Freitag, 29. Oktober 1943, der Himmel über Berlin ist leicht bewölkt, Sonnenstrahlen brechen immer wieder durch. Die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße erreichen schlechte Nachrichten: Die Rote Armee tritt im Mittelabschnitt der Ostfront westlich von Smolensk zu einem neuen Angriff gegen die dortigen deutschen Truppen an. Und im norditalienischen Genua nehmen die Alliierten den Hafen ein und rücken gen Norden vor.
Nur wenige Gehminuten von der Wilhelmstraße, in der Bellevuestraße 15, beginnt am Volksgerichtshof der Prozess gegen Elfriede Scholz, vierzig Jahre alt, Schneiderin, geschieden, zuletzt wohnhaft in Dresden, angeklagt wegen »Wehrkraftzersetzung«. Wer ist Elfriede Scholz?
Am 25. März 1903 kommt sie als jüngstes von fünf Kindern mit dem Nachnamen Remark zur Welt. Die Geschwister wachsen in Osnabrück auf, wo die Familie Remark in einfachen Verhältnissen lebt. Während ihr Bruder Erich Remark plant, Lehrer zu werden, entscheidet Elfriede sich für eine Lehre als Schneiderin. Von Osnabrück zieht es Elfriede Remark erst nach Leipzig, dann nach Berlin und schließlich nach Dresden. Dort arbeitet sie als selbstständige Hausschneiderin. Ihr Bruder Erich wird unterdessen 1916 für den Krieg eingezogen. Erich Maria Remarque – wie er sich nun nennt – erfährt am eigenen Leib, wie leidvoll die Erfahrungen eines Krieges sind. Nachdem der Erste Weltkrieg beendet ist, arbeitet er eine Zeit lang als Lehrer. Schlussendlich widmet er sich aber doch der Schriftstellerei. Zunächst bleibt Remarque erfolglos. Erst mit »Im Westen nichts Neues« landet der junge Autor einen Welterfolg. Amerika ruft.
Auch wenn ihre Lebensentwürfe sehr unterschiedlich sind – seine pazifistische Einstellung teilt Schwester Remarque mit dem bekannten Bruder. 1933 werden seine Bücher zusammen mit Werken von Erich Kästner, Bertold Brecht, Franz Kafka und vielen anderen verboten und verbrannt. Während ihr Bruder zum internationalen Star der Literatur aufsteigt, muss Elfriede Remark sich durchkämpfen. Ihr Schneider-Geschäft läuft schleppend. Unterstützt Remarque sie zunächst noch finanziell, bricht ihr Kontakt später ab. Der Autor lebt in einer »anderen«, einer mondänen Welt.
Elfriede lernt Heinz Scholz kennen, der als Schlagzeuger einer Tanzkapelle in Dresdner Kaffeehäusern auftritt. Anfang Dezember 1940 wird er zur Marineartillerie eingezogen. Im Mai 1941 heiraten die beiden während eines kurzen Fronturlaubs. Doch die Ehe ist nicht glücklich. Bereits vier Monate nach der Hochzeit verlangt Heinz die Scheidung. Doch Elfriede, die ihren Nachnamen Scholz weiterhin trägt, kann ihre kleine Schneiderei in Dresden etablieren und so der finanziellen Not entkommen. Sie hat sich mit Ingeborg Rietzel, einer ihrer Kundinnen angefreundet, sie besuchen sich in ihren Wohnungen, empfinden gegenseitige Sympathie und Vertrauen. In Gesprächen erzählt Elfriede nicht nur von ihren Sorgen, sondern lässt auch ihrem Ärger über »die Politik«, die Nationalsozialisten und die Kriegsfolgen freien Lauf. Davon erzählt Ingeborg ihrem Mann, einem Hauptmann der Wehrmacht. Der erstattet Anzeige.
Am 18. August 1943 steht die Gestapo vor ihrer Tür. Elfriede Scholz wird verhaftet, verhört, schließlich wegen »Wehrkraftzersetzung« angeklagt. Nach kurzer Polizeihaft kommt sie in das Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit. Dort wartet sie auf ihren Prozess. Am 26. Oktober wird ihr endlich eine mehrseitige Anklageschrift ausgehändigt, unterzeichnet von Reichsanwalt Albert Weyersberg. Sie wird beschuldigt, »fortgesetzt und öffentlich die Wehrkraft des deutschen Volkes zu zersetzen und den Feind begünstigt« zu haben. Als Beweismittel werden Zeuginnen zitiert, unter anderen Ingeborg Rietzel. Der Reichsanwalt beantragt eine Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof, drei Tage später steht Elfriede Scholz als Angeklagte vor der Richterbank.
Den Vorsitz hat Roland Freisler. Sein Vorsitz ist gefürchtet, er schreit, tobt und erniedrigt Angeklagte mit Spott und Hohn. Mit seiner Verhandlungsführung macht er den Gerichtssaal zur persönlichen Bühne. Der Gerichtsaal ist gut besetzt: Parteigänger in Uniform, Justizangestellte, ausgewähltes Publikum, Redakteure gleichgeschalteter Zeitungen. Als Freisler mit seinen Beisitzern in roten Roben den Saal betritt, erheben sich die Anwesenden nicht nur wie im Gericht üblich, sie recken den Arm zum Hitlergruß. Elfriede Scholz, die Angeklagte, ist die Einzige, die ihren Arm nicht hebt.
Freisler eröffnet die Sitzung. Mit schneidiger, durchdringender Stimme fragt er nach ihrem Geburtsnamen.
»Remark? – in meiner Akte steht am Ende ein ›k‹ – ist das richtig? (…) Ihr werter Herr Bruder schreibt sich doch mit ›q‹«, stellt Freisler in mürrischem Ton fest. »Dieser ehrlose Lump hat gegen die Helden des vergangenen Krieges gehetzt – und sie machen es ihm heute nach und hetzen gegen die Männer, die sich jetzt so heldenhaft unseren Feinden gegenüberstellen. Aber dafür werden Sie büßen. Ihr Bruder ist uns leider entwischt. Sie entwischen uns nicht.«
Freisler ist ganz in seinem Element. Er brüllt, beleidigt, unterbricht, Elfriede Scholz lässt er kaum zu Wort kommen. Sie räumt ein, Kritik am Krieg geäußert zu haben. »Hören Sie auf!«, fährt Freisler dazwischen, »ich verbiete Ihnen, Ihre defaitistische Propaganda hier weiterzubetreiben. (…) Sie sind wirklich keinen Deut besser als ihr verkommenes Bruderherz.« Sie starrt zu Boden und schweigt.
Nach gerade mal einer Stunde verkündet Freisler das Urteil – »Im Namen des deutschen Volkes«: »Frau Elfriede Scholz, geb. Remark, hat in monatelangen maßlos hetzenden defaitistischen Äußerungen gegenüber einer Soldatenfrau sich bis zu Erklärungen verstiegen, sie möchte dem Führer eine Kugel durch den Kopf jagen, unsere Soldaten seien Schlachtvieh, der Führer habe sie auf den Gewissen (…). Als ehrlose fanatische Zersetzungs-Propagandistin unserer Kriegsfeinde ist sie für immer ehrlos. Sie wird mit dem Tode bestraft.«
Die Verhandlung ist geschlossen. Elfriede Scholz wird von zwei Wachbeamten aus dem Saal geführt. Auf Freisler und seine Beisitzer wartet schon der nächste Prozess. Bis zum Ende des Krieges wird der Volksgerichtshof 5200 Todesurteile fällen, mehr als 2600 davon Freislers Senat.
Am 25. November wird Elfriede Scholz vom Berliner Frauengefängnis in die Haftanstalt Berlin-Plötzensee transportiert. Die Vorbereitungen zur Hinrichtung werden getroffen. Sie weiß, dass sie sterben muss. In einem letzten Briefe an ihre Schwester Erna schreibt sie: »Heute Mittag um 1 Uhr bin ich nicht mehr.«
Der Morgen graut, sie wartet darauf, dass man sie zu ihrem Henker bringt. Doch es geschieht nichts. Wegen der verstärkten Luftangriffe auf Berlin wird die Hinrichtung verschoben. Elfriede Scholz wird zurück in das Frauengefängnis gebracht, ein neuer Hinrichtungstermin vom Oberreichsanwalt festgelegt: 16. Dezember. Warten auf den Tod.
Am 16. Dezember 1943, um 11 Uhr, erscheint der Vollstreckungsleiter, Oberstaatsanwalt Hans Volk, begleitet von einem Justizbeamten und dem Anstaltsarzt. Kurz, im kühlen Ton, wird ihr mitgeteilt, dass die Vollstreckung des Urteils für 13 Uhr anberaumt worden sei. Der Oberstaatsanwalt wird später protokollieren, die Verurteilte habe die Mitteilung »ruhig und gefasst« entgegengenommen. Beamte holen sie ab. Der Weg führt durch einen langen Flur, niemand spricht ein Wort. Sie erreichen einen Flachbau, in dessen Vorraum weitere Gefängnisbeamte warten, darunter der Scharfrichter Wilhelm Friedrich Röttger.
Wilhelm Röttger, gelernter Schlosser, der ein Fuhrgeschäft für den Berliner Zentral- und Schlachthof betreibt und – gewissermaßen nebenberuflich – einmal pro Woche im Gefängnis-Plötzensee Hinrichtungen vollzieht, gilt als besonders eifriger Henker. Für sein Henkersamt erhält er ein Jahresfixum von 3000 Reichsmark, zusätzlich 65 Mark »Kopfprämie« für jede Hinrichtung. Von allen Scharfrichtern des Dritten Reichs vollzieht der Familienvater die meisten Hinrichtungen. Es kommt vor, dass er während einer »Schicht« mehr als dreißig Menschen tötet – mit dem Fallbeil, aber auch mit dem Strick.
Nun steht er vor Elfriede Scholz. Hinter ihm ein schwarzer Vorhang, dahinter das metallene Fallbeil. Gehilfen führen Elfriede Scholz zum Fallbeil, legen ihren Kopf in eine Aussparung und schließen über ihren Hals einen Bügel. Im nächsten Moment fällt das Fallbeil herab. »Die Vollstreckung dauerte von der Vorführung bis zur Vollzugmeldung 8 Sekunden«, wird es im Protokoll des Oberreichsanwalts heißen.
Dreißig Minuten nach der Hinrichtung wird der Leichnam in eine schmucklose Kiste gelegt und in das Anatomische Institut der Berliner Charité gebracht. Dort wartet schon Professor Hermann Stieve, der sich den weiblichen Geschlechtszyklus zum Hauptforschungsgebiet erkoren hat und sich Leichname aus dem Gefängnis Plötzensee und dem Konzentrationslager Ravensbrück liefern lässt. In Stieves Obduktionsliste, die später entdeckt wird, erscheint der Namen Elfriede Scholz unter der Nummer 105.
Das Gefängnis Plötzensee teilt der Schwester mit, Elfriede Scholz sei »amtlich bestattet« worden. Von der Reichsanwaltschaft erhält sie eine Kostenrechnung: Für die »Vollstreckung« fallen 300 Reichsmark an, für Haft und Transportkosten werden 195,68 Reichsmark in Rechnung gestellt, zuzüglich 12 Pfennig Portokosten für die Übersendung der Kostenrechnung, insgesamt ein Betrag von 495,80 Reichsmark.
Erich Maria Remarque, der in New York lebt, erfährt 1946 von Elfriedes Hinrichtung – und ist erschüttert. Es quält ihn der Gedanke, dass seine Schwester seinetwegen zum Tode verurteilt worden ist. In seinem Auftrag bemüht sich der Anwalt Robert W. Kempner bei der Westberliner Staatsanwaltschaft um eine strafrechtliche Verfolgung der noch lebenden Prozessbeteiligten. Am 25. September 1970, erhält er den Einstellungsbeschluss des Kammergerichts Berlin. Laut Kempner hatte die Staatsanwaltschaft nicht einmal den noch lebenden Prozess-Beisitzer Kurt Lasch vernommen.
Erich Maria Remarque erfährt das nicht mehr. Er stirbt am Tag der Einstellung des Verfahrens im Alter von 72 Jahren an Herzversagen.
Hinweis: Einige Zitate sowie der Wortlaut des Todesurteils sind der großartigen Doppelbiografie »Die verlorene Schwester« von Heinrich Thiess (zu Klampen Verlag 2020, 28 €) entnommen.
Lese-Tipp: Helmut Ortner: Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers, Nomen Verlag, Frankfurt 2022, 358 S., 20 €.