, sich öffentlich zu äußern. Sie hätte sich, so Angela Merkel, eine Differenzierung »insbesondere im Blick auf die Gefühle der Opfer und Betroffenen gewünscht«.
Doch auch die öffentliche Rüge der Kanzlerin machte die nächsten rhetorischen Scharfschützen nicht klug – jedenfalls nicht jene, die in der politischen Arena Gladiatorenkämpfe führen und Vasallen-Treue beweisen wollen. »Jedes Wort war richtig, da kann man nur fünf Ausrufezeichen dahinter machen«, ließ etwa Georg Brunnhuber, damaliger CDU-Landesgruppenchef (und spät hochdotierter Lobbyist der Bahn AG) im Deutschen Bundestag, verlauten. Man könnte derlei Äußerungen als verbale Irrläufer gereizter, überarbeiteter Politiker abtun, wenn sich darin nicht ein strukturelles Symptom abbilden würde: die nachträgliche Solidarität mit den Tätern, die wiederholte Beleidigung der Opfer. In jedem Fall eine erlesene Geschmacklosigkeit, die von historischer Ahnungslosigkeit und opportunistischer Dreistigkeit zeugt.
Zu einer anderen Bewertung kam Susanna Filbinger-Riggert, Tochter des posthum zum »Widerstandskämpfer« ernannten Ex-Marinerichters. In ihrem Freiburger Elternhaus hatte sie die etwa 60 Tagebücher entdeckt und Zitate daraus in ihrem Buch 2013 erschienenen Buch »Kein weißes Blatt – Eine Vater-Tochter-Biographie« veröffentlicht. Ihr Resümee: »Mein Vater war kein Gegner des Nationalsozialismus. Das waren die Stauffenbergs und Goerdelers.« Den Moment, als im August 1978 ihr Vater vom Amt des Ministerpräsidenten zurückgetreten war, schilderte sie in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: »Als er nach Hause kam, war er nicht mehr derselbe. War er nicht mehr mein Vater. Da war er zutiefst erschüttert. Sein Leben lag in Trümmern.« Heute, selbst im hohen Alter, hegt sie keinen Groll mehr gegen ihn. Sie hat ihrem Vater vergeben, was er ihr und seiner Familie zugemutet hat.
Davon war Günther Oettinger weit entfernt, als er im April 2007 in seiner Trauerrede im Freiburger Dom Filbinger als einen »Mann des Widerstandes im Dritten Reich« würdigte. Schon Jahre zuvor, im Juni 1993, hatte Volker Kauder, später Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, verlautbaren lassen: »Dr. Filbinger war ein ausgewiesener Gegner des nationalsozialistischen Regimes. Die Kampagne gegen ihn gehört zu den spektakulärsten Enthüllungs- und Fälschungskampagnen der Stasi.« Dieser bizarren Erzählung folgte Oettinger 2007 in seiner Trauerrede, was das Ende des Landespolitikers einleitete – ihm aber als Entschädigung eine gut dotierte Abschiebung als EU-Kommissar in Brüssel bescherte. Von 2010 bis 2019 gehörte Oettinger der EU-Kommission an, zuletzt als Kommissar für Haushalt und Personal. Filbinger und Oettinger: zwei Politiker-Generationen – ein Beispiel deutscher Geschichts-Vergessenheit und Wirklichkeits-Verleugnung.
Mitte Mai 2020 bekam ich Post von der Chefredaktion der Frankfurter Rundschau, darin ein weiteres Kuvert, adressiert zu meinen Händen. Absender: Susanna Filbinger-Riggert. Als Replik auf meinen Artikel »Schuld, Schutt und Scham – 75 Jahre Kriegsende am 8.Mai«, der zuvor in der Frankfurter Rundschau erschienen war, schrieb sie mir einen zweiseitigen Brief, der hier nicht gänzlich veröffentlicht werden soll – nur so viel: Sie kritisierte, dass ich ihren Vater in meinem Beitrag in der Frankfurter Rundschau als »Kriegsrichter« bezeichnet habe, »der es zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes brachte«. Und sie zitierte in ihrem Brief Presseartikel, die schon damals die Version Hochhuths, ihr Vater sei für den Tod des jungen Matrosen Gröger verantwortlich, als Lüge bezeichnet hatten.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn mehr Genauigkeit und auch juristische Differenzierung beim Verfasser von Artikeln angewandt würden, insbesondere aus Anlass wichtiger Gedenktage wie dem 75. Jahrestag des Endes des 2. Weltkrieges«, mahnte sie mit »freundlichen Grüßen«. Ihr Brief endete mit einem persönlichen Appell: »Es ist auch die historische Genauigkeit, die dazu beiträgt, nachfolgende Generationen aufzuklären und dabei mitzuwirken, dass sich das Schreckliche eines solchen Krieges nie wiederholen kann.«
Wenige Tage später antwortete ich: »Sehr geehrte Frau Filbinger-Riggert, Ihren Brief vom 13. Mai 2020, betr. meines Artikel ›Schutt, Schuld und Scham‹ in der Frankfurter Rundschau, wurde mir von der Redaktion zugeleitet. Dazu: Brachte nicht das Zitat vom damaligen Recht, das heute nicht Unrecht sein könne, Ihren Vater ums Amt des Ministerpräsidenten? Das Zitat belegt in seiner prägnanten Kürze, dass da jemand nicht begriffen hatte und nicht begreifen wollte, dass formales Recht nur allzu rasch Unrecht werden kann. Es ist dem gerade verstorbenen Rolf Hochhuth zu verdanken, dass er 1978 die Vergangenheit des NS-Marinerichters Filbinger enthüllt und ihn einen furchtbaren Juristen genannt hat. Ich möchte ihm uneingeschränkt zustimmen. Sie sorgen sich darum, sehr geehrte Frau Filbinger-Riggert, das Schreckliche des Krieges möge sich nie mehr wiederholen. Ich möchte anmerken: Erst ein Heer opportunistischer Karrieristen, die bereit waren, verwerfliche, erniedrigende, menschenunwürdige Gesetze blind zu akzeptieren und im Namen des ›Führers‹ bis zum bitteren Ende zu vollstrecken, ermöglichten die Nazi-Barbarei. Ihr Vater steht exemplarisch für diese willfährige Täter-Generation. Mit freundlichen Grüßen.«
Der ungekürzte Text erscheint im April in: Helmut Ortner, WIDERSTREIT – Über Macht, Wahn und Widerstand, Nomen Verlag, Frankfurt.