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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Friedrich Wolf und seine Großeltern

Am 3. März 1884 wur­de im klei­nen Ort Nor­deck, zwi­schen Mar­burg und Gie­ßen gele­gen, das Ehe­paar Salo­mon und Johan­na Wolf ermor­det. Salo­mon wird erwürgt, der Geni­tal­be­reich ist mit Stich­wun­den über­sät. Johan­nas Schä­del ist gespal­ten. Bei­de waren alte Leu­te, hin­fäl­lig, woll­ten gera­de zur erwach­se­nen Toch­ter zie­hen. Salo­mon war ein »Han­dels­mann«. Vieh­han­del, aber auch Ver­kauf land­wirt­schaft­li­cher Pro­duk­te, sowie Grund­stücks- und Hypo­the­ken­ver­mitt­lung und nicht zuletzt Dar­le­hens­ge­schäf­te waren sein Metier. Meh­re­re gericht­li­che Strei­te führ­te er unter ande­rem mit Kon­rad Hed­de­rich, einem Ackers­mann und Schmied aus dem Nach­bar­dorf, der stark ver­schul­det war und für sei­ne Lage Salo­mon Wolf ver­ant­wort­lich mach­te. Nach­dem man die Lei­chen der Ehe­leu­te Wolf ent­deckt hat­te, fiel der Ver­dacht gleich auf Hed­de­rich, der nach kur­zer Zeit auch fest­ge­nom­men wur­de. Hed­de­rich leug­net die Tat. Trotz man­nig­fal­ti­ger Indi­zi­en wird die­ser im anschlie­ßen­den Pro­zess frei­ge­spro­chen. Es hat­ten sich genug Leu­te gefun­den, die die all­ge­mei­ne juden­feind­li­che Stim­mung aus­nutz­ten, um Hass und Wut auf den »Wucher­ju­den« zu schü­ren. Der Frei­spruch eines Mör­ders wur­de gefeiert.

In der Geschich­te geht der Vor­fall als »Nor­decker Juden­mord« ein, und es ist das Ver­dienst von Ste­fan Gott­helf Hoff­mann, einem Gym­na­si­al­leh­rer aus Rhe­da-Wie­den­brück, die Ereig­nis­se um Mord und Pro­zess dif­fe­ren­ziert auf­ge­ar­bei­tet zu haben. Die jewei­li­gen Besitz­ver­hält­nis­se, die Arbeits- und Lebens­be­din­gun­gen, die ein­zel­nen Pro­zes­se, die Pres­se­re­ak­tio­nen, die poli­ti­schen Kon­stel­la­tio­nen – nichts bleibt unbe­ach­tet. Es ist erstaun­lich, was der Autor noch alles gefun­den hat und wie kennt­nis­reich er mit dem Mate­ri­al umgeht!

Doch nicht nur Geschichts­in­ter­es­se ver­an­lass­te ihn zu die­sem zwei­bän­di­gen Buch. Hoff­mann ist auf den Spu­ren des Schrift­stel­lers Fried­rich Wolf zu dem »Nor­decker Juden­mord« gelangt, denn Salo­mon Wolf war der Groß­va­ter des bekann­ten Dra­ma­ti­kers. Zwar wur­de in Bio­gra­fien am Ran­de erwähnt, dass die jüdi­schen Groß­el­tern einem Pogrom zum Opfer gefal­len sind, mehr jedoch nicht. Weder wur­den die Ein­zel­hei­ten des Pogroms noch die mög­li­che Wir­kung auf den Enkel unter­sucht. Das aber tut Hoff­mann. Noch umfang­rei­cher als der erste Band zum Mord­ge­sche­hen ist das zwei­te Buch, das ver­sucht, Fried­rich Wolf und des­sen Trau­ma der ermor­de­ten Groß­el­tern und das sei­nes Vaters zu erfor­schen. Fried­rich Wolf hat wenig, ja, kaum etwas von den Groß­el­tern gewusst. Bewusst haben ihm sei­ne Eltern das die Fami­lie bedrücken­de Ereig­nis ver­schwie­gen, und doch, das beweist Hoff­mann, hat gera­de das Ver­schwei­gen trau­ma­ti­sche Züge in ihm hin­ter­las­sen. Sowohl im Werk als auch im Cha­rak­ter des Schrift­stel­lers fin­det der Autor Spu­ren. Man kann nur stau­nen, was die moder­ne Trau­ma-For­schung über die­ses Phä­no­men des unbe­wuss­ten Geprägt-Seins her­aus­ge­fun­den hat. Inne­re Wider­sprü­che, Zer­ris­sen­heit, aber auch gro­ßes sozia­les Enga­ge­ment sind unter ande­rem in die­sem Fall Kenn­zei­chen trau­ma­ti­scher Prä­gung, und sie tref­fen durch­aus auf Fried­rich Wolf zu. Sein Bild und sei­ne Bio­gra­fie erhal­ten durch die­se Sicht neue Aspekte.

Ste­fan Gott­helf Hoff­mann: Der »Nor­decker Juden­mord«., Hin­ter­grün­de zum Tode von Salo­mon und Johan­na Wolf am 3. März 1884. Ein Bei­trag zur Fami­li­en­ge­schich­te des Schrift­stel­lers Fried­rich Wolf (1888-1953). 827 S., 2 Bän­de. Edi­ti­on Schwarz­druck Gran­see, 72 €.