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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Funkeln in Magdeburg

Die Son­ne stand im Mit­tags­hoch und ver­gleichs­wei­se nied­rig, denn es war Herbst und bereits Win­ter­zeit. Der Pegel­stand mei­nes Gal­len­saf­tes hin­ge­gen war noch immer ein wenig erhöht. Das Organ war mir über­ge­lau­fen, weil ein Spre­cher im Auto­ra­dio – um den Unsinn mit dem Wech­sel der Gezei­ten zu erklä­ren – sei­nen Bei­trag mit der Mit­tei­lung eröff­net hat­te, die DDR sei im April 1980 mit der Umstel­lung auf die Som­mer­zeit »vor­ge­prescht«, wes­halb »in aller Eile« die Bun­des­re­pu­blik habe nach­zie­hen müs­sen. Und so wei­ter. Schon lan­ge wol­le die Euro­päi­sche Uni­on die­se Ent­schei­dung revi­die­ren, denn es zei­ge sich, dass die Nach­tei­le zwei­er Zeit­um­stel­lun­gen im Jahr die Vor­zü­ge erheb­lich über­trä­fen, doch die Staa­ten könn­ten sich halt nicht einigen …

Was hat­te mei­nen Gal­len­fluss gesteigert?

Wie ich aus siche­rer Quel­le wuss­te, hat­te Bun­des­kanz­ler Schmidt Hon­ecker 1978 wie­der­holt tele­fo­nisch bedrängt und ihn am 18. April 1978 auch schrift­lich gebe­ten, sich der in der Bun­des­re­pu­blik geplan­ten Zeit­um­stel­lung anzu­schlie­ßen. Der Bun­des­tag beschloss am 22. Juni 1978 das Zeit­ge­setz zur Ein­füh­rung der Som­mer­zeit in der BRD – ohne den Start fest­zu­le­gen. Die DDR stell­te 1980 um, weil es im Inter­es­se gut­nach­bar­schaft­li­cher Zusam­men­ar­beit in Euro­pa lag, »wenn mög­lichst ver­mie­den wür­de, dass Zeit­un­ter­schie­de zwi­schen den ein­zel­nen Staa­ten in Euro­pa ent­ste­hen« – so der Bun­des­kanz­ler an den DDR-Staats­rats­vor­sit­zen­den. Die DDR folg­te aus poli­ti­schen Erwä­gun­gen dem Westen, denn am 28. Okto­ber 1980 konn­te man im Neu­en Deutsch­land lesen, dass die Umstel­lung auf die Som­mer­zeit »kei­ne Vor­tei­le für die Ener­gie­wirt­schaft und für die ande­ren Berei­che der Volks­wirt­schaft« gebracht habe, wie wis­sen­schaft­li­che Gut­ach­ten beleg­ten. Sie habe »auf eini­gen Gebie­ten sogar zusätz­li­che Kosten« ver­ur­sacht. Trotz­dem stell­te fort­an die DDR Jahr um Jahr ihre Uhren um.

Ein­zig die Bot­schaft blieb bei der Repor­ta­ge hän­gen: Das bereits seit vier Jahr­zehn­ten in Euro­pa andau­ern­de Ärger­nis mit der Zeit­um­stel­lung habe die DDR verursacht.

Also mit der hal­ben Wahr­heit hat­te man mal wie­der eine gan­ze Lüge in die Welt gesetzt. Und da soll­te einem nicht die Gal­le überlaufen?

Doch dann trat ich in die Johan­nis­kir­che – und war besänf­tigt. Das Son­nen­licht fiel durch die gewal­ti­gen Fen­ster an der Süd­sei­te des ein­sti­gen Kir­chen­schiffs, es brach­te die Far­ben zum Fun­keln, ein Feu­er­werk erleuch­te­te den Raum und stimm­te mich hei­ter und gelas­sen. Ende Sep­tem­ber waren die sechs Fen­ster im Lang­haus der Öffent­lich­keit über­ge­ben wor­den, die sie­ben im Chor schon ein wenig früher.

Ein­zig wegen die­ser Fen­ster war ich an die Elbe gereist.

Vom Ent­wurf für den Wett­be­werb bis hin zur Rea­li­sie­rung waren neun Arbeits­jah­re ver­gan­gen. Der Dresd­ner Max Uhl­ig, Jahr­gang 1937, einst Schü­ler von Hans-Theo Rich­ter und Max Schwim­mer, hat­te sich zunächst als Zeich­ner und Gra­fi­ker einen Namen gemacht. Sein Ein­trag in dem 2010 erschie­ne­nen »Lexi­kon Künst­ler in der DDR« ist unter dem Buch­sta­ben U mit fast drei Spal­ten der läng­ste: Er belegt sowohl Uhl­igs Pro­duk­ti­vi­tät und Krea­ti­vi­tät als auch die gro­ße Reso­nanz, die sei­ne Arbei­ten inner­halb wie außer­halb unse­rer dama­li­gen Lan­des­gren­zen erfuhr. Selbst in Ning­bo in Chi­na stell­te Uhl­ig schon ein­mal aus, das war aller­dings lan­ge bevor ich die zwi­schen Hong­kong und Shang­hai gele­ge­ne Hafen­stadt besuch­te. Viel­leicht stamm­te von dort der rie­si­ge Chi­na­pin­sel, mit wel­chem Uhl­ig die Far­ben direkt auf die 330 Qua­drat­me­ter Glas klatsch­te, nach­dem die Schei­ben in Stücke geschnit­ten und wie­der mit Blei­ru­ten zusam­men­ge­fasst wor­den waren. Die Tech­nik also: tra­di­tio­nell und inno­va­tiv zugleich.

Er habe zunächst an die in unmit­tel­ba­rer Nähe vor­bei­flie­ßen­de Elbe als ver­bin­den­des Ele­ment gedacht, das sich über alle Fen­ster zie­hen soll­te, dann die Idee jedoch ver­wor­fen und sich statt­des­sen des Namens­ge­bers des ein­sti­gen Got­tes­hau­ses ange­nom­men. Die erste Johan­nis­kir­che war 941 errich­tet wor­den, sie brann­te – oft mit der Sied­lung – mehr­mals nie­der. Luther pre­dig­te dar­in – was sei­ner­zeit zum Über­tritt der gan­zen Stadt zum Pro­te­stan­tis­mus führ­te, und Otto von Gue­ricke – der Mann mit den Mag­de­bur­ger Halb­ku­geln und der Vaku­um­pum­pe – wur­de hier in der Erb­gruft bei­gesetzt. In den Welt­kriegs­jah­ren rui­nier­ten Bom­ben­an­grif­fe auch St. Johan­nis, fast sieb­zig Pro­zent der Mag­de­bur­ger Quar­tie­re waren nach 620 Angrif­fen aus der Luft unbe­wohn­bar und die Innen­stadt ein ein­zi­ger Trüm­mer­hau­fen. Die Kirch­ge­mein­de über­gab 1968 die Rui­ne dem Rat der Stadt, es began­nen suk­zes­si­ve Siche­rungs­ar­bei­ten. Der Süd­turm konn­te nach Jah­ren wie­der bestie­gen wer­den, um auf das aus Rui­nen auf­er­stan­de­ne Mag­de­burg zu schau­en – nach­dem zuvor sechs Mil­lio­nen Kubik­me­ter Schutt ent­sorgt wer­den muss­ten. In den neun­zi­ger Jah­ren erfolg­te der Wie­der­auf­bau der Kir­che als viel­sei­tig genutz­te Kul­tur­ein­rich­tung. Er fand nun mit der Instal­la­ti­on der Uhl­ig-Fen­ster sei­nen krö­nen­den Abschluss. Ein Drei­vier­tel­jahr­hun­dert nach dem ver­bre­che­ri­schen Krieg!

Uhl­ig ver­warf also die Elbe-Idee. Die Tat­sa­che, dass in der tau­send­jäh­ri­gen Geschich­te das Haus fünf­mal zer­stört und fünf­mal wie­der auf­ge­baut wor­den war, beein­druck­te ihn weit­aus stär­ker. Er inter­pre­tier­te das als Aus­druck von Lebens­kraft und Lebens­wil­len der Mag­de­bur­ger. Und ent­warf dann zunächst die – aus­schließ­lich in Schwarz-Weiß gehal­te­nen – sie­ben Chor­fen­ster. Sie zei­gen, sehr abstrakt, sie­ben Reb­stöcke, die einer­seits den Gra­fi­ker ver­rie­ten, ande­rer­seits dass hier die klas­si­sche Gri­saille-Tech­nik auf­ge­grif­fen wor­den war. Der Wein­stock, das bibli­sche Sym­bol schlecht­hin (»Ich bin der Wein­stock, ihr seid die Reben«, Johan­nes 15,5), kann in Uhl­igs Dar­stel­lung – eckig, scharf­kan­tig, spitz – auch als Dor­nen­kro­ne inter­pre­tiert werden.

Wie eben auch die fun­keln­den far­bi­gen Fen­ster viel Raum für Inter­pre­ta­ti­on las­sen. Das kann eine Land­schaft in Rot und Ocker und Gelb und Schwarz mit win­zi­gen blau­en und grü­nen Ein­spreng­seln sein. Aber auch eine Stadt in Flam­men. Drau­ßen, außer­halb der Kir­chen­mau­ern. Das Gesamt­bild aus den sechs schma­len, vier­zehn Meter hohen Fen­stern ist gewal­tig und beein­druckend. Nicht nur wegen der Grö­ße. Ver­mut­lich wünsch­te sich der Auf­trag­ge­ber – das Kura­to­ri­um für den Wie­der­auf­bau der Johan­nis­kir­che zu Mag­de­burg – den luf­ti­gen, wei­ten Saal noch ein wenig zu ver­schö­nern. Was eigent­lich nicht not­tat: Der wei­te Raum wirkt allein mit sei­nen Sand­stein­säu­len und schwin­gen­den Bögen und den hohen Öff­nun­gen in den Wän­den hin­läng­lich auf die Sin­ne. Und nun das! Ein ein­zig­ar­ti­ges Kunst­werk von Rang. Ein Klein­od? Das wäre ein zu beschei­de­ner Titel. Das hier ist Welt­kul­tur – eben­bür­tig etwa den fünf Fen­stern von Marc Chagall im Frau­mün­ster am Lim­mat zu Zürich. Jene zogen seit einem hal­ben Jahr­hun­dert inzwi­schen Mil­lio­nen Kunst­freun­de aus aller Welt in ihren Bann. Seit die­sem Herbst haben sie ein neu­es Ziel. Mei­ne ich.

Bei der Gele­gen­heit könn­ten die Besu­cher auch die vie­len Skulp­tu­ren und Pla­sti­ken im Stadt­zen­trum, an der Elb­ufer­pro­me­na­de und im Umfeld des Klo­sters Unser Lie­ben Frau­en – alles in Sicht­wei­te der Johan­nis­kir­che – besich­ti­gen. Die mei­sten die­ser Kunst­wer­ke sind Erbe der DDR, geschaf­fen von mehr als vier­zig ost­deut­schen Künst­lern: Fritz Cremer, Gustav Seitz, Wer­ner Stöt­zer, Wie­land För­ster, Sabi­na Grzimek, Peter Kern, Lud­wig Engel­hardt, Mar­gret Midell, Jo Jastram, Sieg­fried Krepp, Theo Bal­den, Karl-Gün­ther Möpert, Bernd Göbel, nicht zu ver­ges­sen der Mag­de­bur­ger Hein­rich Apel … Auch wenn ein Teil der Pla­sti­ken auf grü­nem Grund steht, ist kein Gras über die Geschich­te gewach­sen. Eine in die Wie­se ein­ge­las­se­ne Tafel erin­nert dar­an: »Hier befand sind das Brau­ne Haus – Fol­ter­höl­le für Anti­fa­schi­sten 1934-1945.«

Ich gebe zu: Von all den Wer­ken beein­druck­te mich beson­ders Lutz Hol­lands »Euro­pa«. Wir ken­nen die phö­ni­zi­sche Königs­toch­ter die­ses Namens, die der ver­lieb­te Zeus in Gestalt eines Stiers nach Kre­ta ent­führ­te, womit der Kon­ti­nent zu sei­nem Namen kam. Das Motiv ist in unzäh­li­gen Dar­stel­lun­gen ver­ewigt, das älte­ste Bild ent­stand vor zwei­ein­halb­tau­send Jah­ren. Der Stier ist stets kräf­tig und strotzt nur so vor Kraft, die Frau immer bild­schön – wes­halb sie auch jeden Euro-Schein als Was­ser­zei­chen schmückt. Lutz Hol­lands Euro­pa dage­gen ist nun wahr­lich kei­ne Schön­heit und der Stier, des­sen Rip­pen man zäh­len kann, droht unter ihr zusam­men­zu­bre­chen. Ein wahr­lich trau­ri­ges Ensem­ble, so mut­los, so kraft­los, so per­spek­tiv­los, so bewegungslos.

Hol­land zeig­te sich als Pro­phet. Sei­ne Pla­stik »Euro­pa« ist von 1982.