Frieden lässt sich grundsätzlich auf zwei Wegen erreichen, die verschiedener nicht sein können: entweder durch das Streben nach Dominanz per Abschreckung und (falls nötig) durch das Niederringen des Gegners mit militärischen Mitteln – oder aber durch das Streben nach Verständigung per Diplomatie und (falls möglich) durch den Aufbau eines Systems gemeinsamer Sicherheit, das allen Beteiligten richtig und gerecht erscheint.
Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit ist heute Vergangenheit – nicht zuletzt, weil es dem Plan für ein New American Century widersprach. Es war 1939 von dem im Exil lebenden Willy Brandt entwickelt, mit der Entspannungspolitik von Brandt bis Kohl und Gorbatschow praktiziert und in der Charta von Paris (November 1990) von allen europäischen Staaten, einschließlich der Sowjetunion, als Plan für ein friedliches, freies und wohlhabendes Europa von Lissabon bis Wladiwostok akzeptiert worden.
Noch in den 1990er Jahren drehte sich der Wind, und es begann eine neue Phase der Suche nach Dominanz durch Rüstung und allerlei chicken games, die im Anderen einen zu demütigenden Gegner sahen. Heute nähern wir uns dem Höhepunkt dieser Entwicklung mit gigantischen Rüstungsausgaben, der Stilllegung diplomatischer Kanäle, aber zugleich der Militarisierung des Hamburger Hafens und der bereits beschlossenen Stationierung von Raketen mit mehr als 2000 km Reichweite, die atomar bestückt werden können und den USA im geopolitischen Pokerspiel einen Trumpf in die Hand geben sollen – für Hamburg, Deutschland und Europa aber das Risiko erhöhen, zum Ziel russischer Waffen und nun doch atomarer Zerstörung zu werden
Seit Jahren schon ignorieren die Nato und inzwischen auch die EU das vitale europäische Interesse an Diplomatie, Verhandlungen und Frieden durch gemeinsame Sicherheit. Der greise Klaus von Dohnanyi hat darüber ein Buch geschrieben, das zum Bestseller wurde, die politische Klasse als ihren eigentlichen Adressaten aber nicht erreichte. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass die Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten inzwischen nahezu zum Erliegen gekommen ist.
Hatte sich die ganze Welt nicht 1945 geschworen, aus den bis dahin unvorstellbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lernen und so etwas nie wieder vorkommen zu lassen? Atmet die Charta nicht genau diesen Geist? Und verfügt die Welt mit der UNO nicht über alle Instrumente, um Konflikte friedlich zu regeln – oder gegen persistente Delinquenten notfalls gemeinschaftlich robust vorzugehen, mit UNO-Friedenstruppen?
Wenn sich doch nur die Großen und Mächtigen an die eigenen Regeln hielten! Ihre schlichte Bereitschaft, sich an die Regeln des Völkerrechts zu halten und gegenüber unerträglichen Verletzungen von dessen Grundregeln gemeinsam vorzugehen, würde nicht den Himmel auf Erden schaffen, aber sie könnte uns vor der Hölle auf Erden bewahren. Auch im Nahen Osten.
Und damit sind wir beim Thema der Solidarität. Denn das Völkerrecht fordert nicht viel von uns. Es will nur, dass jeder Staat seine Interessen ohne Gewalt vertritt. Konkret solidarisches oder gar freundschaftliches Verhalten wird nicht verlangt – außer in dem Fall, in dem das Verhalten eines Mitglieds die internationale Gemeinschaft als Ganzes gefährdet, wie im Falle eines sich anbahnenden Menschheitsverbrechens, wozu Kriegsverbrechen und der Völkermord, aber auch die Verbrechen des Angriffskrieges und der Apartheid gehören. Wo die konkrete Gefahr besteht, dass es entgegen dem Versprechen der Völker, es »nie wieder« zu den schlimmsten aller Menschheitsverbrechen kommen zu lassen, doch soweit kommen könnte, da greift der Gedanke einer Verpflichtung zu internationaler Solidarität in dem Sinne, dass in einer solchen Situation alle Staatsführungen und alle Gesellschaften alles ihnen rechtlich und faktisch Mögliche und Zumutbare tun müssen, um das Verbrechen zu verhindern oder unverzüglich zu beenden.
Die Geschichte kennt keinen Genozid, bei dem von den Tätern nicht zu hören war, dass die Opfer angefangen hätten, selber schuld seien und/oder ihr Recht auf menschliche Rücksichtnahme und Empathie durch eigene Gräueltaten und/oder die Gefahr, die sie darstellten, verwirkt hätten. Das Völkerrecht kennt aber keine Rechtfertigung für Handlungen, die wie auch immer begründet werden, solange diese Handlungen die Tatbestandsmerkmale der im Römischen Statut (und vielen weiteren Rechtsquellen) definierten Menschheitsverbrechen erfüllen. Man kann die Täter immer verstehen, und sich darum zu bemühen, ist nicht zuletzt Aufgabe der Kriminologie. Aber verstehen heißt nicht rechtfertigen und nicht entschuldigen. Das Verbot des Völkermords als des crime of all crimes ist unter allen Umständen zu beachten – ohne Wenn und ohne Aber. Daher auch die teils vertraglich ausformulierte, teils völkergewohnheitsrechtliche (und allemal moralische) Verpflichtung, schon gegen Anzeichen der Planung solcher Taten, und mehr natürlich noch gegen deren Durchführung, mit allen rechtlich erlaubten Mitteln vorzugehen – selbst dann, wenn es sich beim Delinquenten um einen politischen Verbündeten handeln sollte.
Völkerrechtliche Genozid-Experten und hochqualifizierte Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen sind sich einig, dass die Voraussetzungen für ein solches Tätigwerden schon lange gegeben sind und es an der Zeit ist, die Regierung eines westlichen Verbündeten mit allen erlaubten Mitteln zur desistance from crime zu bewegen.
So wie die südafrikanische Regierung nur durch massivsten Druck ihrer westlichen Verbündeten zur Aufhebung der Apartheidgesetze und Vermeidung eines Bürgerkriegs gebracht werden konnte – und die westlichen Verbündeten ihrerseits nur durch den demokratischen Druck einer auf Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) setzenden Anti-Apartheid-Bewegung zur Beendigung ihrer Toleranzpolitik gegenüber dem Apartheid-Regime – so ist es auch jetzt wieder an der Zeit für die Mobilisierung des Völkerrechts durch die westlichen Zivilgesellschaften.
Die mit Recht als skandalös empfundene Untätigkeit der Regierungen in Bezug auf den Schutz der Bevölkerungen von Gaza und anderswo ist ja leider keine Ausnahme von der Regel, sondern entspricht der von den Völkerrechtlern Jack L. Goldsmith und Eric A. Posner eindrucksvoll belegten Regel, dass gerade die westlichen liberal democracies, denen die Achtung der Menschenrechte überall auf der Welt vorgeblich so am Herzen liegt, dazu tendieren, derartige Missstände jedenfalls dann so lange wie möglich zugunsten von business as usual zu tolerieren, wenn es sich bei den Delinquenten um ihre eigenen Verbündeten handelt.
Im Falle der Unwilligkeit oder Unfähigkeit von Staatsführungen, ihrer Verpflichtung zur Verhinderung des crime of all crimes nachzukommen, geht diese Verantwortung auf die Zivilgesellschaften und damit auf die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger über.
Immer mehr Menschen wundern sich aktuell über das, was sie als Funktionsverlust der Massenmedien in den liberalen Demokratien wahrnehmen: dass aus der herrschaftskritischen Vierten Gewalt Sprachrohre der Regierenden geworden seien. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass man in den Medien noch nie von Artikel 25 des Grundgesetzes gehört zu haben scheint und nicht einmal diskutiert wird, ob der dort statuierte Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts vor den normalen Gesetzen und die Tatsache, dass diese Regeln ausdrücklich auch »Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes« erzeugen, sich nicht auch auf die fundamentale Pflicht erstrecken, einen drohenden oder im Gang befindlichen Genozid zu verhindern oder zu beenden.
Und viele fragen sich ja auch, was sie angesichts des Totalausfalls ihrer Regierung in dieser Hinsicht selber tun könnten – und wären wohl bereit, auf die Straße zu gehen, um ihre eigenen westlichen Regierungen an ihre völkerrechtliche Aktivitätsverantwortung zu erinnern. Mit Aufrufen zum Boykott, zur Desinvestition im Sinne der Einstellung wirtschaftlicher und militärischer Kooperation und zur Verhängung von Sanktionen – ganz so, wie einst die Anti-Apartheid-Bewegung auf die westlichen Regierungen ein- und die Herstellung völkerrechtskonformer Verhältnisse in Südafrika bewirkte.
Das Problem dabei ist aktuell die nicht zuletzt vom delinquenten Staat und seinen ausländischen Freunden durchgeführte Kampagne, die seit 2015 mit ebenso viel Geld wie Energie darauf aus war, jede zivilgesellschaftliche Aktivität, die sich gegen seine völkerrechtswidrigen Akte richtete, unter Vorwänden zu diskreditieren und zu diskriminieren. Sogenannte BDS-Beschlüsse, von denen die breite Bevölkerung kaum je gehörte haben dürfte, sorgten dafür, dass das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ausgehebelt wurde. Sinn der Sache war, dass niemandem, der BDS-Maßnahmen gegen den delinquenten Staat forderte, überhaupt noch Gehör geschenkt werden sollte, dass man ihnen keine Veranstaltungsräume vermietete und ihnen die Finanzierung oder Bankverbindungen kappte. Gerade der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost wurde mittels der Techniken des »de-banking«, »de-financing« und »de-platforming« so zugesetzt, dass sie faktisch keine Möglichkeit mehr fanden, ihre Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.
Es drängt sich eine eigenartige Erinnerung an die Zeit vor dem Mauerfall in der DDR auf. Denn wie hatte es das Neue Forum doch noch im Jahre 1989 unter ganz anderen Umständen formuliert? »Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.«
Doch stattdessen übt sich unser Land in Neusprech. Man sagt Frieden und meint Hochrüstung. Man sagt Kampf gegen Rechts und meint Kampf gegen die liberale Demokratie und die freie Meinungsäußerung. Man sagt sogar Demokratieförderung und meint die De-Finanzierung von liberalen Selbst- und Querdenkern bei staatlicher Finanzierung einer »liberalen Moderne«, die antiliberale Politik propagiert.
Solange es die BDS-Beschlüsse gibt, kann man in den Kirchen, in den Gewerkschaften, an den Universitäten, in den Städten und auf den Straßen nicht ohne Furcht vor Schikanen für die Solidarität mit den von völkerrechtlichen Kernverbrechen Betroffenen sprechen oder sich gar organisieren. Überall warten staatliche Späh-, Ermittlungs- und Diskreditierungsapparate, wie sonst nur in anderen Zusammenhängen. Zu fordern, dass der Staat seine völkerrechtlichen Pflichten erkennt und befolgt, ist aber Bürgerpflicht.
Das zu fordern und uns zu organisieren, ist jedenfalls das Recht eines und einer jeden von uns. Und es ist unsere Pflicht in einer Zeit, in der die Regierung nicht zu wissen scheint, was einen wahren Freund von einem Helfershelfer unterscheidet und einen solidarischen Partner von einem partner in crime.