Die Lyrikreihe »Poesiealbum« wurde 1967 von dem Lyriker und Erzähler Bernd Jentzsch gegründet. Sie erschien monatlich im Verlag Neues Leben Berlin und stellte jeweils auf 32 Seiten internationale Dichter/innen der Vergangenheit und Gegenwart sowie junge Poeten der DDR vor. Ergänzt wurde jedes einzelne Heft durch eine doppelseitige Grafik. Und das zu einem Preis von 90 Pfennigen, der sich bis zur Wende nicht änderte. In der DDR wurden die schmalen Heftchen zum begehrten Sammlerobjekt von literaturbegeisterten Lesern. So war man jeden Monat in froher Erwartung. Bis 1990 erschienen 275 Hefte, dazu fünfzehn Sonderhefte.
In den 1990er Jahren gab es dann einige Versuche, die Reihe fortzuführen; aber erst 2007 gelang es, das »Poesiealbum« durch den Märkischen Verlag Wilhelmshorst wieder ins Leben zu rufen, zusammen mit dem Reihenbegründer Bernd Jentzsch, der auch die ersten Ausgaben betreute. Seitdem erscheint die Lyrikreihe wieder im zweimonatigen Rhythmus, auch mit der längst liebgewonnenen Grafik. Neben Neuentdeckungen werden auch Lücken im Spektrum der Lyriker aufgearbeitet, die zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen nicht aufgenommen werden konnten. Inzwischen sind unter dem neuen Verleger Klaus-Peter Anders fast hundert neue Hefte erschienen. Das neue »Poesiealbum 374« ist dem rheinland-pfälzischen Schriftsteller Friedrich Wilhelm Wagner gewidmet, der zu den vergessenen Vertretern des deutschen literarischen Expressionismus gehört. Bereits mit 19 Jahren veröffentlichte er seinen ersten und ein Jahr später seinen zweiten Gedichtband. Danach publizierte er Gedichte und Prosa in zahlreichen Zeitschriften. 1920 folgten seine beiden Gedichtzyklen »Irrenhaus« und »Jungfrauen platzen männertoll«. Doch danach verstummte seine lyrische Stimme.
Die biografischen Dokumente sind spärlich und begrenzen sich weitgehend auf die Zeitspanne seines Wirkens von 1911 bis 1920. Wagner wurde am 16. August 1892 in Hennweiler/Hunsrück geboren und studierte nach dem Abitur für zwei Semester an der Philosophischen Fakultät der Universität München. Doch dann endete sein geregeltes Leben. Es folgten ständig wechselnde kurze Aufenthalte in München, Paris, Zürich und Heidelberg. In Zürich hatte er Anschluss an die Expressionisten und Dadaisten und trat dort im literarischen Cabaret »Pantagruel« auf, einem Vorläufer des legendären Cabarets »Voltaire«. Die Folgen dieser Odyssee waren eine Tuberkuloseerkrankung und eine fortdauernde Morphiumsucht. Seine letzten Gedichte erschienen 1921. Über die Lebensjahre während der 1920er Jahre gibt es wenig verlässliche Daten. Schließlich starb Wagner am 22. Juni 1931 im Lungensanatorium Schömberg im Schwarzwald.
Die Auswahl der Gedichte hat der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Wilfried Ihrig zusammengestellt, der vor zwei Jahren Wagners »Gesammelte Werke« herausgebracht hat. Es sind meist knappe Gedichte, die sich durch ungewöhnliche, mitunter beklemmende Bilder auszeichnen – wie in dem Gedichtband »Irrenhaus«: »Man hat uns aus der Welt / In das Dunkel gestellt. / Man hat mit Stangen / Uns umgittert, / An denen unser Blick zersplittert.« Doch sind dies keineswegs Verse eines Geisteskranken. Das Groteske ist vielmehr Ausdruck der Einsamkeit und Verzweiflung. Sie sind aus tiefster Not geschrieben von einem Menschen, der hilflos der Welt gegenübersteht. Neben dem Überdruss an dem Bestehenden wird gleichzeitig die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit ausgedrückt. Ergänzt wird die Neuerscheinung im Mittelteil mit einer Grafik von Alexej von Jawlensky (1864-1941), dessen berühmtes Gemälde »Schokko mit rotem Hut« auch das Cover ziert. Die Neuentdeckung eines expressionistischen Lyrikers und eine willkommene »Poesiealbum«-Bereicherung.
Friedrich Wilhelm Wagner: Poesiealbum 374, Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2022. 32 S., 5,00 €.