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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Frieden und Solidarität

Frie­den lässt sich grund­sätz­lich auf zwei Wegen errei­chen, die ver­schie­de­ner nicht sein kön­nen: ent­we­der durch das Stre­ben nach Domi­nanz per Abschreckung und (falls nötig) durch das Nie­der­rin­gen des Geg­ners mit mili­tä­ri­schen Mit­teln – oder aber durch das Stre­ben nach Ver­stän­di­gung per Diplo­ma­tie und (falls mög­lich) durch den Auf­bau eines Systems gemein­sa­mer Sicher­heit, das allen Betei­lig­ten rich­tig und gerecht erscheint.

Das Kon­zept der gemein­sa­men Sicher­heit ist heu­te Ver­gan­gen­heit – nicht zuletzt, weil es dem Plan für ein New Ame­ri­can Cen­tu­ry wider­sprach. Es war 1939 von dem im Exil leben­den Wil­ly Brandt ent­wickelt, mit der Ent­span­nungs­po­li­tik von Brandt bis Kohl und Gor­bat­schow prak­ti­ziert und in der Char­ta von Paris (Novem­ber 1990) von allen euro­päi­schen Staa­ten, ein­schließ­lich der Sowjet­uni­on, als Plan für ein fried­li­ches, frei­es und wohl­ha­ben­des Euro­pa von Lis­sa­bon bis Wla­di­wo­stok akzep­tiert worden.

Noch in den 1990er Jah­ren dreh­te sich der Wind, und es begann eine neue Pha­se der Suche nach Domi­nanz durch Rüstung und aller­lei chicken games, die im Ande­ren einen zu demü­ti­gen­den Geg­ner sahen. Heu­te nähern wir uns dem Höhe­punkt die­ser Ent­wick­lung mit gigan­ti­schen Rüstungs­aus­ga­ben, der Stilllegung diplo­ma­ti­scher Kanä­le, aber zugleich der Mili­ta­ri­sie­rung des Ham­bur­ger Hafens und der bereits beschlos­se­nen Sta­tio­nie­rung von Rake­ten mit mehr als 2000 km Reich­wei­te, die ato­mar bestückt wer­den kön­nen und den USA im geo­po­li­ti­schen Poker­spiel einen Trumpf in die Hand geben sol­len – für Ham­burg, Deutsch­land und Euro­pa aber das Risi­ko erhö­hen, zum Ziel rus­si­scher Waf­fen und nun doch ato­ma­rer Zer­stö­rung zu werden

Seit Jah­ren schon igno­rie­ren die Nato und inzwi­schen auch die EU das vita­le euro­päi­sche Inter­es­se an Diplo­ma­tie, Ver­hand­lun­gen und Frie­den durch gemein­sa­me Sicher­heit. Der grei­se Klaus von Dohn­anyi hat dar­über ein Buch geschrie­ben, das zum Best­sel­ler wur­de, die poli­ti­sche Klas­se als ihren eigent­li­chen Adres­sa­ten aber nicht erreich­te. Das könn­te ein Indiz dafür sein, dass die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Regie­ren­den und Regier­ten inzwi­schen nahe­zu zum Erlie­gen gekom­men ist.

Hat­te sich die gan­ze Welt nicht 1945 geschwo­ren, aus den bis dahin unvor­stell­ba­ren Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit zu ler­nen und so etwas nie wie­der vor­kom­men zu las­sen? Atmet die Char­ta nicht genau die­sen Geist? Und ver­fügt die Welt mit der UNO nicht über alle Instru­men­te, um Kon­flik­te fried­lich zu regeln – oder gegen per­si­sten­te Delin­quen­ten not­falls gemein­schaft­lich robust vor­zu­ge­hen, mit UNO-Friedenstruppen?

Wenn sich doch nur die Gro­ßen und Mäch­ti­gen an die eige­nen Regeln hiel­ten! Ihre schlich­te Bereit­schaft, sich an die Regeln des Völ­ker­rechts zu hal­ten und gegen­über uner­träg­li­chen Ver­let­zun­gen von des­sen Grund­re­geln gemein­sam vor­zu­ge­hen, wür­de nicht den Him­mel auf Erden schaf­fen, aber sie könn­te uns vor der Höl­le auf Erden bewah­ren. Auch im Nahen Osten.

Und damit sind wir beim The­ma der Soli­da­ri­tät. Denn das Völ­ker­recht for­dert nicht viel von uns. Es will nur, dass jeder Staat sei­ne Inter­es­sen ohne Gewalt ver­tritt. Kon­kret soli­da­ri­sches oder gar freund­schaft­li­ches Ver­hal­ten wird nicht ver­langt – außer in dem Fall, in dem das Ver­hal­ten eines Mit­glieds die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft als Gan­zes gefähr­det, wie im Fal­le eines sich anbah­nen­den Mensch­heits­ver­bre­chens, wozu Kriegs­ver­bre­chen und der Völ­ker­mord, aber auch die Ver­bre­chen des Angriffs­krie­ges und der Apart­heid gehö­ren. Wo die kon­kre­te Gefahr besteht, dass es ent­ge­gen dem Ver­spre­chen der Völ­ker, es »nie wie­der« zu den schlimm­sten aller Mensch­heits­ver­bre­chen kom­men zu las­sen, doch soweit kom­men könn­te, da greift der Gedan­ke einer Ver­pflich­tung zu inter­na­tio­na­ler Soli­da­ri­tät in dem Sin­ne, dass in einer sol­chen Situa­ti­on alle Staats­füh­run­gen und alle Gesell­schaf­ten alles ihnen recht­lich und fak­tisch Mög­li­che und Zumut­ba­re tun müs­sen, um das Ver­bre­chen zu ver­hin­dern oder unver­züg­lich zu beenden.

Die Geschich­te kennt kei­nen Geno­zid, bei dem von den Tätern nicht zu hören war, dass die Opfer ange­fan­gen hät­ten, sel­ber schuld sei­en und/​oder ihr Recht auf mensch­li­che Rück­sicht­nah­me und Empa­thie durch eige­ne Gräu­el­ta­ten und/​oder die Gefahr, die sie dar­stell­ten, ver­wirkt hät­ten. Das Völ­ker­recht kennt aber kei­ne Recht­fer­ti­gung für Hand­lun­gen, die wie auch immer begrün­det wer­den, solan­ge die­se Hand­lun­gen die Tat­be­stands­merk­ma­le der im Römi­schen Sta­tut (und vie­len wei­te­ren Rechts­quel­len) defi­nier­ten Mensch­heits­ver­bre­chen erfül­len. Man kann die Täter immer ver­ste­hen, und sich dar­um zu bemü­hen, ist nicht zuletzt Auf­ga­be der Kri­mi­no­lo­gie. Aber ver­ste­hen heißt nicht recht­fer­ti­gen und nicht ent­schul­di­gen. Das Ver­bot des Völ­ker­mords als des crime of all cri­mes ist unter allen Umstän­den zu beach­ten – ohne Wenn und ohne Aber. Daher auch die teils ver­trag­lich aus­for­mu­lier­te, teils völ­ker­ge­wohn­heits­recht­li­che (und alle­mal mora­li­sche) Ver­pflich­tung, schon gegen Anzei­chen der Pla­nung sol­cher Taten, und mehr natür­lich noch gegen deren Durch­füh­rung, mit allen recht­lich erlaub­ten Mit­teln vor­zu­ge­hen – selbst dann, wenn es sich beim Delin­quen­ten um einen poli­ti­schen Ver­bün­de­ten han­deln sollte.

Völ­ker­recht­li­che Geno­zid-Exper­ten und hoch­qua­li­fi­zier­te Son­der­be­richt­erstat­ter der Ver­ein­ten Natio­nen sind sich einig, dass die Vor­aus­set­zun­gen für ein sol­ches Tätig­wer­den schon lan­ge gege­ben sind und es an der Zeit ist, die Regie­rung eines west­li­chen Ver­bün­de­ten mit allen erlaub­ten Mit­teln zur desi­stance from crime zu bewe­gen.

So wie die süd­afri­ka­ni­sche Regie­rung nur durch mas­siv­sten Druck ihrer west­li­chen Ver­bün­de­ten zur Auf­he­bung der Apart­heid­ge­set­ze und Ver­mei­dung eines Bür­ger­kriegs gebracht wer­den konn­te – und die west­li­chen Ver­bün­de­ten ihrer­seits nur durch den demo­kra­ti­schen Druck einer auf Boy­kott, Des­in­ve­sti­tio­nen und Sank­tio­nen (BDS) set­zen­den Anti-Apart­heid-Bewe­gung zur Been­di­gung ihrer Tole­ranz­po­li­tik gegen­über dem Apart­heid-Regime – so ist es auch jetzt wie­der an der Zeit für die Mobi­li­sie­rung des Völ­ker­rechts durch die west­li­chen Zivilgesellschaften.

Die mit Recht als skan­da­lös emp­fun­de­ne Untä­tig­keit der Regie­run­gen in Bezug auf den Schutz der Bevöl­ke­run­gen von Gaza und anders­wo ist ja lei­der kei­ne Aus­nah­me von der Regel, son­dern ent­spricht der von den Völ­ker­recht­lern Jack L. Golds­mith und Eric A. Pos­ner ein­drucks­voll beleg­ten Regel, dass gera­de die west­li­chen libe­ral demo­cra­ci­es, denen die Ach­tung der Men­schen­rech­te über­all auf der Welt vor­geb­lich so am Her­zen liegt, dazu ten­die­ren, der­ar­ti­ge Miss­stän­de jeden­falls dann so lan­ge wie mög­lich zugun­sten von busi­ness as usu­al zu tole­rie­ren, wenn es sich bei den Delin­quen­ten um ihre eige­nen Ver­bün­de­ten handelt.

Im Fal­le der Unwil­lig­keit oder Unfä­hig­keit von Staats­füh­run­gen, ihrer Ver­pflich­tung zur Ver­hin­de­rung des crime of all cri­mes nach­zu­kom­men, geht die­se Ver­ant­wor­tung auf die Zivil­ge­sell­schaf­ten und damit auf die ganz nor­ma­len Bür­ge­rin­nen und Bür­ger über.

Immer mehr Men­schen wun­dern sich aktu­ell über das, was sie als Funk­ti­ons­ver­lust der Mas­sen­me­di­en in den libe­ra­len Demo­kra­tien wahr­neh­men: dass aus der herr­schafts­kri­ti­schen Vier­ten Gewalt Sprach­roh­re der Regie­ren­den gewor­den sei­en. Viel­leicht hängt es damit zusam­men, dass man in den Medi­en noch nie von Arti­kel 25 des Grund­ge­set­zes gehört zu haben scheint und nicht ein­mal dis­ku­tiert wird, ob der dort sta­tu­ier­te Vor­rang der all­ge­mei­nen Regeln des Völ­ker­rechts vor den nor­ma­len Geset­zen und die Tat­sa­che, dass die­se Regeln aus­drück­lich auch »Rech­te und Pflich­ten unmit­tel­bar für die Bewoh­ner des Bun­des­ge­bie­tes« erzeu­gen, sich nicht auch auf die fun­da­men­ta­le Pflicht erstrecken, einen dro­hen­den oder im Gang befind­li­chen Geno­zid zu ver­hin­dern oder zu beenden.

Und vie­le fra­gen sich ja auch, was sie ange­sichts des Total­aus­falls ihrer Regie­rung in die­ser Hin­sicht sel­ber tun könn­ten – und wären wohl bereit, auf die Stra­ße zu gehen, um ihre eige­nen west­li­chen Regie­run­gen an ihre völ­ker­recht­li­che Akti­vi­täts­ver­ant­wor­tung zu erin­nern. Mit Auf­ru­fen zum Boy­kott, zur Des­in­ve­sti­ti­on im Sin­ne der Ein­stel­lung wirt­schaft­li­cher und mili­tä­ri­scher Koope­ra­ti­on und zur Ver­hän­gung von Sank­tio­nen – ganz so, wie einst die Anti-Apart­heid-Bewe­gung auf die west­li­chen Regie­run­gen ein- und die Her­stel­lung völ­ker­rechts­kon­for­mer Ver­hält­nis­se in Süd­afri­ka bewirkte.

Das Pro­blem dabei ist aktu­ell die nicht zuletzt vom delin­quen­ten Staat und sei­nen aus­län­di­schen Freun­den durch­ge­führ­te Kam­pa­gne, die seit 2015 mit eben­so viel Geld wie Ener­gie dar­auf aus war, jede zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vi­tät, die sich gegen sei­ne völ­ker­rechts­wid­ri­gen Akte rich­te­te, unter Vor­wän­den zu dis­kre­di­tie­ren und zu dis­kri­mi­nie­ren. Soge­nann­te BDS-Beschlüs­se, von denen die brei­te Bevöl­ke­rung kaum je gehör­te haben dürf­te, sorg­ten dafür, dass das Grund­recht auf Mei­nungs­frei­heit aus­ge­he­belt wur­de. Sinn der Sache war, dass nie­man­dem, der BDS-Maß­nah­men gegen den delin­quen­ten Staat for­der­te, über­haupt noch Gehör geschenkt wer­den soll­te, dass man ihnen kei­ne Ver­an­stal­tungs­räu­me ver­mie­te­te und ihnen die Finan­zie­rung oder Bank­ver­bin­dun­gen kapp­te. Gera­de der Jüdi­schen Stim­me für gerech­ten Frie­den in Nah­ost wur­de mit­tels der Tech­ni­ken des »de-ban­king«, »de-finan­cing« und »de-plat­forming« so zuge­setzt, dass sie fak­tisch kei­ne Mög­lich­keit mehr fan­den, ihre Mei­nung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.

Es drängt sich eine eigen­ar­ti­ge Erin­ne­rung an die Zeit vor dem Mau­er­fall in der DDR auf. Denn wie hat­te es das Neue Forum doch noch im Jah­re 1989 unter ganz ande­ren Umstän­den for­mu­liert? »Die gestör­te Bezie­hung zwi­schen Staat und Gesell­schaft lähmt die schöp­fe­ri­schen Poten­zen unse­rer Gesell­schaft und behin­dert die Lösung der anste­hen­den loka­len und glo­ba­len Auf­ga­ben. Wir ver­zet­teln uns in übel­ge­laun­ter Pas­si­vi­tät und hät­ten doch Wich­ti­ge­res zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.«

Doch statt­des­sen übt sich unser Land in Neu­sprech. Man sagt Frie­den und meint Hoch­rü­stung. Man sagt Kampf gegen Rechts und meint Kampf gegen die libe­ra­le Demo­kra­tie und die freie Mei­nungs­äu­ße­rung. Man sagt sogar Demo­kra­tie­för­de­rung und meint die De-Finan­zie­rung von libe­ra­len Selbst- und Quer­den­kern bei staat­li­cher Finan­zie­rung einer »libe­ra­len Moder­ne«, die anti­li­be­ra­le Poli­tik propagiert.

Solan­ge es die BDS-Beschlüs­se gibt, kann man in den Kir­chen, in den Gewerk­schaf­ten, an den Uni­ver­si­tä­ten, in den Städ­ten und auf den Stra­ßen nicht ohne Furcht vor Schi­ka­nen für die Soli­da­ri­tät mit den von völ­ker­recht­li­chen Kern­ver­bre­chen Betrof­fe­nen spre­chen oder sich gar orga­ni­sie­ren. Über­all war­ten staat­li­che Späh-, Ermitt­lungs- und Dis­kre­di­tie­rungs­ap­pa­ra­te, wie sonst nur in ande­ren Zusam­men­hän­gen. Zu for­dern, dass der Staat sei­ne völ­ker­recht­li­chen Pflich­ten erkennt und befolgt, ist aber Bürgerpflicht.

Das zu for­dern und uns zu orga­ni­sie­ren, ist jeden­falls das Recht eines und einer jeden von uns. Und es ist unse­re Pflicht in einer Zeit, in der die Regie­rung nicht zu wis­sen scheint, was einen wah­ren Freund von einem Hel­fers­hel­fer unter­schei­det und einen soli­da­ri­schen Part­ner von einem part­ner in crime.