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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Frieden als russische Desinformation

Mei­nung prä­gen­de Blät­ter agie­ren als Fan­club der vor­herr­schen­den Poli­tik: Für Stim­mung sor­gen, die eige­ne Mann­schaft unter­stüt­zen, den Geg­ner nie­der­ma­chen! Ich blät­te­re in der Tages­zei­tung. »Fake News vom Kreml«: Die von der US-Regie­rung behaup­te­te rus­si­sche Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne wird als Tat­sa­che berich­tet. »Ver­folg­ter Wahl­sie­ger flieht aus Vene­zue­la«: Framing ohne Erwäh­nung abwei­chen­der Berich­te oder Hin­ter­grün­de (Wirt­schafts­krieg gegen das Land). Zitiert wird Isra­els Prä­si­dent Netan­ja­hu: »Wir sind von einer mör­de­ri­schen Ideo­lo­gie umge­ben« – aber kein Wort über ein Mas­sa­ker der israe­li­schen Armee an Men­schen in einer »huma­ni­tä­ren Zone«. Lan­ger Bericht über den US-Wahl­kampf – ein­sei­tig Par­tei ergrei­fend, ohne Zie­le der Kan­di­da­ten bezüg­lich Krieg und Frie­den und Welt­herr­schaft zu erwäh­nen. Und zahl­rei­che Berich­te über Innen­po­li­tik als par­tei­po­li­ti­sches Hickhack.

Auf die Kri­tik des Autors an der Bericht­erstat­tung einer gro­ßen Tages­zei­tung ent­geg­ne­te ein Redak­teur: »Ihren Vor­wurf, dass die gro­ßen Print­me­di­en selek­tiv, ten­den­zi­ös und regie­rungs­nah berich­ten, kann ich nicht nach­voll­zie­hen. Mir zumin­dest fällt kein nen­nens­wer­tes Print­me­di­um ein, das nicht eimer­wei­se Kri­tik über der Ampel­ko­ali­ti­on aus­kip­pen wür­de.« Natür­lich gibt es Kri­tik, und es gibt lesens­wer­te Berich­te, Inter­views und Kom­men­ta­re. Aber: Die Bericht­erstat­tung lei­det unter Dog­men, tabui­sier­ten The­men, syste­ma­ti­schem Aus­blen­den von Hin­ter­grün­den und Zusam­men­hän­gen, flos­kel­haf­ten Bewer­tun­gen und Framing. In der Sum­me wirkt all das mani­pu­la­tiv, als Pro­pa­gan­da. Die zen­tra­len Ideo­lo­gien der »Macht­eli­te« gel­ten als sakro­sankt: Der Neo­li­be­ra­lis­mus als Grund­la­ge der Wirt­schaft und der Gesell­schaft, die US-Hege­mo­nie plus Nato und die Klas­sen­ge­sell­schaft, in der gro­ße Medi­en ent­schei­den­den Ein­fluss bean­spru­chen – aller­dings an der Sei­te, nicht als Kon­trol­leu­re der Macht.

Man wun­dert sich, dass der Deutsch­land GmbH der Laden nicht um die Ohren fliegt und die ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­ker nicht mit Schimpf und Schan­de ver­jagt wer­den. Ob man ver­geb­lich auf die Bahn war­tet, jah­re­lang eine bezahl­ba­re Woh­nung sucht, ob ein Kli­nik­auf­ent­halt zur Tor­tur wird oder die Ren­ten­aus­kunft eine zu erwar­ten­de Ren­te unter der Armuts­gren­ze anzeigt – von den Zukunfts­aus­sich­ten der Kin­der ganz zu schwei­gen: Resi­gna­ti­on und Angst, wohin man blickt. All die Bela­stun­gen exi­stie­ren schon lan­ge: Eine Bun­des­re­gie­rung nach der ande­ren hat sie sehen­den Auges geschaf­fen. An gra­vie­ren­den ideo­lo­gi­schen Fehl­ent­schei­dun­gen wur­de nichts geän­dert, im Gegen­teil. Erfolg­rei­che Fir­men ler­nen aus Feh­lern, suchen nach Ver­bes­se­rung, um Effi­zi­enz, Moti­va­ti­on und Zufrie­den­heit der Betrof­fe­nen zu erhö­hen. Nicht so die deut­sche Machtelite.

Gut, die deut­sche Bevöl­ke­rung neigt nicht zu laut­star­kem Pro­test oder gar zur Revo­lu­ti­on. Immer­hin zei­gen aber Dut­zen­de von Umfra­gen wach­sen­de Unzu­frie­den­heit, Sor­gen und Ableh­nung: »Stu­die: Jugend so pes­si­mi­stisch wie nie!« »Ver­trau­en in Demo­kra­tie nimmt rapi­de ab!« »Wenig Ver­trau­en in deut­sche Medi­en!« Ins­ge­samt schwin­det das Ver­trau­en in den Staat, in die Poli­tik und deren Reprä­sen­tan­ten, in die Medi­en. Die Wah­len in Sach­sen und Thü­rin­gen haben der Ampel­ko­ali­ti­on eine deut­li­che Bot­schaft über­mit­telt: Wir gehn euch doch am Arsch vor­bei – ihr uns auch!

Ganz oben ran­giert in allen Umfra­gen die Sor­ge wegen der wach­sen­den Kriegs­ge­fahr. Laut der Stu­die »Jugend in Deutsch­land 2024« bekun­den 60 Pro­zent der Jugend­li­chen ihre Sor­ge vor »Krieg in Euro­pa und Nah­ost«. Und wol­len etwa die Men­schen Krieg bis zum Sieg über Russ­land – wie die Poli­ti­ker der Koali­ti­on und der CDU/C­SU-Oppo­si­ti­on? Nein! Sie sagen: Ver­han­delt! Waf­fen­lie­fe­run­gen sind nicht die Lösung! Nach einer reprä­sen­ta­ti­ven INSA-Umfra­ge sind 68 Pro­zent für Frie­dens­ver­hand­lun­gen und 65 Pro­zent für Waf­fen­still­stand. Eine über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der Bevöl­ke­rung erwar­tet eine ande­re, eine frie­dens­ori­en­tier­te Poli­tik – aber die Regie­rung und die CDU/C­SU-Oppo­si­ti­on stel­len sich taub. Ver­geb­lich sucht man in den Leit­me­di­en eine Reso­nanz auf die­se Erwar­tun­gen, die den Zie­len der Regie­rungs­po­li­tik dia­me­tral ent­ge­gen­ste­hen. Am sel­ben Tag, als die Ergeb­nis­se der INSA-Umfra­ge von der Zeit­schrift Emma ver­öf­fent­licht wur­den, bau­te die Tages­schau eine Brand­mau­er – ohne die Ergeb­nis­se zu erwäh­nen: »For­de­run­gen nach Frie­dens­ver­hand­lun­gen: Zwi­schen Wunsch und Wirk­lich­keit«. Der Bei­trag schließt mit der For­de­rung nach Waffenlieferungen.

Ohne das Par­la­ment beschließt die Regie­rung, US-Waf­fen­sy­ste­me in Deutsch­land zu sta­tio­nie­ren, die weit nach Russ­land hin­ein­rei­chen. Die­se ent­schei­den­de Eska­la­ti­on der Span­nun­gen mit Russ­land wird von der Hälf­te der Bevöl­ke­rung abge­lehnt, in öst­li­chen Bun­des­län­dern zu zwei Drit­tel. Aber die Tages­schau (hier stell­ver­tre­tend für Leit­me­di­en) beschwich­tigt: Es gel­te, eine mili­tä­ri­sche Fähig­keits­lücke zu über­win­den und für einen bes­se­ren Schutz der Nato-Ver­bün­de­ten zu sor­gen. Das lässt man sich dann von einer Exper­tin der regie­rungs­na­hen »Stif­tung Wis­sen­schaft und Poli­tik« bestä­ti­gen. In einem aktu­el­len Inter­view erklärt die US-Diplo­ma­tin Vic­to­ria Nuland (»Fuck the EU«) offen die Grün­de für den Abbruch der Frie­dens­ver­hand­lun­gen zwi­schen Russ­land und der Ukrai­ne im April 2022. Es sei­en »die Bri­ten und wir« gewe­sen, die Kiew emp­foh­len hät­ten, die Ver­hand­lun­gen von Istan­bul plat­zen zu las­sen. Die­se histo­risch bedeu­ten­de Nach­richt fin­det man fast nur in alter­na­ti­ven Medien.

Der Ver­trau­ens­ver­lust in Staat und Par­tei­en, in Demo­kra­tie und Medi­en gedeiht auf die­sem Mist. Die Leit­me­di­en bie­gen sich die Rea­li­tät zurecht, damit sie zur herr­schen­den Ideo­lo­gie des Wer­te­we­stens und der regel­ba­sier­ten Welt­ord­nung (nach eige­nen Regeln und Inter­es­sen) passt: Flucht­ur­sa­chen? Gibt es nicht. Kli­ma­ka­ta­stro­phe? Krie­ge? Schlimm, schlimm, aber was haben wir damit zu tun? Kei­ne Ana­ly­se und Grund­satz­kri­tik an der Macht demo­kra­tisch nicht legi­ti­mier­ter Kon­zer­ne, Schat­ten­ban­ken, Denk­fa­bri­ken, Stif­tun­gen, die uns in inti­mer Ver­quickung mit der Poli­tik beherr­schen. Die The­men, die die Bevöl­ke­rung exi­sten­zi­ell berüh­ren – beson­ders also Krieg und Frie­den, aber auch sozia­le Ungleich­heit – ver­wan­deln die Leit­me­di­en in ver­ne­bel­te Narrative.

Frie­dens­de­mo Zehn­tau­sen­der? In den gro­ßen Medi­en wird nichts über Inhal­te berich­tet. Wirt­schafts­krie­ge des Westens, Auf­rü­stung, Waf­fen­ex­por­te – alles not­wen­dig gegen Putin. Bevöl­ke­rungs­mehr­hei­ten gegen welt­wei­te Bun­des­wehr­ein­sät­ze? Wird gecan­celt. 850 US-Mili­tär­stütz­punk­te in aller Welt, deut­sche Kriegs­schif­fe im Süd­chi­ne­si­schen Meer – natür­lich alles not­wen­dig für Frie­den und Frei­heit. Olig­ar­chen hat nur Russ­land, Pro­pa­gan­da betreibt nur der Feind. Cogni­ti­ve War­fa­re der Nato sucht man ver­geb­lich in der »frei­en Pres­se«. Can­celn, über­wa­chen, Pro­test ver­bie­ten, Ein­rei­se­ver­bo­te gegen Anders­den­ken­de: Eine Mehr­heit in Deutsch­land denkt, die eige­ne Mei­nung nicht offen äußern zu dür­fen. Die Rea­li­tät wird durch ein­sei­ti­ge Berich­te pas­send gemacht; es fin­det sich immer ein »Exper­te« oder ein Par­tei­en­ver­tre­ter, der/​die das herr­schen­de Welt­bild, die Nar­ra­ti­ve der allein­gül­ti­gen Ideo­lo­gie bestätigt.

Die Kri­tik am Angriffs­krieg Russ­lands und am Ter­ror der Hamas ist berech­tigt. Wie aber steht es mit den Angriffs­krie­gen in Jugo­sla­wi­en, Afgha­ni­stan, Irak, Liby­en, Syri­en? An Fol­ter, Regime Chan­ge, mili­tä­ri­schen Inter­ven­tio­nen der Nato und der »west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft«? Wo blieb der Ruf nach Sank­tio­nen? Lie­fer­ten die Leit­me­di­en kri­ti­sche Ana­ly­sen und Hin­ter­grund­be­rich­te über Welt­herr­schafts­an­sprü­che der west­li­chen Vor­macht USA, über Nato-Ost­erwei­te­rung, völ­ker­rechts­wid­ri­ge Krie­ge mit Mil­lio­nen von Toten? Konn­ten wir uns infor­mie­ren über die zig­fach UN-ver­ur­teil­te Besat­zungs­po­li­tik Isra­els, die men­schen­ver­ach­ten­de Behand­lung der Palä­sti­nen­ser? Über die flos­kel­haf­te Beschwö­rung der Zwei­staa­ten-Theo­rie, die von kei­nem israe­li­schen Poli­ti­ker ernst genom­men wur­de? Bericht­erstat­tung über Kriegs­ver­bre­chen, Fol­ter, Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit sei­tens einer rechts­extre­men bis faschi­sti­schen Regie­rung in Isra­el fehlt weit­ge­hend. Erfah­run­gen und Per­spek­ti­ven der Palä­sti­nen­ser blei­ben aus­ge­blen­det. Stel­lung­nah­men der UN-Son­der­be­richt­erstat­te­rin Fr. Alba­ne­se schaf­fen es nicht in die Nach­rich­ten. Sind tote Palä­sti­nen­ser weni­ger wert als israe­li­sche? Haben Palä­sti­nen­ser kein Recht auf einen eige­nen Staat? Wer­fen Sie mal einen Blick auf die Land­kar­te Israels!

Um zu ver­ste­hen, wie die mei­nungs­bil­den­den Zei­tun­gen arbei­ten, lohnt sich ein Ver­gleich mit Medi­en, die die Grund­rech­te auf Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit und deren Funk­ti­on in der Demo­kra­tie ernst neh­men. Lesen Sie etwa die Ber­li­ner Zei­tung, die Arti­kel in der Wochen­zei­tung Frei­tag oder die Nach­Denk­Sei­ten par­al­lel mit den Bei­trä­gen der Leit­me­di­en. Das Ergeb­nis kann frap­pie­rend sein: Als leb­te man in ver­schie­de­nen Wel­ten. Genau das ist wohl der Grund dafür, dass der baye­ri­sche Ver­fas­sungs­schutz die genann­ten Medi­en in einem Bericht auf­führt, weil sie »Nach­rich­ten pas­send zum rus­si­schen Nar­ra­tiv ver­brei­ten«. Hier mutiert kri­ti­sche Bericht­erstat­tung zu Pro­pa­gan­da für den Feind.