Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Frühling in Algerien?

Seit Febru­ar demon­strie­ren in Alge­ri­en wöchent­lich Mil­lio­nen Men­schen gegen »das System«. Aus­lö­ser war die auf den 18. April ter­mi­nier­te (Wieder-)Wahl des Prä­si­den­ten Abde­la­ziz Bou­te­f­li­ka für eine fünf­te Amts­zeit. 2013 erlitt der Prä­si­dent meh­re­re schwe­re Schlag­an­fäl­le. Seit­her sitzt er im Roll­stuhl, kann sich kaum bewe­gen, geschwei­ge denn spre­chen. Spä­te­stens seit­dem ist unklar, wer die wirk­li­che Macht im Lan­de aus­übt, wes­halb die Men­schen von le pou­voir (»die Macht«) oder la nébu­leu­se (»die Undurch­sich­ti­ge«) spre­chen. Am 13. März ver­zich­te­te »die Mumie«, wie der Prä­si­dent auch genannt wird, auf sei­ne Wie­der­wahl, am 2. April trat er gar vor­zei­tig von sei­nem Amt zurück, das am 28. April for­mal geen­det hät­te. Die Demon­stra­tio­nen gehen weiter.

Nahe­zu die gesam­ten alge­ri­schen Staats­ein­künf­te stam­men aus dem Roh­stoff­ex­port (Erd­öl und Erd­gas). Fast alle Grund­nah­rungs­mit­tel, Phar­ma­zeu­ti­ka und Gebrauchs­gü­ter müs­sen impor­tiert wer­den. Eine an den Bedürf­nis­sen der Bevöl­ke­rung ori­en­tier­te oder auf Aut­ar­kie zie­len­de Indu­stria­li­sie­rung hat nicht statt­ge­fun­den. Somit ist der Staat zen­tra­ler wirt­schaft­li­cher Akteur. Sei­ne Ein­nah­men – und damit die Fähig­keit zur Sub­ven­tio­nie­rung von Grund­be­dürf­nis­sen (Grund­nah­rungs­mit­tel, Woh­nungs­bau, Infra­struk­tur) – sind in den letz­ten Jah­ren auf­grund des sin­ken­den Ölprei­ses dra­stisch zurückgegangen.

Die­ses System ist der Nähr­bo­den für ein per­fek­tes Netz­werk von Kor­rup­ti­on: Die Impor­te lau­fen über weni­ge vom Staat lizen­sier­te Agen­ten, die die Prei­se fast nach Gut­dün­ken fest­set­zen kön­nen. Meist wer­den die Impor­te durch kurz­fri­sti­ge Kre­di­te (Lauf­zeit meist drei bis sechs Mona­te) zwi­schen­fi­nan­ziert. Für die Ver­mitt­lung der hoch­ver­zins­li­chen Kre­di­te kas­sie­ren (halb-)staatliche Akteu­re hor­ren­de Gebüh­ren. Die Ver­ga­be von Groß­pro­jek­ten an aus­län­di­sche Kon­zer­ne ins­be­son­de­re in der Erd­öl- und Erd­gas­för­de­rung, der Bau von Pipe­lines und Raf­fi­ne­rien, Auto­bah­nen, der Bau einer U-Bahn in Algier und der­glei­chen ist durch die Zah­lung gewal­ti­ger Schmier­gel­der gekenn­zeich­net. Eine wei­te­re Ein­nah­me­quel­le stellt der Kauf von Rüstungs­gü­tern dar, da die Lie­fe­ran­ten den Bestel­lern in der Regel den System­preis als »Kom­mis­sio­nen« zukom­men las­sen, der dann vom Abneh­mer mit­be­zahlt wird. Auch die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land lie­fer­te 2018 Waf­fen im Umfang von mehr als 800 Mil­lio­nen Euro. Die Armee ist teils direkt, teils über wich­ti­ge, mit den hohen Mili­tärs ver­bun­de­ne Fami­li­en in die­ses System eingewoben.

Das öko­no­misch wie poli­tisch blockier­te System pro­du­ziert gewal­ti­ge sozia­le Pro­ble­me. Von den der­zeit mehr als 42 Mil­lio­nen Ein­woh­nern sind nach offi­zi­el­len Anga­ben elf Pro­zent arbeits­los, in Wirk­lich­keit dürf­ten es min­de­stens 17 Pro­zent sein. Fast die Hälf­te der Bevöl­ke­rung ist weni­ger als 20 Jah­re alt. Die Jugend­ar­beits­lo­sig­keit liegt bei etwa 50 Pro­zent. Auch die Zahl der arbeits­lo­sen Hoch­schul­ab­sol­ven­ten liegt in die­sem Bereich. Inwie­weit Frau­en­ar­beits­lo­sig­keit über­haupt von der Sta­ti­stik erfasst wird, ist schwer ein­zu­schät­zen, da Frau­en sich in der Regel nicht arbeits­los mel­den. Land­flucht und unkon­trol­lier­te Urba­ni­sie­rung sind die Fol­ge man­geln­der Beschäf­ti­gungs­mög­lich­kei­ten, um die gro­ßen Städ­te ent­wickeln sich Slums mit Mil­lio­nen Bewoh­nern. Die (ille­ga­le) und mir schwe­ren Stra­fen beleg­te Flucht über das Mit­tel­meer hat schon vor drei Jahr­zehn­ten begon­nen und wächst wei­ter. Zen­tra­les Pro­blem ist die gras­sie­ren­de Woh­nungs­not, da Kapi­tal meist in Luxus­vil­len für die sich her­aus­bil­den­de Schicht von Rei­chen inve­stiert wird oder in hoch­prei­si­ge Immo­bi­li­en, die an Aus­län­der ver­mie­tet wer­den (Diplo­ma­ten, Fir­men­ver­tre­ter et cetera).

Die ange­spann­te sozia­le Lage hat­te bereits im Okto­ber 1988 in der Fol­ge eines Schü­ler­streiks zu einem lan­des­wei­ten Auf­ruhr geführt, der von der Armee bru­tal been­det wur­de: Nach offi­zi­el­len Zah­len wur­den über 600 Men­schen getö­tet. Es folg­te eine neue Ver­fas­sung (1989), die auch die Zulas­sung poli­ti­scher Par­tei­en jen­seits der Ein­heits­par­tei FLN (Natio­na­le Befrei­ungs­front) ermög­lich­te. An der Jah­res­wen­de 1991/​92 sieg­te die Isla­mi­sche Heils­front haus­hoch bei den Par­la­ments­wah­len. Das Mili­tär putsch­te, setz­te den – zuvor von ihm auf den Schild geho­be­nen – Prä­si­den­ten Chad­li Bend­je­did ab, es folg­te ein fast zehn­jäh­ri­ger Bür­ger­krieg, der mehr als 200.000 Men­schen das Leben koste­te. Auch wäh­rend des »ara­bi­schen Früh­lings« 2011 kam es zu Mas­sen­pro­te­sten, dank umfang­reich­ster »Sicher­heits­maß­nah­men« (Ein­stel­lung des gesam­ten Bus- und Eisen­bahn­ver­kehrs um die Haupt­stadt, Auf­bie­tung von mehr als 30.000 Sicher­heits­kräf­ten) konn­ten grö­ße­re Men­schen­an­samm­lun­gen ver­hin­dert werden.

Gro­tesk ist am alge­ri­schen poli­ti­schen System die Tat­sa­che, dass es durch­aus eine rela­tiv plu­ra­li­sti­sche Pres­se und einen Par­tei­en­plu­ra­lis­mus gibt. Doch sind alle Par­tei­en mit Aus­nah­me der in der Kaby­lei ver­an­ker­ten Par­tei der Sozia­li­sti­schen Kräf­te (FFS) in das System ein­ge­bun­den. Das Spek­trum reicht von der isla­mi­sti­schen Par­tei für die Gesell­schaft und den Frie­den (MSP) bis zur trotz­ki­sti­schen Par­tei der Arbei­ter (PT) mit ihrer medi­en­wirk­sa­men Vor­sit­zen­den Loui­sa Hanoun. Sie alle hat­ten Mühe, sich auf die Mas­sen­pro­te­ste ein­zu­stel­len, erklär­ten aber – eine nach der ande­ren bis schließ­lich zur FLN – ihre Unter­stüt­zung für die For­de­run­gen der Mil­lio­nen Demonstranten.

So bleibt in die­sem undurch­sich­ti­gen, im Kern labi­len System die Natio­na­le Volks­ar­mee das, was sie immer war: die ein­zi­ge struk­tu­rier­te Kraft. Doch: Ist sie (noch) so mono­li­thisch wie bis­her? Schon wäh­rend des grau­en­vol­len Bür­ger­kriegs der 90er Jah­re waren meh­re­re teils hohe Offi­zie­re deser­tiert, weil sie das Regime bezich­tig­ten, in bester Tra­di­ti­on des coun­ter-insur­gen­cy isla­mi­sti­sche Ban­den zu instru­men­ta­li­sie­ren, um abscheu­li­che Mas­sa­ker an der Zivil­be­völ­ke­rung zu bege­hen mit dem Ziel, die Isla­mi­sten zu dele­gi­ti­mie­ren. Orche­striert wur­den die Aktio­nen vom Chef des mili­tä­ri­schen Geheim­dien­stes DRS, Gene­ral Moha­med Mediè­ne, genannt Taw­fiq. Die­ser Geheim­dienst soll auch Dos­siers über die Kor­rup­ti­on füh­ren­der Mili­tärs und ande­rer Grö­ßen des Systems ange­legt haben. 2015 wur­de Mediè­ne von Bou­te­f­li­ka abge­setzt, der DRS auf­ge­löst, sei­ne Abtei­lun­gen dem 79-jäh­ri­gen Ober­kom­man­die­ren­den der Armee und stell­ver­tre­ten­den Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Ahmed Gaid Salah unterstellt.

Ende Janu­ar 2019, lan­ge vor den Mas­sen­de­mon­stra­tio­nen, waren 13 füh­ren­de Offi­zie­re ver­haf­tet wor­den. Offen­sicht­lich gär­te es auch in der Armee auf­grund der Kan­di­da­tur Bou­te­f­li­kas für eine fünf­te Amts­zeit. Das Organ der Armee, el djeich, ver­öf­fent­lich­te Ende Febru­ar einen sehr ambi­va­len­ten Leit­ar­ti­kel, der die Ver­ant­wor­tung der Armee gegen­über dem Volks­wil­len the­ma­ti­sier­te. Als die gro­ßen Mas­sen­de­mon­stra­tio­nen began­nen, schoss die Armee nicht (anders als 1988), die Demon­stran­ten rie­fen in Sprech­chö­ren »el djeich, esh-shaab – kha­wa, kha­wa« (die Armee und das Volk sind Brüder).

Erst Ende März for­der­te der Ober­kom­man­die­ren­de der Armee Gaid Salah, bis dahin bedin­gungs­lo­ser Unter­stüt­zer des Prä­si­den­ten, die Ein­lei­tung eines Amts­ent­he­bungs­ver­fah­rens aus gesund­heit­li­chen Grün­den gegen den amtie­ren­den Prä­si­den­ten auf der Grund­la­ge der Ver­fas­sung. Für vie­le Kom­men­ta­to­ren war dies eine Bot­schaft, die den Erhalt des Systems ohne Bou­te­f­li­ka ret­ten soll­te. Doch am 4. April erklär­te Gaid Salah, dass die Armee »das Volk vor einer Hand­voll Per­so­nen schüt­zen wer­de, die sich unrecht­mä­ßig den Reich­tum des alge­ri­schen Vol­kes ange­eig­net« habe. Prompt lei­te­te die alge­ri­sche Justiz Ver­fah­ren wegen Kor­rup­ti­on und Devi­sen­ver­ge­hen ein, der alge­ri­sche Luft­raum wur­de für Pri­vat­flü­ge inner­halb des Lan­des und ins Aus­land geschlos­sen, 150 Per­so­nen wur­den mit einem Aus­rei­se­ver­bot belegt, die bei­den Brü­der Bou­te­f­li­kas ste­hen unter Haus­ar­rest. Das Volk aber demon­striert wei­ter gegen »das System«, des­sen Teil die Armee zumin­dest war. Wird sie jetzt den Volks­wil­len ret­ten und die Demo­kra­tie einführen?

Wahr­schein­li­cher ist, dass die Armee oder zumin­dest ihre Spit­ze, selbst tra­gen­der Teil »des Systems« seit der Unab­hän­gig­keit, ver­su­chen wird, ihre staats­tra­gen­de (und öko­no­mi­sche) Rol­le zu ret­ten. Doch das, was »die Mumie« im Schau­fen­ster der Repu­blik bewir­ken soll­te, ist geschei­tert: Zwi­schen den Clans, die die »rea­le Macht« in Alge­ri­en dar­stell­ten, ist ein offe­ner Kampf aus­ge­bro­chen, Per­so­nen und Grup­pen wer­den zumin­dest zum Teil sicht­bar. Die Armee und ihre Geheim­dien­ste haben genü­gend Erfah­rung, um mit­tels pro­vo­ka­to­ri­scher Ele­men­te die fried­li­chen Mas­sen­de­mon­stra­tio­nen zu kip­pen und einen Schieß­be­fehl zu recht­fer­ti­gen. Bis­her (Stand 22. April) haben die Demon­stran­ten es ver­mocht, jed­we­de Gewalt zu ver­hin­dern. Und sie wis­sen offen­sicht­lich, dass mit dem Ver­schwin­den der Per­son Bou­te­f­li­ka »das System« noch lan­ge nicht am Ende ist. Des­halb pro­te­stie­ren sie wei­ter auf den Stra­ßen. Die ent­schei­den­de Fra­ge bleibt: Ist die Armee noch jene mono­li­thi­sche Ein­heit, die bereit ist, auf die Brü­der und Schwe­stern auf der Stra­ße zu schie­ßen, oder gelingt es den Mas­sen, auch den mili­tä­ri­schen Teil »des Systems« zu stür­zen, der bis­her des­sen Rück­grat war.


 

Dr. phil. Wer­ner Ruf, bis 2003 Pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät Kas­sel, ist Poli­to­lo­ge und Frie­dens­for­scher. Er ist Mit­glied des Gesprächs­krei­ses Frie­den und Sicher­heits­po­li­tik der Rosa-Luxem­burg-Stif­tung. Zuletzt erschie­nen von ihm die Bücher »Isla­mi­scher Staat & Co« (2017) und »Der Islam – Schrecken des Abend­lands« (2014), bei­de Papy­Ros­sa (Köln).