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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Furcht und Zittern

Aus dem Kelch springt das Was­ser hin­ab in den Brun­nen. Einer mit gebeug­tem Rücken blickt her­ab auf die blü­hen­den Rosen. Auf den Knien ein Buch, geschlos­sen, in der Schreib­hand noch die Feder, zu einem Denk­mal verhärtet.

Neben mir im Gar­ten der König­li­chen Biblio­thek in Kopen­ha­gen steht mei­ne Toch­ter und fragt: Wer ist das?

Søren Kier­ke­gaard. Das weiß ich, doch ihn und sei­ne Bücher, das begrei­fe ich in die­sem Moment, ken­ne ich nicht. Zu Hau­se wer­de ich im Kata­log der Biblio­thek suchen und »Furcht und Zit­tern« wäh­len; ein schma­les Büch­lein nur, des­sen Titel eine ande­re Erin­ne­rung an die­se Rei­se weckt.

Die neue Oper ist das zwei­te archi­tek­to­ni­sche High­light, das wir uns an die­sem Tag anse­hen, nach­dem wir den Schwar­zen Dia­man­ten, den Neu­bau der König­li­chen Biblio­thek, bestaunt hat­ten. Spä­ter ste­hen wir auf dem Platz vor der Oper und blicken über das Was­ser in Rich­tung Öre­sund. Und schon stellt sich die näch­ste Fra­ge: Was ist das für ein Schiff?

Ich glau­be, sage ich lei­se, ein Kriegsschiff.

Oh, sagt mei­ne Toch­ter. Wir sehen uns an und spü­ren bei­de, da ist sie wie­der, die uner­bitt­li­che Nähe die­ses Krie­ges, des Kriegs in der Ukrai­ne, den wir für eini­ge Tage ver­ges­sen haben. Ver­ges­sen beim täg­li­chen Brunch in einem der Cafés, beim Bum­mel vor­bei an den bun­ten Häu­sern Nyha­vens, zwi­schen den Rega­len der Biblio­thek, beim Stau­nen über die dop­pel­te Refle­xi­on: wenn die mor­gend­li­chen Son­nen­strah­len im Was­ser des Hafen­ka­nals glit­zern und sich die­ses Glit­zern in den glä­ser­nen Wän­den des Schwar­zen Dia­man­ten wiederholt.

So haben wir nun auch das Auf­blit­zen explo­die­ren­der Geschos­se in ukrai­ni­schen Städ­ten, nicht auf einem Bild­schirm, son­dern reflek­tiert von der Pan­ze­rung der däni­schen Fre­gat­te wie­der vor Augen.

Was hat einer gefürch­tet, den die Welt nicht son­der­lich inter­es­siert haben soll, wovor hat er gezit­tert, die­ser Søren Kier­ke­gaard? Das, was mir beim ersten Durch­blät­tern des Büch­leins ins Auge fällt, ist eine »Lob­re­de auf Abra­ham«. Abra­ham, der, so erzählt es die Bibel, los­zog, sei­nen Sohn zu opfern. War­um? Weil Gott es ihm auf­trug: »Nimm Isaak, dei­nen ein­zi­gen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Mori­ja und opfe­re ihn …«

Ich stutz­te. Ein »Fik­ti­ver Report über ein ame­ri­ka­ni­sches Pop­fes­ti­val« kam mir in den Sinn, ein Musi­cal nach Tibor Dérys Roman, auf­ge­führt in den sieb­zi­ger Jah­ren. Und kein Satz, kei­ne auf der Büh­ne gestell­te Fra­ge war mir so ein­dring­lich erschie­nen, wie die­se: Darf Abra­ham sei­nen Sohn opfern?

Kier­ke­gaards Ant­wort: Eine sol­che Tat, aus­ge­führt, wäre zwar aus ethi­scher Sicht ein Ver­bre­chen und aus ästhe­ti­scher eine Tra­gö­die. Aber aus reli­giö­ser Sicht sei Abra­ham ein Held, ein Held des Glau­bens, einer, des­sen Tat Lob, ja, Bewun­de­rung ver­die­ne. Denn dies sei wah­re Grö­ße, los­zu­zie­hen, Got­tes Auf­trag zu erfül­len: Töte, was du liebst.

Wofür? Eine Fra­ge, die Abra­hams Glau­be nicht erlaubt. Denn der Glau­be selbst ist die Ant­wort. Das Leben des Soh­nes scheint Abra­ham kei­ne Fra­ge wert. Auch kein Gebet, kei­ne Bit­te und kein Fle­hen, Gott möge die­sen Auf­trag widerrufen.

Was wir sehen, von Rem­brandt gemalt, erst der Engel stoppt Abra­hams zum Zusto­ßen erho­be­ne Hand. So legt Abra­hams Geschich­te für die Pre­di­ger nach­fol­gen­der Gene­ra­tio­nen, dop­pelt Zeug­nis ab: das des Glau­bens durch Gehor­sam und gleich­zei­tig das der gött­li­chen Güte durch Belohnung.

»Es war ein frü­her Mor­gen.« Vier­mal lässt Kier­ke­gaards Erzäh­ler, Johann De Silen­tio, Abra­ham auf­bre­chen nach Mori­ja, um den Auf­trag Got­tes zu erfül­len. Wel­che Mög­lich­kei­ten hat Abra­ham, ohne Got­tes Befehl zu ver­wei­gern, damit umzu­ge­hen? Kier­ke­gaard spielt sie durch.

Er lässt in sei­nen Varia­tio­nen I – IV Abra­ham nicht ein ein­zi­ges Mal zögern, nicht als er am Mor­gen, an jedem die­ser vier Mor­gen, das Holz für das Opfer­feu­er spal­tet, nicht auf sei­nem Fuß­marsch nach Mori­ja und nicht als er am Altar das Mes­ser zieht. Auch eine spä­ter erwo­ge­ne fünf­te Opti­on, dass Abra­ham sich selbst als Opfer anbie­tet, ver­wirft der Erzäh­ler. Denn sie käme einer Ver­wei­ge­rung des Gehor­sams gleich.

Das Alte Testa­ment setzt Glau­ben und Gehor­sam in eins. Dem folgt auch Pau­lus in sei­nem neu­te­sta­ment­li­chen Brief an die Phil­ip­per: »Also, mei­ne Lie­ben, – wie ihr alle­zeit gehor­sam gewe­sen seid, (…) schaf­fet, dass ihr selig wer­det, mit Furcht und Zit­tern. (…) Tut alles ohne Mur­ren und ohne Zweifel.«

Kier­ke­gaard, so scheint es jedoch, weiß um die Fol­gen eines reli­giö­sen Fana­tis­mus. Aus­drück­lich setzt er Abra­ham nicht als Bei­spiel, nie­mand sol­le die­ser »höhe­ren Lei­den­schaft (…) für den gött­li­chen Wahn­sinn« fol­gen.

Das Jahr­hun­dert nach Kier­ke­gaard hat gezeigt, wie leicht sich solch höhe­re Lei­den­schaf­ten mas­sen­haft erzeu­gen und erlei­den las­sen. Auf dem Kop­peln der deut­schen Sol­da­ten bei­der Welt­krie­ge stand: Gott mit uns!

Wor­an glaubt eine Mut­ter heu­te, die früh­mor­gens ihren Sohn auf die Stirn küsst, wor­an ein Vater, der ihm mit den Wor­ten: mel­de dich! ein neu­es Han­dy schenkt – bevor der Sohn in den Bus steigt, der ihn an die Front bringt? Soll­te die Mut­ter, soll­te der Vater, den Sohn nicht nie­der­schla­gen, zum Auto zer­ren, in den Kof­fer­raum wuch­ten, los­fah­ren zum näch­sten Grenz­über­gang? Ent­deckung, Gefäng­nis, alles ris­kie­ren, um die­sen Sohn zu retten?

Wer ist die­ser Gott, des­sen Auf­trag sie fol­gen? Wel­chen Namen trägt er heu­te – Frei­heit, Nati­on, Macht, Wohl­stand, Moral? Was für eine Moral ist das, die frem­des Leben opfert?

Wird auch dies­mal der Engel recht­zei­tig erschei­nen, die Hand des Mör­ders zu stop­pen? Wer­den die feind­li­chen Kugeln nicht den Sohn im Gestrüpp tref­fen, son­dern den Widder?

130 Jah­re nach Kier­ke­gaard und zwei Welt­krie­ge spä­ter lässt Tibor Déry eine »fröh­li­che Kna­ben­stim­me« dia­gno­sti­zie­ren: Wir alle kran­ken am Abra­ham-Kom­plex. Denn Abra­ham habe die »ticken­den Uhren­men­schen, die bra­ven Staats­bür­ger« den Gehor­sam gelehrt, damit sie, »das Schwert in der einen und die bla­ken­de Fackel in der ande­ren Hand, die Erde über­schwem­men und mor­den und brand­stif­ten«? Abra­ham, so die­ser Jun­ge, habe »für alle Zei­ten ein Bei­spiel des Gehor­sams« gege­ben, »damit die Mäch­ti­gen den Schwa­chen die Soh­le ins Genick set­zen konnten«.

Hier pro­vo­ziert ein Sohn, anders als Isaak, sei­nen Vater. Ja, er ver­dirbt die gute Stim­mung eines Pop­fes­ti­vals, in Dérys Roman Sinn­bild unse­rer Zeit: Auf offe­ner Büh­ne geschieht ein Mord, und die Sire­nen der Kran­ken­wa­gen heu­len – zu ertra­gen ist dies nur im Rausch der Musik und der Dro­gen. Kon­sum – das scheint die Ant­wort der moder­nen Gesell­schafft auf Kier­ke­gaards Fra­ge nach dem Umgang mit der Furcht und dem Zit­tern. Berauscht euch, mein­te schon Baudelaire.

Heu­te, wo der Glau­be Abra­hams längst kei­ne all­ge­mei­ne Erschei­nung mehr ist, ist es eher das abra­ha­mi­ti­sche Den­ken, das in der west­li­chen Welt, unab­hän­gig von Reli­gio­si­tät, allein auf Beloh­nung und Aner­ken­nung setzt, auf die Ver­hei­ßun­gen durch ver­meint­lich höhe­re Instan­zen: Wer­bung, Medi­en, Poli­tik. Wir nen­nen es Ver­nunft, dies berau­schen­de Gefühl am Ende bei den Guten und Bes­se­ren, bei den Schö­ne­ren und Stär­ke­ren zu sein.

Dort, wo die west­li­che Kon­kur­renz­ge­sell­schaft sich in kon­su­mi­sti­sche Indi­vi­du­en auf­ge­löst hat, bleibt doch die Sehn­sucht nach Zuge­hö­rig­keit, nach Gemein­schaft. Unlös­bar erscheint zugleich die Auf­ga­be, ein gemein­schaft­li­ches Zusam­men­le­ben zu orga­ni­sie­ren, eines, das gerecht und nach­hal­tig ist. Was natio­nal schei­tert, wie kann das glo­bal gelin­gen? So wird das Not­wen­di­ge der Uto­pie ver­däch­tigt und ver­bannt ins Niemandsland.

Statt­des­sen über­neh­men immer wie­der Feind­bil­der die Auf­ga­be, eine Gesell­schaft zusam­men­zu­hal­ten. Ein neu­er Glau­be defi­niert erneut das Böse, poli­ti­sche Auf­klä­rung wird durch Pro­pa­gan­da ersetzt. Das Pathos eines gemein­sa­men Kamp­fes erleuch­tet den öden All­tags­prag­ma­tis­mus der Ver­ein­zel­ten. Und Krieg erscheint als legi­ti­me Fort­set­zung die­ses Kampfes.

In die­se uner­bitt­li­che Logik reißt jeder Angrei­fer den Ange­grif­fe­nen, reißt gegen­wär­tig Russ­land die Ukrai­ne und ihre Ver­bün­de­ten Tag für Tag. Im Krieg voll­zieht der moder­ne Abra­ham auf bei­den Sei­ten der Front die »unend­li­che Bewe­gung« weg von irdi­schem Glück hin zum Lei­den für ein höhe­res Ziel, statt Gott nun wahl­wei­se Volk & Vater­land oder Frei­heit & Demokratie.

Viel­leicht ist das Fata­le an Abra­hams Geschich­te, dass wir, schon das Mes­ser in der Hand, glau­ben, so schlimm wird es nicht wer­den. Wenn auch nicht mehr der da oben, die da oben wer­den uns bewah­ren. Ver­kün­den sie doch immer wie­der: Die näch­ste Gene­ra­ti­on wird nicht die letz­te gewe­sen sein, Isaak wird nicht ster­ben! Der Wid­der ist schon geor­dert, der Engel gebrieft!

Damit betäu­ben wir unse­re Furcht und bän­di­gen unser Zit­tern, auch wenn wir Isaak schon auf dem Opfer­berg gebun­den lie­gen sehen.

Die­ses Para­dox führt uns in Krie­ge gegen ande­re Menschen.

Aus ethi­scher Sicht ist Krieg nur eine der grau­sam­sten For­men des kon­kur­renz­ge­trie­be­nen Umgangs des Men­schen mit Sei­nes­glei­chen. Betrach­tet mit öko­no­misch-öko­lo­gi­schem Blick, ist jeder Krieg der unge­zü­gel­te Ver­brauch von Res­sour­cen im Kampf um Res­sour­cen. Und damit zwar die extrem­ste, doch nur eine wei­te­ren Form der Ver­nich­tung mensch­li­cher Lebensgrundlagen.

Nein, so ver­blen­det sind wir nicht, dass wir ein Wirt­schafts­sy­stem anbe­ten, weil es gott­gleich das Han­deln sei­ner Akteu­re, unser Han­deln, bestimmt. Nein, es muss schon im Ornat der Frei­heit auf die Büh­ne tre­ten. Nur so kann jeder so frei sein, sich das sei­ne dar­un­ter vor­zu­stel­len, ohne mit Hegel nach­zu­fra­gen »ob es nicht eigent­lich Pri­vat­in­ter­es­sen sind«, die unter die­sem Deck­män­tel­chen stecken. Nur so kön­nen wir unse­re Furcht schön­re­den, kön­nen wir es uns schön machen. Oder, um es mit dem Preu­ßen­ge­ne­ral von Fal­ken­hain zu sagen: »Selbst wenn wir dar­über zugrun­de gehen, schön war›s doch!«

Im Öre­sund ankert die Fre­gat­te »Peter Skram«, heu­te als Muse­ums­schiff. Die­ses Kriegs­schiff feu­er­te 1982 ver­se­hent­lich eine Rake­te ab, die eini­ge Wochen­end­häu­ser in Nord­west­see­land zer­stör­te. Drei­ßig Jah­re nach dem Ende des Kal­ten Krie­ges traf eine ande­re ver­se­hent­lich abge­feu­er­te Rake­te im Novem­ber 2022 ein pol­ni­sches Dorf und töte­te zwei Men­schen. In Euro­pas neu­em hei­ßem Krieg sind absicht­li­che Schüs­se die Regel.

Und was tun euro­päi­sche Lan­des­vä­ter bei­der­seits der Front, der­zeit? Sie sind auf dem Weg nach Mori­ja, ihre Söh­ne und Töch­ter zu opfern.

Doch stößt die Meta­pher von Abra­ham und Isaak hier nicht an ihre Gren­zen? Vor­aus­ge­setzt das Leben wird höher bewer­tet als jeder Glau­be, dann blei­ben einem jedem »Lan­des­va­ter« zumin­dest Fra­gen: Wann zer­stö­ren Waf­fen mehr Leben als sie schüt­zen? Vor allem, wann wird Selbst­ver­tei­di­gung zur Selbstvernichtung?

Die Ant­wor­ten müs­sen immer wie­der neu gefun­den wer­de. Ohne die­se Fra­gen ist Abra­hams Glau­be blind. Sie zu stel­len, heißt das Mes­ser über Isaak wahr­zu­neh­men. Und sich an jedem frü­hen Mor­gen neu zu ent­schei­den. Nur eines bleibt fatal, zu glau­ben, ein Engel, sei es von dies­seits oder jen­seits des Atlan­tiks, wer­de das Schlimm­ste verhindern.

Der frü­he Mor­gen ist vor­über. Wir ste­hen längst auf dem Berg in Mori­ja. Der Engel aber, der uns in den Arm fal­len könn­te, der bleibt aus. Isaak wird ster­ben. Es sei denn, Isaak, der alles längst durch­schaut hat, nimmt uns das Mes­ser aus der Hand.

Was aber wäre das Para­dox des Glau­bens bei Isaak? Bis zu dem Moment da ihn Abra­ham bin­det und auf den Altar zerrt, bis zu die­sem Augen­blick mag er wohl glau­ben, unter­wegs zu einem Tier­op­fer zu sein. Das Kind, dem Vater ver­trau­end aus dem ein­zi­gen Grund, weil er der Vater ist.

Doch uner­war­tet sieht er sich gebun­den auf einem Sta­pel Feu­er­holz, sieht den Vater, sieht das Mes­ser in des­sen Hand. Wor­an noch glau­ben die­sem Moment?

Der Mut der Ver­zweif­lung bringt Selbst­mör­der und Atten­tä­ter her­vor. Ihre Furcht, ihr Zit­tern endet mit dem Tod. Der Mut des Glau­bens jedoch wäre, das Mes­ser zu zer­bre­chen, den Vater auf­zu­ru­fen in Abra­ham, sei­ne Lie­be, statt sein Hof­fen auf gött­li­che Güte. Denn die Lie­be sei, so Kier­ke­gaard, »der pri­mus motor des christ­li­chen Lebens«

Was aber treibt uns? Wie kom­men wir zurück aus Mori­ja, auf wel­chem Weg und in wel­chem Zustand?

Der Mor­gen ist längst vor­über, noch nicht der Tag.