Aus dem Kelch springt das Wasser hinab in den Brunnen. Einer mit gebeugtem Rücken blickt herab auf die blühenden Rosen. Auf den Knien ein Buch, geschlossen, in der Schreibhand noch die Feder, zu einem Denkmal verhärtet.
Neben mir im Garten der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen steht meine Tochter und fragt: Wer ist das?
Søren Kierkegaard. Das weiß ich, doch ihn und seine Bücher, das begreife ich in diesem Moment, kenne ich nicht. Zu Hause werde ich im Katalog der Bibliothek suchen und »Furcht und Zittern« wählen; ein schmales Büchlein nur, dessen Titel eine andere Erinnerung an diese Reise weckt.
Die neue Oper ist das zweite architektonische Highlight, das wir uns an diesem Tag ansehen, nachdem wir den Schwarzen Diamanten, den Neubau der Königlichen Bibliothek, bestaunt hatten. Später stehen wir auf dem Platz vor der Oper und blicken über das Wasser in Richtung Öresund. Und schon stellt sich die nächste Frage: Was ist das für ein Schiff?
Ich glaube, sage ich leise, ein Kriegsschiff.
Oh, sagt meine Tochter. Wir sehen uns an und spüren beide, da ist sie wieder, die unerbittliche Nähe dieses Krieges, des Kriegs in der Ukraine, den wir für einige Tage vergessen haben. Vergessen beim täglichen Brunch in einem der Cafés, beim Bummel vorbei an den bunten Häusern Nyhavens, zwischen den Regalen der Bibliothek, beim Staunen über die doppelte Reflexion: wenn die morgendlichen Sonnenstrahlen im Wasser des Hafenkanals glitzern und sich dieses Glitzern in den gläsernen Wänden des Schwarzen Diamanten wiederholt.
So haben wir nun auch das Aufblitzen explodierender Geschosse in ukrainischen Städten, nicht auf einem Bildschirm, sondern reflektiert von der Panzerung der dänischen Fregatte wieder vor Augen.
Was hat einer gefürchtet, den die Welt nicht sonderlich interessiert haben soll, wovor hat er gezittert, dieser Søren Kierkegaard? Das, was mir beim ersten Durchblättern des Büchleins ins Auge fällt, ist eine »Lobrede auf Abraham«. Abraham, der, so erzählt es die Bibel, loszog, seinen Sohn zu opfern. Warum? Weil Gott es ihm auftrug: »Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn …«
Ich stutzte. Ein »Fiktiver Report über ein amerikanisches Popfestival« kam mir in den Sinn, ein Musical nach Tibor Dérys Roman, aufgeführt in den siebziger Jahren. Und kein Satz, keine auf der Bühne gestellte Frage war mir so eindringlich erschienen, wie diese: Darf Abraham seinen Sohn opfern?
Kierkegaards Antwort: Eine solche Tat, ausgeführt, wäre zwar aus ethischer Sicht ein Verbrechen und aus ästhetischer eine Tragödie. Aber aus religiöser Sicht sei Abraham ein Held, ein Held des Glaubens, einer, dessen Tat Lob, ja, Bewunderung verdiene. Denn dies sei wahre Größe, loszuziehen, Gottes Auftrag zu erfüllen: Töte, was du liebst.
Wofür? Eine Frage, die Abrahams Glaube nicht erlaubt. Denn der Glaube selbst ist die Antwort. Das Leben des Sohnes scheint Abraham keine Frage wert. Auch kein Gebet, keine Bitte und kein Flehen, Gott möge diesen Auftrag widerrufen.
Was wir sehen, von Rembrandt gemalt, erst der Engel stoppt Abrahams zum Zustoßen erhobene Hand. So legt Abrahams Geschichte für die Prediger nachfolgender Generationen, doppelt Zeugnis ab: das des Glaubens durch Gehorsam und gleichzeitig das der göttlichen Güte durch Belohnung.
»Es war ein früher Morgen.« Viermal lässt Kierkegaards Erzähler, Johann De Silentio, Abraham aufbrechen nach Morija, um den Auftrag Gottes zu erfüllen. Welche Möglichkeiten hat Abraham, ohne Gottes Befehl zu verweigern, damit umzugehen? Kierkegaard spielt sie durch.
Er lässt in seinen Variationen I – IV Abraham nicht ein einziges Mal zögern, nicht als er am Morgen, an jedem dieser vier Morgen, das Holz für das Opferfeuer spaltet, nicht auf seinem Fußmarsch nach Morija und nicht als er am Altar das Messer zieht. Auch eine später erwogene fünfte Option, dass Abraham sich selbst als Opfer anbietet, verwirft der Erzähler. Denn sie käme einer Verweigerung des Gehorsams gleich.
Das Alte Testament setzt Glauben und Gehorsam in eins. Dem folgt auch Paulus in seinem neutestamentlichen Brief an die Philipper: »Also, meine Lieben, – wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, (…) schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. (…) Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel.«
Kierkegaard, so scheint es jedoch, weiß um die Folgen eines religiösen Fanatismus. Ausdrücklich setzt er Abraham nicht als Beispiel, niemand solle dieser »höheren Leidenschaft (…) für den göttlichen Wahnsinn« folgen.
Das Jahrhundert nach Kierkegaard hat gezeigt, wie leicht sich solch höhere Leidenschaften massenhaft erzeugen und erleiden lassen. Auf dem Koppeln der deutschen Soldaten beider Weltkriege stand: Gott mit uns!
Woran glaubt eine Mutter heute, die frühmorgens ihren Sohn auf die Stirn küsst, woran ein Vater, der ihm mit den Worten: melde dich! ein neues Handy schenkt – bevor der Sohn in den Bus steigt, der ihn an die Front bringt? Sollte die Mutter, sollte der Vater, den Sohn nicht niederschlagen, zum Auto zerren, in den Kofferraum wuchten, losfahren zum nächsten Grenzübergang? Entdeckung, Gefängnis, alles riskieren, um diesen Sohn zu retten?
Wer ist dieser Gott, dessen Auftrag sie folgen? Welchen Namen trägt er heute – Freiheit, Nation, Macht, Wohlstand, Moral? Was für eine Moral ist das, die fremdes Leben opfert?
Wird auch diesmal der Engel rechtzeitig erscheinen, die Hand des Mörders zu stoppen? Werden die feindlichen Kugeln nicht den Sohn im Gestrüpp treffen, sondern den Widder?
130 Jahre nach Kierkegaard und zwei Weltkriege später lässt Tibor Déry eine »fröhliche Knabenstimme« diagnostizieren: Wir alle kranken am Abraham-Komplex. Denn Abraham habe die »tickenden Uhrenmenschen, die braven Staatsbürger« den Gehorsam gelehrt, damit sie, »das Schwert in der einen und die blakende Fackel in der anderen Hand, die Erde überschwemmen und morden und brandstiften«? Abraham, so dieser Junge, habe »für alle Zeiten ein Beispiel des Gehorsams« gegeben, »damit die Mächtigen den Schwachen die Sohle ins Genick setzen konnten«.
Hier provoziert ein Sohn, anders als Isaak, seinen Vater. Ja, er verdirbt die gute Stimmung eines Popfestivals, in Dérys Roman Sinnbild unserer Zeit: Auf offener Bühne geschieht ein Mord, und die Sirenen der Krankenwagen heulen – zu ertragen ist dies nur im Rausch der Musik und der Drogen. Konsum – das scheint die Antwort der modernen Gesellschafft auf Kierkegaards Frage nach dem Umgang mit der Furcht und dem Zittern. Berauscht euch, meinte schon Baudelaire.
Heute, wo der Glaube Abrahams längst keine allgemeine Erscheinung mehr ist, ist es eher das abrahamitische Denken, das in der westlichen Welt, unabhängig von Religiosität, allein auf Belohnung und Anerkennung setzt, auf die Verheißungen durch vermeintlich höhere Instanzen: Werbung, Medien, Politik. Wir nennen es Vernunft, dies berauschende Gefühl am Ende bei den Guten und Besseren, bei den Schöneren und Stärkeren zu sein.
Dort, wo die westliche Konkurrenzgesellschaft sich in konsumistische Individuen aufgelöst hat, bleibt doch die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Gemeinschaft. Unlösbar erscheint zugleich die Aufgabe, ein gemeinschaftliches Zusammenleben zu organisieren, eines, das gerecht und nachhaltig ist. Was national scheitert, wie kann das global gelingen? So wird das Notwendige der Utopie verdächtigt und verbannt ins Niemandsland.
Stattdessen übernehmen immer wieder Feindbilder die Aufgabe, eine Gesellschaft zusammenzuhalten. Ein neuer Glaube definiert erneut das Böse, politische Aufklärung wird durch Propaganda ersetzt. Das Pathos eines gemeinsamen Kampfes erleuchtet den öden Alltagspragmatismus der Vereinzelten. Und Krieg erscheint als legitime Fortsetzung dieses Kampfes.
In diese unerbittliche Logik reißt jeder Angreifer den Angegriffenen, reißt gegenwärtig Russland die Ukraine und ihre Verbündeten Tag für Tag. Im Krieg vollzieht der moderne Abraham auf beiden Seiten der Front die »unendliche Bewegung« weg von irdischem Glück hin zum Leiden für ein höheres Ziel, statt Gott nun wahlweise Volk & Vaterland oder Freiheit & Demokratie.
Vielleicht ist das Fatale an Abrahams Geschichte, dass wir, schon das Messer in der Hand, glauben, so schlimm wird es nicht werden. Wenn auch nicht mehr der da oben, die da oben werden uns bewahren. Verkünden sie doch immer wieder: Die nächste Generation wird nicht die letzte gewesen sein, Isaak wird nicht sterben! Der Widder ist schon geordert, der Engel gebrieft!
Damit betäuben wir unsere Furcht und bändigen unser Zittern, auch wenn wir Isaak schon auf dem Opferberg gebunden liegen sehen.
Dieses Paradox führt uns in Kriege gegen andere Menschen.
Aus ethischer Sicht ist Krieg nur eine der grausamsten Formen des konkurrenzgetriebenen Umgangs des Menschen mit Seinesgleichen. Betrachtet mit ökonomisch-ökologischem Blick, ist jeder Krieg der ungezügelte Verbrauch von Ressourcen im Kampf um Ressourcen. Und damit zwar die extremste, doch nur eine weiteren Form der Vernichtung menschlicher Lebensgrundlagen.
Nein, so verblendet sind wir nicht, dass wir ein Wirtschaftssystem anbeten, weil es gottgleich das Handeln seiner Akteure, unser Handeln, bestimmt. Nein, es muss schon im Ornat der Freiheit auf die Bühne treten. Nur so kann jeder so frei sein, sich das seine darunter vorzustellen, ohne mit Hegel nachzufragen »ob es nicht eigentlich Privatinteressen sind«, die unter diesem Deckmäntelchen stecken. Nur so können wir unsere Furcht schönreden, können wir es uns schön machen. Oder, um es mit dem Preußengeneral von Falkenhain zu sagen: »Selbst wenn wir darüber zugrunde gehen, schön war›s doch!«
Im Öresund ankert die Fregatte »Peter Skram«, heute als Museumsschiff. Dieses Kriegsschiff feuerte 1982 versehentlich eine Rakete ab, die einige Wochenendhäuser in Nordwestseeland zerstörte. Dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges traf eine andere versehentlich abgefeuerte Rakete im November 2022 ein polnisches Dorf und tötete zwei Menschen. In Europas neuem heißem Krieg sind absichtliche Schüsse die Regel.
Und was tun europäische Landesväter beiderseits der Front, derzeit? Sie sind auf dem Weg nach Morija, ihre Söhne und Töchter zu opfern.
Doch stößt die Metapher von Abraham und Isaak hier nicht an ihre Grenzen? Vorausgesetzt das Leben wird höher bewertet als jeder Glaube, dann bleiben einem jedem »Landesvater« zumindest Fragen: Wann zerstören Waffen mehr Leben als sie schützen? Vor allem, wann wird Selbstverteidigung zur Selbstvernichtung?
Die Antworten müssen immer wieder neu gefunden werde. Ohne diese Fragen ist Abrahams Glaube blind. Sie zu stellen, heißt das Messer über Isaak wahrzunehmen. Und sich an jedem frühen Morgen neu zu entscheiden. Nur eines bleibt fatal, zu glauben, ein Engel, sei es von diesseits oder jenseits des Atlantiks, werde das Schlimmste verhindern.
Der frühe Morgen ist vorüber. Wir stehen längst auf dem Berg in Morija. Der Engel aber, der uns in den Arm fallen könnte, der bleibt aus. Isaak wird sterben. Es sei denn, Isaak, der alles längst durchschaut hat, nimmt uns das Messer aus der Hand.
Was aber wäre das Paradox des Glaubens bei Isaak? Bis zu dem Moment da ihn Abraham bindet und auf den Altar zerrt, bis zu diesem Augenblick mag er wohl glauben, unterwegs zu einem Tieropfer zu sein. Das Kind, dem Vater vertrauend aus dem einzigen Grund, weil er der Vater ist.
Doch unerwartet sieht er sich gebunden auf einem Stapel Feuerholz, sieht den Vater, sieht das Messer in dessen Hand. Woran noch glauben diesem Moment?
Der Mut der Verzweiflung bringt Selbstmörder und Attentäter hervor. Ihre Furcht, ihr Zittern endet mit dem Tod. Der Mut des Glaubens jedoch wäre, das Messer zu zerbrechen, den Vater aufzurufen in Abraham, seine Liebe, statt sein Hoffen auf göttliche Güte. Denn die Liebe sei, so Kierkegaard, »der primus motor des christlichen Lebens«
Was aber treibt uns? Wie kommen wir zurück aus Morija, auf welchem Weg und in welchem Zustand?
Der Morgen ist längst vorüber, noch nicht der Tag.