I.
Fragen nach der neuen Rolle der Nato oder nach dem Krieg als großes Geschäft, Fragen nach Vorgeschichten und nachträglichen Friedenslösungen – also quer zum Mainstream liegende Thesen und Antworten – werden immer schwieriger. Wir befinden uns in einem vergifteten Diskursraum. Dazu gehört der Eindruck: Jetzt befreit sich Deutschland von seinen Befreiern. Und wer überhaupt noch solche Kontexte historischer Art herstellt, muss sich schon rechtfertigen. Wenn man an die Geschichte erinnert, wird unterstellt, man wolle in der Gegenwart die falsche Seite unterstützen. Kontextualisierungen - eigentlich eine ganz normale Methode für alle Menschen, die denken – gilt als Relativierung, und das ist angeblich verwerflich. Dabei können wir nur dann zu einem gerechten Urteil kommen, wenn wir die Ereignisse in Relationen betrachten. Die Justiz macht nichts anderes. Allerdings weiß man von Gerichtsverhandlungen und Urteilen, dass es einen Ermessensraum gibt. Der zu blinden Flecken oder gar in die Falle des Gut-Böse-Schemas führen kann. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns von widersprechenden Diskursen nicht abbringen zu lassen.
Dass Entspannungspolitik als nicht mehr zeitgemäß gilt und die Friedensbewegung jetzt auch gegen Russland sein muss, ist bitter genug. Ein Aggressionskrieg wie der russische, darüber gibt es auch in der Friedensbewegung keine Meinungsverschiedenheit, ist die gravierendste Verletzung des Völkerrechts und durch nichts, auch nicht den Kontext der Vorgeschichte, zu rechtfertigen. Aber eine der drängenden Frage lautet, inwieweit das Völkerrecht überhaupt noch der Referenzraum ist, in dem diese Welt sich befindet und in dem dieser Krieg stattfindet. Das Völkerrecht war und ist für etliche vorherige, westliche Angriffskriege längst außer Kraft gesetzt. Deshalb gilt: Wer heute gegen Russland seine Stimme erhebt, muss deshalb noch lange kein Nato-Befürworter sein. Doch genau das, die blinde Befürwortung der Nato, wird verlangt und erwartet. Nach der schlichten Logik: Wer gegen die Doktrin der Nato ist, ist für Putin. Eine böswillige ideologische Unterstellung. Der politische Kampf gegen die Nato, ist nicht automatisch eine Unterstützung Putins. Und vieles von dem, was in den letzten dreißig Jahren aus den Reihen der Friedensbewegung gegen die Nato gesagt wurde, hat weiterhin seine Gültigkeit.
II.
Wir wollen keinen russischen Diktatfrieden, aber wir wollen auch keinen Nato-Diktatfrieden. Der Maidan-Putsch hat uns gelehrt, wohin solche US-Einmischung führt. Längst liegen mehrere Vorschläge für Ausgangspunkte und Inhalte von Friedensverhandlungen vor, so auch von Italien. Die Initiatoren haben etwas ganz Selbstverständliches gemacht. Im Wesentlichen haben sie die Vorschläge, die schon von allen Seiten auf dem Tisch lagen, zusammengefasst und dazu aufgefordert, endlich miteinander zu sprechen und Kompromisse zu finden. Wahrscheinlich vergebliche Initiativen. Hat man doch das Gefühl, dass zum Beispiel die USA oder eben die Nato an einem schnellen Friedensschluss gar nicht interessiert sind. Weil nichts den Feind Russland so zermürbt, wie ein langanhaltender Krieg, bei dem man selbst auf der Zuschauertribüne sitzt. Und die Ukraine ist aus dieser Perspektive nur der Spielball.
III.
Wer jetzt über eine neue Friedensordnung nachdenken will, muss nicht bei Null beginnen. Schon sehr viele kluge Menschen vor uns haben über Krieg und Frieden nachgedacht. Zum Beispiel Immanuel Kant in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden«. Anregung für den Titel seines Werkes, so bekennt Kant gleich im ersten Satz, war das satirische Schild eines Gastwirtes. Unter dem Namen seines Lokals »Zum ewigen Frieden« war ein Friedhof gemalt. Kant räumte ein, was auch er für die entscheidende Hürde auf dem Weg zum »ewigen Frieden« hielt: Dass die Staatsoberhäupter des Krieges nie satt würden. Würde man aber die Staatsbürger entscheiden lassen, würden die sich sehr wohl überlegen, »ein so schlimmes Spiel anzufangen«, denn sie müssten schließlich für alles die Kosten tragen. Und als würde er uns Heutigen die Leviten lesen, mahnte der weise Kant: »Irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Krieg noch übrigbleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg (bellum internecium) ausschlagen würde«, was »den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde«.
Albert Einstein hat sich aus ähnlichen Überlegungen als »militanten Pazifisten« bezeichnet. In seinem berühmten Briefwechsel mit Sigmund Freund – »Warum Krieg?« - schrieb er: »Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden.« Das ist die Situation, in der wir uns befinden. Als Folge des kompletten Versagens von Politik. Es ist beängstigend, dass sich heute Pazifisten und Entspannungspolitiker rechtfertigen müssen - und nicht die, die uns in diese Situation gebracht haben
Freud war skeptischer als Einstein. Er glaubte, der Aggressionstrieb im Menschen sei nicht abzuschaffen, und der Glaube, dass der Mensch sich freiwillig der Vernunft beugen würde, eine Utopie. Trotzdem plädierte Freund nicht für Resignation, sondern für Mut. Der Frieden sei eine kolossale moralische Anstrengung.
Das ist die Aufgabe, die vor uns steht. Eine enorme moralische Anstrengung gegen alle Widerstände, denen sich die Kritiker von Waffenlieferungen und Kriegspropaganda, die Kritiker der Nato und der USA, die Mitstreiter in der Friedensbewegung ausgesetzt sehen.
IV.
Wer vom Krieg profitiert, will ihn nicht stoppen. Und das ist eine weitere zentrale Frage: Wer will diesen Krieg und wer will ihn wie stoppen? Am wenigsten wollen ihn all die, die am meisten darunter leiden. Dazu gehören vermutlich auch viele einfache Soldaten, denen auf beiden Seiten weisgemacht wird, das Leben des Vaterlands und der Machterhalt seiner »Väter« sei den eigenen Tod allemal wert. Auch hierzulande mischen sich in die Rhetorik, wonach der Krieg nur durch einen Sieg der Ukraine beendet werden wird, eigene Interessen. Im Bundestag gibt es nur noch eine sehr kleine Opposition. Immerhin hat der DGB auf seinem Bundeskongress im Mai das 100-Milliarden-Sondervermögens zur Aufrüstung kritisiert und die Bundesregierung aufgefordert, nicht dauerhaft daran festzuhalten, den Rüstungshaushalt auf das Zwei-Prozent-Ziel der Nato aufzustocken. Auch sprach sich der DGB für eine breite gesellschaftliche Diskussion zum Thema aus. Bis heute fehlt eine Reaktion der Bundesregierung.
Also wer profitiert vom Krieg? Bertolt Brecht schrieb: »Es wird so lange Kriege geben, solange es noch einen Menschen gibt, der daran verdient«. Zur »kolossalen moralischen Herausforderung«, der wir uns stellen müssen, gehört deshalb die Frage nach den Interessen. Demnach wäre Brecht zu antworten: Frieden muss ein besseres Geschäft sein als Krieg!
Und was ein besseres Geschäft ist, das entscheiden durchaus Gesetzgeber. Sie haben die Mittel dafür in der Hand. Sie können subventionieren oder besteuern, sie können privatisieren oder vergesellschaften, sie können öffentliche Ausschreibungen machen. Sie haben Spielräume, sie können Richtungsentscheidungen treffen. Waffenpreise sind politische Preise. Sie haben nichts mit Marktwirtschaft zu tun. Und wenn Bahntrassen oder Windräder oder Brunnen oder Schulen ein besseres Geschäft sind als Kanonen, dann werden sie auch eine bessere Chance haben. Wer das für politisch naiv hält, den halte ich für zynisch.
Damals, im Jugoslawienkrieg, haben Fachleute berechnet: für das Geld, das dieser Krieg gekostet hat, hätte man allen Bewohnern des Kosovo ein Haus mit Swimmingpool bauen können. In so einem Land hätten sich die Menschen sicher auskömmlicher vertragen, und hätten vielleicht Besseres zu tun gehabt, als einen Bürgerkrieg zu entfachen. Es ist also eine entscheidende Frage, wo Geldmittel hingehen.
V.
Die Darstellung, wir seien von Russland wegen einer friedlichen Gaspipeline abhängig, halte ich für falsch. Die dramatischen Verwerfungen auf dem Energiesektor sind durch die Sanktionen ausgelöst worden. Man glaubte und hoffte, Russland sei von den Geldzahlungen des Westens abhängig. Offenbar funktioniert es aber nicht, den Krieg mit Hilfe der Sanktionen einzudämmen oder gar zu beenden. Doch mit diesem Ziel hat man die steigenden Kosten und die drohenden Einschnitte für die Bevölkerung begründet. Und sowieso: Wir werden auch weiterhin von Rohstoffexporteuren abhängig bleiben. Ob Fracking-Gas aus den USA oder Öl aus Katar und Saudi-Arabien – kein einziger der hektisch neu gewonnenen, größeren Öl- und Gaslieferanten hat eine moralisch saubere Weste, wirklich keiner.
Nicht verdrängen sollten wir zudem: Die Mehrheit der Staaten oder der Menschen auf dieser Welt befürwortet die sogenannte westliche Werteordnung nicht. Wir werden Energie immer irgendwo holen müssen, wo diese Werte nichts gelten. Übrigens auch deshalb nicht, weil diese Werte auch bei uns nur bedingt eingehalten werden.
VI.
Voraussetzung einer neuen Friedensordnung wäre eine Stärkung der UNO. In den letzten Jahrzehnten ist die UNO immer wieder bewusst geschwächt worden. Das Gewaltmonopol muss zur UNO zurückkehren. Selbst innerhalb der Friedensbewegung ist nur wenig bekannt, dass laut Charta der Vereinten Nationen für einen bewaffneten Einsatz sehr viel mehr nötig ist als ein UNO-Mandat. Es gibt sieben weitere Punkte, die erfüllt sein müssen, bevor man einen bewaffneten Einsatz führen darf. Nach 1945, also, solange es die UNO gibt, hat es noch nie einen militärischen Einsatz gegeben, der den Regeln der UNO-Charter entsprach.
Artikel 26: Damit »von den menschlichen und wirtschaftlichen Hilfsquellen der Welt möglichst wenig für Rüstungszwecke abgezweigt wird«, ist der Sicherheitsrat beauftragt, eine weltweite Rüstungsregelung vorzulegen. Warum wohl war das nicht durchzusetzen?
Artikel 32 empfiehlt, dass in einem Konfliktfall auch jene Streitparteien, die nicht Mitglieder des Sicherheitsrates oder gar der Vereinten Nationen sind, an den Sitzungen des Sicherheitsrats teilnehmen sollen. Zwar ohne Stimmrecht, aber sie müssen angehört werden.
Artikel 33 verlangt, dass vor jedem Einsatz von Gewalt alle friedlichen Mittel ausgeschöpft sein müssen; also diplomatischer Druck, Verhandlung, Vermittlung, Schiedsspruch, Gerichtsverfahren… Nun ist es natürlich schwierig das Maß für »alle friedlichen Mittel« zu finden. Ein Vorschlag: Wenn für friedensfördernde Maßnahmen genau so viel Geld ausgegeben wurde, wie für Rüstung, dann sind alle friedlichen Mittel ausgeschöpft.
Artikel 94 der UN-Charta erwartet, dass sich alle streitenden Parteien dem Internationalen Gerichtshof unterwerfen, also dem Völkerrecht. Darum haben sich die Großmächte noch nie geschert. Nicht die USA, nicht Russland. Doch wer für sich selbst das Völkerrecht nicht akzeptiert, der sollte erst gar kein Gewehr in die Hand nehmen dürfen!
Ganz wichtig sind die Artikel 43 und 45. Sie fordern, dass die Mitgliedstaaten, wenn ein bewaffneter Einsatz wirklich unvermeidbar ist, der UNO Streitkräfte zur Verfügung stellen müssen. Es ist also nicht vorgesehen, dass die Nato das Exekutivorgan für militärische Streitigkeiten ist.
Artikel 47 besagt, dass die strategische Leitung des Einsatzes bei der UNO liegen muss. Auch hier ist keine Rede von der Nato.
Artikel 46 begrenzt auch jede Willkür der UNO: Bevor ein militärischer Konflikt geführt werden darf, müssen genaue Pläne für die Waffengewalt vom Sicherheitsrat aufgestellt werden. Also verbindliche Angaben, welche Waffengewalt im jeweiligen Konflikt erlaubt ist. Wenn das getan worden wäre, dann wäre es z. B. nicht möglich gewesen, das UN-Mandat für eine Flugverbotszone in Libyen derart zu missbrauchen, dass es praktisch das Einfallstor für den Krieg wurde. Flugverbotszone klingt so friedlich, wer sie aber durchsetzen will, der muss alles abschießen, was sich im betroffenen Luftraum bewegt, der muss also Krieg führen. Mit verbindlichen Waffenplänen des Sicherheitsrates wäre es wohl auch nicht möglich gewesen, geächtete Waffen wie uranhaltige Munition oder Streubomben zu verwenden.
VII.
Keine Schutzverantwortung der Nato hat je Schutz gebracht, keine humanitäre Intervention Humanismus. Die Alternative ist nicht Nichtstun. Als Beobachterin der Münchner Sicherheitskonferenz 2017 habe ich UN-Generalsekretär Guterres sagen hören, was in der Presse nie zitiert wurde: »Das größte Sicherheitsrisiko ist die politische Elite.«
Wir dürfen die bestehenden Strukturen nicht einfach hinzunehmen. Nicht nur António Guterres will einen Umbau der UNO zu einer wirklich friedenserhaltenden Organisation. Und er hat daran erinnert, dass das Militär der größte Klima- und Sozialkiller ist. Bevor wir an einen neuen Frieden denken können, müssen Feindbilder abgebaut werden. Volksentscheide wären wichtig, um im Sinne von Kant eine Hemmschwelle für Gewalt zu setzen. Frieden ist zu wichtig, als dass man ihn den Politkern überlassen kann. Deshalb brauchen wir auch weiter eine starke Friedensbewegung.
Der Text basiert auf einem Diskussionsbeitrag während der Konferenz der Friedensbewegung »Ohne Nato leben« am 21. Mai 2022 an der Humboldt-Universität in Berlin.