Am 3. März 1884 wurde im kleinen Ort Nordeck, zwischen Marburg und Gießen gelegen, das Ehepaar Salomon und Johanna Wolf ermordet. Salomon wird erwürgt, der Genitalbereich ist mit Stichwunden übersät. Johannas Schädel ist gespalten. Beide waren alte Leute, hinfällig, wollten gerade zur erwachsenen Tochter ziehen. Salomon war ein »Handelsmann«. Viehhandel, aber auch Verkauf landwirtschaftlicher Produkte, sowie Grundstücks- und Hypothekenvermittlung und nicht zuletzt Darlehensgeschäfte waren sein Metier. Mehrere gerichtliche Streite führte er unter anderem mit Konrad Hedderich, einem Ackersmann und Schmied aus dem Nachbardorf, der stark verschuldet war und für seine Lage Salomon Wolf verantwortlich machte. Nachdem man die Leichen der Eheleute Wolf entdeckt hatte, fiel der Verdacht gleich auf Hedderich, der nach kurzer Zeit auch festgenommen wurde. Hedderich leugnet die Tat. Trotz mannigfaltiger Indizien wird dieser im anschließenden Prozess freigesprochen. Es hatten sich genug Leute gefunden, die die allgemeine judenfeindliche Stimmung ausnutzten, um Hass und Wut auf den »Wucherjuden« zu schüren. Der Freispruch eines Mörders wurde gefeiert.
In der Geschichte geht der Vorfall als »Nordecker Judenmord« ein, und es ist das Verdienst von Stefan Gotthelf Hoffmann, einem Gymnasiallehrer aus Rheda-Wiedenbrück, die Ereignisse um Mord und Prozess differenziert aufgearbeitet zu haben. Die jeweiligen Besitzverhältnisse, die Arbeits- und Lebensbedingungen, die einzelnen Prozesse, die Pressereaktionen, die politischen Konstellationen – nichts bleibt unbeachtet. Es ist erstaunlich, was der Autor noch alles gefunden hat und wie kenntnisreich er mit dem Material umgeht!
Doch nicht nur Geschichtsinteresse veranlasste ihn zu diesem zweibändigen Buch. Hoffmann ist auf den Spuren des Schriftstellers Friedrich Wolf zu dem »Nordecker Judenmord« gelangt, denn Salomon Wolf war der Großvater des bekannten Dramatikers. Zwar wurde in Biografien am Rande erwähnt, dass die jüdischen Großeltern einem Pogrom zum Opfer gefallen sind, mehr jedoch nicht. Weder wurden die Einzelheiten des Pogroms noch die mögliche Wirkung auf den Enkel untersucht. Das aber tut Hoffmann. Noch umfangreicher als der erste Band zum Mordgeschehen ist das zweite Buch, das versucht, Friedrich Wolf und dessen Trauma der ermordeten Großeltern und das seines Vaters zu erforschen. Friedrich Wolf hat wenig, ja, kaum etwas von den Großeltern gewusst. Bewusst haben ihm seine Eltern das die Familie bedrückende Ereignis verschwiegen, und doch, das beweist Hoffmann, hat gerade das Verschweigen traumatische Züge in ihm hinterlassen. Sowohl im Werk als auch im Charakter des Schriftstellers findet der Autor Spuren. Man kann nur staunen, was die moderne Trauma-Forschung über dieses Phänomen des unbewussten Geprägt-Seins herausgefunden hat. Innere Widersprüche, Zerrissenheit, aber auch großes soziales Engagement sind unter anderem in diesem Fall Kennzeichen traumatischer Prägung, und sie treffen durchaus auf Friedrich Wolf zu. Sein Bild und seine Biografie erhalten durch diese Sicht neue Aspekte.
Stefan Gotthelf Hoffmann: Der »Nordecker Judenmord«., Hintergründe zum Tode von Salomon und Johanna Wolf am 3. März 1884. Ein Beitrag zur Familiengeschichte des Schriftstellers Friedrich Wolf (1888-1953). 827 S., 2 Bände. Edition Schwarzdruck Gransee, 72 €.