Seit Februar demonstrieren in Algerien wöchentlich Millionen Menschen gegen »das System«. Auslöser war die auf den 18. April terminierte (Wieder-)Wahl des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika für eine fünfte Amtszeit. 2013 erlitt der Präsident mehrere schwere Schlaganfälle. Seither sitzt er im Rollstuhl, kann sich kaum bewegen, geschweige denn sprechen. Spätestens seitdem ist unklar, wer die wirkliche Macht im Lande ausübt, weshalb die Menschen von le pouvoir (»die Macht«) oder la nébuleuse (»die Undurchsichtige«) sprechen. Am 13. März verzichtete »die Mumie«, wie der Präsident auch genannt wird, auf seine Wiederwahl, am 2. April trat er gar vorzeitig von seinem Amt zurück, das am 28. April formal geendet hätte. Die Demonstrationen gehen weiter.
Nahezu die gesamten algerischen Staatseinkünfte stammen aus dem Rohstoffexport (Erdöl und Erdgas). Fast alle Grundnahrungsmittel, Pharmazeutika und Gebrauchsgüter müssen importiert werden. Eine an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientierte oder auf Autarkie zielende Industrialisierung hat nicht stattgefunden. Somit ist der Staat zentraler wirtschaftlicher Akteur. Seine Einnahmen – und damit die Fähigkeit zur Subventionierung von Grundbedürfnissen (Grundnahrungsmittel, Wohnungsbau, Infrastruktur) – sind in den letzten Jahren aufgrund des sinkenden Ölpreises drastisch zurückgegangen.
Dieses System ist der Nährboden für ein perfektes Netzwerk von Korruption: Die Importe laufen über wenige vom Staat lizensierte Agenten, die die Preise fast nach Gutdünken festsetzen können. Meist werden die Importe durch kurzfristige Kredite (Laufzeit meist drei bis sechs Monate) zwischenfinanziert. Für die Vermittlung der hochverzinslichen Kredite kassieren (halb-)staatliche Akteure horrende Gebühren. Die Vergabe von Großprojekten an ausländische Konzerne insbesondere in der Erdöl- und Erdgasförderung, der Bau von Pipelines und Raffinerien, Autobahnen, der Bau einer U-Bahn in Algier und dergleichen ist durch die Zahlung gewaltiger Schmiergelder gekennzeichnet. Eine weitere Einnahmequelle stellt der Kauf von Rüstungsgütern dar, da die Lieferanten den Bestellern in der Regel den Systempreis als »Kommissionen« zukommen lassen, der dann vom Abnehmer mitbezahlt wird. Auch die Bundesrepublik Deutschland lieferte 2018 Waffen im Umfang von mehr als 800 Millionen Euro. Die Armee ist teils direkt, teils über wichtige, mit den hohen Militärs verbundene Familien in dieses System eingewoben.
Das ökonomisch wie politisch blockierte System produziert gewaltige soziale Probleme. Von den derzeit mehr als 42 Millionen Einwohnern sind nach offiziellen Angaben elf Prozent arbeitslos, in Wirklichkeit dürften es mindestens 17 Prozent sein. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist weniger als 20 Jahre alt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei etwa 50 Prozent. Auch die Zahl der arbeitslosen Hochschulabsolventen liegt in diesem Bereich. Inwieweit Frauenarbeitslosigkeit überhaupt von der Statistik erfasst wird, ist schwer einzuschätzen, da Frauen sich in der Regel nicht arbeitslos melden. Landflucht und unkontrollierte Urbanisierung sind die Folge mangelnder Beschäftigungsmöglichkeiten, um die großen Städte entwickeln sich Slums mit Millionen Bewohnern. Die (illegale) und mir schweren Strafen belegte Flucht über das Mittelmeer hat schon vor drei Jahrzehnten begonnen und wächst weiter. Zentrales Problem ist die grassierende Wohnungsnot, da Kapital meist in Luxusvillen für die sich herausbildende Schicht von Reichen investiert wird oder in hochpreisige Immobilien, die an Ausländer vermietet werden (Diplomaten, Firmenvertreter et cetera).
Die angespannte soziale Lage hatte bereits im Oktober 1988 in der Folge eines Schülerstreiks zu einem landesweiten Aufruhr geführt, der von der Armee brutal beendet wurde: Nach offiziellen Zahlen wurden über 600 Menschen getötet. Es folgte eine neue Verfassung (1989), die auch die Zulassung politischer Parteien jenseits der Einheitspartei FLN (Nationale Befreiungsfront) ermöglichte. An der Jahreswende 1991/92 siegte die Islamische Heilsfront haushoch bei den Parlamentswahlen. Das Militär putschte, setzte den – zuvor von ihm auf den Schild gehobenen – Präsidenten Chadli Bendjedid ab, es folgte ein fast zehnjähriger Bürgerkrieg, der mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete. Auch während des »arabischen Frühlings« 2011 kam es zu Massenprotesten, dank umfangreichster »Sicherheitsmaßnahmen« (Einstellung des gesamten Bus- und Eisenbahnverkehrs um die Hauptstadt, Aufbietung von mehr als 30.000 Sicherheitskräften) konnten größere Menschenansammlungen verhindert werden.
Grotesk ist am algerischen politischen System die Tatsache, dass es durchaus eine relativ pluralistische Presse und einen Parteienpluralismus gibt. Doch sind alle Parteien mit Ausnahme der in der Kabylei verankerten Partei der Sozialistischen Kräfte (FFS) in das System eingebunden. Das Spektrum reicht von der islamistischen Partei für die Gesellschaft und den Frieden (MSP) bis zur trotzkistischen Partei der Arbeiter (PT) mit ihrer medienwirksamen Vorsitzenden Louisa Hanoun. Sie alle hatten Mühe, sich auf die Massenproteste einzustellen, erklärten aber – eine nach der anderen bis schließlich zur FLN – ihre Unterstützung für die Forderungen der Millionen Demonstranten.
So bleibt in diesem undurchsichtigen, im Kern labilen System die Nationale Volksarmee das, was sie immer war: die einzige strukturierte Kraft. Doch: Ist sie (noch) so monolithisch wie bisher? Schon während des grauenvollen Bürgerkriegs der 90er Jahre waren mehrere teils hohe Offiziere desertiert, weil sie das Regime bezichtigten, in bester Tradition des counter-insurgency islamistische Banden zu instrumentalisieren, um abscheuliche Massaker an der Zivilbevölkerung zu begehen mit dem Ziel, die Islamisten zu delegitimieren. Orchestriert wurden die Aktionen vom Chef des militärischen Geheimdienstes DRS, General Mohamed Mediène, genannt Tawfiq. Dieser Geheimdienst soll auch Dossiers über die Korruption führender Militärs und anderer Größen des Systems angelegt haben. 2015 wurde Mediène von Bouteflika abgesetzt, der DRS aufgelöst, seine Abteilungen dem 79-jährigen Oberkommandierenden der Armee und stellvertretenden Verteidigungsminister Ahmed Gaid Salah unterstellt.
Ende Januar 2019, lange vor den Massendemonstrationen, waren 13 führende Offiziere verhaftet worden. Offensichtlich gärte es auch in der Armee aufgrund der Kandidatur Bouteflikas für eine fünfte Amtszeit. Das Organ der Armee, el djeich, veröffentlichte Ende Februar einen sehr ambivalenten Leitartikel, der die Verantwortung der Armee gegenüber dem Volkswillen thematisierte. Als die großen Massendemonstrationen begannen, schoss die Armee nicht (anders als 1988), die Demonstranten riefen in Sprechchören »el djeich, esh-shaab – khawa, khawa« (die Armee und das Volk sind Brüder).
Erst Ende März forderte der Oberkommandierende der Armee Gaid Salah, bis dahin bedingungsloser Unterstützer des Präsidenten, die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens aus gesundheitlichen Gründen gegen den amtierenden Präsidenten auf der Grundlage der Verfassung. Für viele Kommentatoren war dies eine Botschaft, die den Erhalt des Systems ohne Bouteflika retten sollte. Doch am 4. April erklärte Gaid Salah, dass die Armee »das Volk vor einer Handvoll Personen schützen werde, die sich unrechtmäßig den Reichtum des algerischen Volkes angeeignet« habe. Prompt leitete die algerische Justiz Verfahren wegen Korruption und Devisenvergehen ein, der algerische Luftraum wurde für Privatflüge innerhalb des Landes und ins Ausland geschlossen, 150 Personen wurden mit einem Ausreiseverbot belegt, die beiden Brüder Bouteflikas stehen unter Hausarrest. Das Volk aber demonstriert weiter gegen »das System«, dessen Teil die Armee zumindest war. Wird sie jetzt den Volkswillen retten und die Demokratie einführen?
Wahrscheinlicher ist, dass die Armee oder zumindest ihre Spitze, selbst tragender Teil »des Systems« seit der Unabhängigkeit, versuchen wird, ihre staatstragende (und ökonomische) Rolle zu retten. Doch das, was »die Mumie« im Schaufenster der Republik bewirken sollte, ist gescheitert: Zwischen den Clans, die die »reale Macht« in Algerien darstellten, ist ein offener Kampf ausgebrochen, Personen und Gruppen werden zumindest zum Teil sichtbar. Die Armee und ihre Geheimdienste haben genügend Erfahrung, um mittels provokatorischer Elemente die friedlichen Massendemonstrationen zu kippen und einen Schießbefehl zu rechtfertigen. Bisher (Stand 22. April) haben die Demonstranten es vermocht, jedwede Gewalt zu verhindern. Und sie wissen offensichtlich, dass mit dem Verschwinden der Person Bouteflika »das System« noch lange nicht am Ende ist. Deshalb protestieren sie weiter auf den Straßen. Die entscheidende Frage bleibt: Ist die Armee noch jene monolithische Einheit, die bereit ist, auf die Brüder und Schwestern auf der Straße zu schießen, oder gelingt es den Massen, auch den militärischen Teil »des Systems« zu stürzen, der bisher dessen Rückgrat war.
Dr. phil. Werner Ruf, bis 2003 Professor an der Universität Kassel, ist Politologe und Friedensforscher. Er ist Mitglied des Gesprächskreises Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher »Islamischer Staat & Co« (2017) und »Der Islam – Schrecken des Abendlands« (2014), beide PapyRossa (Köln).