Die Sonne stand im Mittagshoch und vergleichsweise niedrig, denn es war Herbst und bereits Winterzeit. Der Pegelstand meines Gallensaftes hingegen war noch immer ein wenig erhöht. Das Organ war mir übergelaufen, weil ein Sprecher im Autoradio – um den Unsinn mit dem Wechsel der Gezeiten zu erklären – seinen Beitrag mit der Mitteilung eröffnet hatte, die DDR sei im April 1980 mit der Umstellung auf die Sommerzeit »vorgeprescht«, weshalb »in aller Eile« die Bundesrepublik habe nachziehen müssen. Und so weiter. Schon lange wolle die Europäische Union diese Entscheidung revidieren, denn es zeige sich, dass die Nachteile zweier Zeitumstellungen im Jahr die Vorzüge erheblich überträfen, doch die Staaten könnten sich halt nicht einigen …
Was hatte meinen Gallenfluss gesteigert?
Wie ich aus sicherer Quelle wusste, hatte Bundeskanzler Schmidt Honecker 1978 wiederholt telefonisch bedrängt und ihn am 18. April 1978 auch schriftlich gebeten, sich der in der Bundesrepublik geplanten Zeitumstellung anzuschließen. Der Bundestag beschloss am 22. Juni 1978 das Zeitgesetz zur Einführung der Sommerzeit in der BRD – ohne den Start festzulegen. Die DDR stellte 1980 um, weil es im Interesse gutnachbarschaftlicher Zusammenarbeit in Europa lag, »wenn möglichst vermieden würde, dass Zeitunterschiede zwischen den einzelnen Staaten in Europa entstehen« – so der Bundeskanzler an den DDR-Staatsratsvorsitzenden. Die DDR folgte aus politischen Erwägungen dem Westen, denn am 28. Oktober 1980 konnte man im Neuen Deutschland lesen, dass die Umstellung auf die Sommerzeit »keine Vorteile für die Energiewirtschaft und für die anderen Bereiche der Volkswirtschaft« gebracht habe, wie wissenschaftliche Gutachten belegten. Sie habe »auf einigen Gebieten sogar zusätzliche Kosten« verursacht. Trotzdem stellte fortan die DDR Jahr um Jahr ihre Uhren um.
Einzig die Botschaft blieb bei der Reportage hängen: Das bereits seit vier Jahrzehnten in Europa andauernde Ärgernis mit der Zeitumstellung habe die DDR verursacht.
Also mit der halben Wahrheit hatte man mal wieder eine ganze Lüge in die Welt gesetzt. Und da sollte einem nicht die Galle überlaufen?
Doch dann trat ich in die Johanniskirche – und war besänftigt. Das Sonnenlicht fiel durch die gewaltigen Fenster an der Südseite des einstigen Kirchenschiffs, es brachte die Farben zum Funkeln, ein Feuerwerk erleuchtete den Raum und stimmte mich heiter und gelassen. Ende September waren die sechs Fenster im Langhaus der Öffentlichkeit übergeben worden, die sieben im Chor schon ein wenig früher.
Einzig wegen dieser Fenster war ich an die Elbe gereist.
Vom Entwurf für den Wettbewerb bis hin zur Realisierung waren neun Arbeitsjahre vergangen. Der Dresdner Max Uhlig, Jahrgang 1937, einst Schüler von Hans-Theo Richter und Max Schwimmer, hatte sich zunächst als Zeichner und Grafiker einen Namen gemacht. Sein Eintrag in dem 2010 erschienenen »Lexikon Künstler in der DDR« ist unter dem Buchstaben U mit fast drei Spalten der längste: Er belegt sowohl Uhligs Produktivität und Kreativität als auch die große Resonanz, die seine Arbeiten innerhalb wie außerhalb unserer damaligen Landesgrenzen erfuhr. Selbst in Ningbo in China stellte Uhlig schon einmal aus, das war allerdings lange bevor ich die zwischen Hongkong und Shanghai gelegene Hafenstadt besuchte. Vielleicht stammte von dort der riesige Chinapinsel, mit welchem Uhlig die Farben direkt auf die 330 Quadratmeter Glas klatschte, nachdem die Scheiben in Stücke geschnitten und wieder mit Bleiruten zusammengefasst worden waren. Die Technik also: traditionell und innovativ zugleich.
Er habe zunächst an die in unmittelbarer Nähe vorbeifließende Elbe als verbindendes Element gedacht, das sich über alle Fenster ziehen sollte, dann die Idee jedoch verworfen und sich stattdessen des Namensgebers des einstigen Gotteshauses angenommen. Die erste Johanniskirche war 941 errichtet worden, sie brannte – oft mit der Siedlung – mehrmals nieder. Luther predigte darin – was seinerzeit zum Übertritt der ganzen Stadt zum Protestantismus führte, und Otto von Guericke – der Mann mit den Magdeburger Halbkugeln und der Vakuumpumpe – wurde hier in der Erbgruft beigesetzt. In den Weltkriegsjahren ruinierten Bombenangriffe auch St. Johannis, fast siebzig Prozent der Magdeburger Quartiere waren nach 620 Angriffen aus der Luft unbewohnbar und die Innenstadt ein einziger Trümmerhaufen. Die Kirchgemeinde übergab 1968 die Ruine dem Rat der Stadt, es begannen sukzessive Sicherungsarbeiten. Der Südturm konnte nach Jahren wieder bestiegen werden, um auf das aus Ruinen auferstandene Magdeburg zu schauen – nachdem zuvor sechs Millionen Kubikmeter Schutt entsorgt werden mussten. In den neunziger Jahren erfolgte der Wiederaufbau der Kirche als vielseitig genutzte Kultureinrichtung. Er fand nun mit der Installation der Uhlig-Fenster seinen krönenden Abschluss. Ein Dreivierteljahrhundert nach dem verbrecherischen Krieg!
Uhlig verwarf also die Elbe-Idee. Die Tatsache, dass in der tausendjährigen Geschichte das Haus fünfmal zerstört und fünfmal wieder aufgebaut worden war, beeindruckte ihn weitaus stärker. Er interpretierte das als Ausdruck von Lebenskraft und Lebenswillen der Magdeburger. Und entwarf dann zunächst die – ausschließlich in Schwarz-Weiß gehaltenen – sieben Chorfenster. Sie zeigen, sehr abstrakt, sieben Rebstöcke, die einerseits den Grafiker verrieten, andererseits dass hier die klassische Grisaille-Technik aufgegriffen worden war. Der Weinstock, das biblische Symbol schlechthin (»Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben«, Johannes 15,5), kann in Uhligs Darstellung – eckig, scharfkantig, spitz – auch als Dornenkrone interpretiert werden.
Wie eben auch die funkelnden farbigen Fenster viel Raum für Interpretation lassen. Das kann eine Landschaft in Rot und Ocker und Gelb und Schwarz mit winzigen blauen und grünen Einsprengseln sein. Aber auch eine Stadt in Flammen. Draußen, außerhalb der Kirchenmauern. Das Gesamtbild aus den sechs schmalen, vierzehn Meter hohen Fenstern ist gewaltig und beeindruckend. Nicht nur wegen der Größe. Vermutlich wünschte sich der Auftraggeber – das Kuratorium für den Wiederaufbau der Johanniskirche zu Magdeburg – den luftigen, weiten Saal noch ein wenig zu verschönern. Was eigentlich nicht nottat: Der weite Raum wirkt allein mit seinen Sandsteinsäulen und schwingenden Bögen und den hohen Öffnungen in den Wänden hinlänglich auf die Sinne. Und nun das! Ein einzigartiges Kunstwerk von Rang. Ein Kleinod? Das wäre ein zu bescheidener Titel. Das hier ist Weltkultur – ebenbürtig etwa den fünf Fenstern von Marc Chagall im Fraumünster am Limmat zu Zürich. Jene zogen seit einem halben Jahrhundert inzwischen Millionen Kunstfreunde aus aller Welt in ihren Bann. Seit diesem Herbst haben sie ein neues Ziel. Meine ich.
Bei der Gelegenheit könnten die Besucher auch die vielen Skulpturen und Plastiken im Stadtzentrum, an der Elbuferpromenade und im Umfeld des Klosters Unser Lieben Frauen – alles in Sichtweite der Johanniskirche – besichtigen. Die meisten dieser Kunstwerke sind Erbe der DDR, geschaffen von mehr als vierzig ostdeutschen Künstlern: Fritz Cremer, Gustav Seitz, Werner Stötzer, Wieland Förster, Sabina Grzimek, Peter Kern, Ludwig Engelhardt, Margret Midell, Jo Jastram, Siegfried Krepp, Theo Balden, Karl-Günther Möpert, Bernd Göbel, nicht zu vergessen der Magdeburger Heinrich Apel … Auch wenn ein Teil der Plastiken auf grünem Grund steht, ist kein Gras über die Geschichte gewachsen. Eine in die Wiese eingelassene Tafel erinnert daran: »Hier befand sind das Braune Haus – Folterhölle für Antifaschisten 1934-1945.«
Ich gebe zu: Von all den Werken beeindruckte mich besonders Lutz Hollands »Europa«. Wir kennen die phönizische Königstochter dieses Namens, die der verliebte Zeus in Gestalt eines Stiers nach Kreta entführte, womit der Kontinent zu seinem Namen kam. Das Motiv ist in unzähligen Darstellungen verewigt, das älteste Bild entstand vor zweieinhalbtausend Jahren. Der Stier ist stets kräftig und strotzt nur so vor Kraft, die Frau immer bildschön – weshalb sie auch jeden Euro-Schein als Wasserzeichen schmückt. Lutz Hollands Europa dagegen ist nun wahrlich keine Schönheit und der Stier, dessen Rippen man zählen kann, droht unter ihr zusammenzubrechen. Ein wahrlich trauriges Ensemble, so mutlos, so kraftlos, so perspektivlos, so bewegungslos.
Holland zeigte sich als Prophet. Seine Plastik »Europa« ist von 1982.