Si non vis bellum, para pacem.
Es mag überraschen, aber in den martialischen Reden des derzeitigen Bundeskanzlers Olaf Scholz tauchen nicht nur neue Buzzwords (wie die berüchtigte »Zeitenwende«), sentimentale Floskeln oder Daten zur Aufrüstung auf, sondern immer wieder auch die Begriffe: Frieden, friedlich, Friedensordnung. Was ist von ihnen zu halten? Wie konkret oder ernstgemeint sind sie? Oder verschleiern auch sie – wie mittlerweile in öffentlichen Verlautbarungen (und in den sogenannten Leitmedien) weithin üblich – nur die wahren Sachverhalte?
In der am 27.2.2022, also nur drei Tage nach dem Beginn des Ukraine-Krieges, gehaltenen Rede spricht Scholz sogleich und ohne Begründung von einer angeblichen Zeitenwende. Gemeint war damit offensichtlich, dass in Europa – wieder – Krieg geführt wird. Ein Krieg, der auf das Konto eines Mannes gehe, dem Kaltblütigkeit, Menschenverachtung und dubiose politische Motive bescheinigt werden. Über die konkrete Lage in den Monaten und Jahren zuvor wird kein Wort verloren. Stattdessen stehen »der« Krieg und dessen schreckliche »Bilder« im Fokus. Statt Erklärungen zu liefern, wird Emotionalität erzeugt, ja, eine ins Klischeehafte abgleitende Sentimentalität, die sich auch nicht scheut, an die schlimmen Kriegserfahrungen der Deutschen (nicht etwa der von ihnen Überfallenen) im Zweiten Weltkrieg zu erinnern.
Für die Jüngeren sei »der« Krieg geradezu unfassbar, so als ob die letzten dreißig Jahre nicht voller schrecklicher, in den Medien stets präsenter Kriegskatastrophen gewesen seien. Während der Krieg als schreckliche Realität dargestellt wird, werden die Gründe, die konkreten Umstände seiner Entstehung, wohlweislich nicht erwähnt. So ist beispielsweise keine Rede davon, dass in der Ukraine bereits seit 2014 Krieg herrscht, Bürgerkrieg. Scholz macht stattdessen Putin als Drahtzieher aus, der die Uhr ins 19. Jahrhundert zurückstellen wolle, in das Jahrhundert des Imperialismus. Mit solch dürren Argumenten begründet Scholz dann anschließend ein ausgedehntes Aufrüstungsprogramm, das die BRD zu einem de facto Kriegsland macht. Gleichwohl bestehe das Ziel darin, den Krieg in der Ukraine zu stoppen. Es gehe darum, den erwiesenen Feind der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung in die Schranken zu weisen. Stärke sei nötig, um unseren Wohlstand, unsere Demokratie, unsere Sicherheit zu wahren.
Scholz lässt es nicht an weiteren starken Worten fehlen: Putin habe die europäische Sicherheitsordnung »zertrümmert«, er wolle die Ukraine von der Weltkarte »vertilgen«. In der UNO habe die infame Völkerrechtsverletzung nur aufgrund des russischen Vetos nicht verurteilt werden können. Die eigene Mission gilt als »Mission des Friedens«. Der Begriff Frieden taucht tatsächlich immer wieder auf. Zunächst einmal mag er ein Hinwirken auf die Beendigung des Krieges bedeuten. Doch könnte man natürlich fragen, was zuvor zur Friedensicherung unternommen – oder eben nicht unternommen worden ist. Dies geschieht nicht. Stattdessen heißt es vage, man wolle sich auch weiterhin für den Frieden einsetzen. Scholz konzentriert sich auf eine Reihe von »Handlungsaufträgen«, die es zu erledigen gelte. Dazu gehören dann etwas das »Sondervermögen Bundeswehr«, die Unterstützung der Ukraine mit Geld und Waffen und die diversen, gegen die russischen Oligarchen gerichteten Sanktionen. Man gewinnt somit den Eindruck, als seien diese Maßnahmen ein Einsatz für den Frieden. Von einer sofortigen Beendigung des Krieges ist allerdings nicht die Rede.
Zugutehalten kann man Scholz, dass er sich nicht der dann bald einreißenden Russophobie anschließt, und die »Aussöhnung« zwischen Russen und Deutschen nicht gefährden will. Freilich fällt kein Wort über den deutschen Überfall auf die damalige Sowjetunion, die 27 Millionen Tote zu beklagen hatte. Der Begriff Aussöhnung klingt so, als handle es sich um eine letztlich unerklärliche Feindschaft der fernen Vergangenheit. Der Rest der Rede vom 27.2.2022 konzentriert sich auf die Details der Aufrüstung von Bundeswehr und begleitender EU-Politik, die jetzt, militärisch und politisch geeint, Stärke zeigen soll. Dies alles gilt der Sicherung des Friedens. Damit ist offensichtlich gemeint, dass man ein Übergreifen auf andere Länder verhindern will. Den Kriegsfall, der einträte, wenn Russland ein Nato-Land angreife, nehme man »sehr ernst«. Nach altbekannter Manier beruht also die Friedensbereitschaft auf eigener Stärke. Ernsthafte Friedensangebote oder konstruktive Lösungen sind nicht vorgesehen, da daran, wie es – ohne Beweis heißt – auf der anderen Seite kein Interesse bestehe.
Die Zeitenwende-Floskel taucht auch in einer im Oktober in den USA gehaltenen und dort publizierten Rede auf. Scholz spricht jetzt sogar von einer »globalen Zeitenwende«. Damit ist die Entwicklung zu einer multipolaren Welt gemeint. Dies wird nicht näher erläutert – es überschneidet sich ironischerweise mit Putins bereits früher formulierten, aber Scholz wohl nur teilweise bekannten Sichtweise. Es geht nicht mehr (nur) um die Ukraine, sondern die Folgerungen für die Weltpolitik und die Bedrohung der »regelbasierten Ordnung«, wie es mit einem weiteren Buzzword heißt. Gemeint ist auch hier eine Friedens- und Sicherheitsordnung im Sinne der eigenen – westlichen – Interessen. Frieden ist somit dann möglich, wenn alle sich an die Regeln halten, Regeln, deren Herkunft und Reichweite normalerweise nicht präzisiert werden. Gewöhnlich sind damit Menschenrechte oder andere Grundrechte gemeint, doch was deren Inhalt ist, oder inwieweit sie von einzelnen Staaten respektiert, gewahrt oder weiterentwickelt werden, bleibt meist im Dunkeln. Man begnügt sich mit einer Negativdefinition, nämlich dem Hinweis auf die vermeintlichen Gegner solcher Werte und Regeln. So wird das »Wir« gestärkt, und der Gegner in die Defensive gedrängt.
Scholz hat sich darüber hinaus ein bestimmtes Geschichtsmodell zurechtgelegt, dessen Widersprüchlichkeit frappierend ist. Demnach waren die 30 Jahre nach 1990 eine Zeit »relativen Friedens«, ja, weitgehender weltweiter Prosperität. Die sogenannten Balkankriege, der völkerrechtswidrige Angriff auf Serbien 1999, die Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen oder Syrien werden nicht erwähnt. All dies hat die ins Auge gefasste »Friedensordnung«, die auf dem Sieg über den Kommunismus basierte, anscheinend nicht tangiert. Wenn Scholz dann dennoch die endlose Reihe von Kriegen und Bürgerkriegen, Interventionsversuchen und Sanktionsregime kurz streift, dann um sie den – nicht näher bezeichneten – autoritären, faschistischen oder imperialistischen Kräften anzulasten. In diesem Kontext sieht Scholz dann auch den Krieg in der Ukraine, für den er einen »revanchistischen Imperialismus« verantwortlich macht. Kurz: Die Welt war nach dem Zusammenbruch der meisten kommunistischen Staaten – für Scholz ein Sieg der Demokratie – drei Jahrzehnte lang in Ordnung. Die diversen Kriege sind nicht der Rede wert. Der Frieden oder irgendwelche Friedensordnungen sind an die westliche Politik gekoppelt. Putins Krieg in der Ukraine wird dementsprechend als unerhörter Angriff auf diese – stets so allgemein bezeichnete – Friedensordnung gewertet.
Vielleicht lohnt es sich, einen Blick auf die Geschichte zu werfen, und zwar auf das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Die französische Revolution von 1789 fegte binnen weniger Jahre das alte feudalistisch-klerikale Zwangssystem hinweg und eröffnete damit die Perspektive auf eine Welt ohne Krieg. Kriege waren jahrhundertelang dem Macht- und Bereicherungsinteressen einiger weniger geschuldet, die selbst keinerlei Opfer zu bringen brauchten. Es schien möglich, diese Geißel der Menschheit ein für alle Mal auszurotten, wenngleich sich schon bald zeigte, dass die Franzosen ihren neuen Staat und ihre Verfassung gegen den Ansturm der reaktionären Monarchien verteidigen mussten und dann wenig später sogar zur Gegenoffensive übergingen. Im wenig revolutionären, aber revolutionsfreundlichen Deutschland kam es zu langjährigen Debatten über die Frage von Krieg und Frieden. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant schrieb Ende 1795 seine im Stil eines Vertrags für die Zukunft gehaltene Kampfschrift »Zum ewigen Frieden«, in dem er, durchaus realistisch, die Chancen eines dauerhaften Friedens diskutierte. Dazu gehörte etwa eine republikanische (sprich: demokratische) Staatsform, die Abschaffung stehender Heere sowie das Verbot der Überschuldung zu Kriegszwecken. Kant erwog diverse Formen einer übernationalen Regelung, warnte aber vor einer universellen Monarchie oder der Hegemonie eines einzelnen Staates – auch wenn dieser als wohlwollend gelten könne. Die Vielfalt der Nationen müsse gewahrt bleiben. Für Kant war bereits klar, dass nicht nur die alten absolutistischen Mächte Kriegstreiber und -profiteure waren, sondern auch Handelsmächte wie England, das bereits repräsentative Regierungsformen hatte, aber riesige Geldmengen in die Bekämpfung der französischen Revolution investierte.
So antiquiert das eine oder andere in der damals breit diskutierten Schrift heute erscheinen mag, Kant machte das Konzept des »ewigen«, das heißt eines wirklich dauerhaften Friedens zu einem politischen Projekt, das auch Politiker, jedenfalls »moralische«, d. h. vernunftgeleitete Politiker zu beherzigen hätten. Schließlich ging es schon damals um das langfristige Überleben der Gattung, worauf Kant tiefsinnig-scherzhaft mit seinem Bezug zum Ewigen anspielte. Krieg, der Krieg aller gegen alle, führe sonst zum ewigen Frieden des Friedhofs. Auch heute wäre in Kants Geist zu prüfen, welche Friedenskonzepte wirklich tragfähig sind und der Vielfalt unserer Welt entsprechen. Bloße Friedensdeklarationen oder der selbstgerechte Anspruch, eine bestimmte (machtgestützte) Form des Friedens garantieren oder durchsetzen zu wollen, sind unzureichend, ja, unterminieren einen möglichen Frieden. Die alte Formel, wonach die beste Friedenssicherung vor allem in der eigenen (militärischen) Stärke bestehe, sollte endlich verabschiedet werden. Stattdessen sollte gelten: »Wenn du keinen Krieg willst, schaffe die Voraussetzungen für den Frieden.«