Dunkle Wolken strichen über die flache Landschaft, der Wind heulte um das Haus, die Bäume bogen sich, Regen würde es geben, nicht zu knapp. Und wie es hinter den Deichen aussah, also vom Land ausgesehen auf dem Meer, das wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Gerade überlegte ich, den Kaminofen anzuzünden und ein gutes Buch herauszusuchen, als M. den Ostfriesenanzeiger auf den Tisch warf und fragte: Hast du das schon gelesen?
Was?
Das mit den Pferden!
Nein, hatte ich noch nicht, wollte ja ein Buch lesen, Novellen von Theodor Storm. In einigen der Geschichten kamen Pferde vor, meist vor Kutschen gespannt, doch im Schimmelreiter – ich griff zur Zeitung.
Zwölf Pferde, stand dort schwarz auf weiß, zwölf Pferde waren zusammen ausgebüxt, hatten eine Herde gebildet, ohne dass ein Anführer oder eine Anführerin auszumachen gewesen war, sich auf die Landstraße begeben, trotz allen Autoverkehrs, der zum Erliegen kam, und sich auf den Weg in Richtung Bremen gemacht. Ja, wohin denn sonst? schoss es mir durch den Kopf. Das ist doch klar, sagte ich.
Wieso? fragte M. Die hätten doch auch nach Aurich rennen können, das ist näher.
Nee, wenn Tiere losziehen, ist es seit alters her Brauch, dass sie gen Bremen wollen. Um dann dort Musik zu machen.
Warum das denn, fragte M.
Irgend wovon muss man doch leben.
Der Mensch, der den Zeitungsartikel verbrochen hatte, ließ allerdings seine Verwunderung durchblicken über die große Anzahl der Pferde, die Tatsache, dass sie allein über die Straße zogen und – das war dem Schreiber überhaupt nicht klar – dass sie anscheinend auf dem Weg nach Bremen waren. Warum, zum Henker, ausgerechnet dorthin, schien auch der sich zu fragen.
Die vier Bremer Stadtmusikanten – der alte Esel, der die Idee gehabt hatte, Musikant zu werden, Packan der Hund, Bartputzer die Katze und Kikeriki der Hahn, alle vier von ihren Herrschaften als alt und unbrauchbar deklariert, waren jeder zunächst einzeln abgehauen, vor allem der Hahn, denn er hatte gehört, er solle am nächsten Tag in den Topf. Dann hatten sie sich nacheinander getroffen, der Größe nach, so wie sie später von damals bis heute übereinander thronend dargestellt werden. Der alte Esel hatte noch früh genug gemerkt, dass auf seinem Hof kein guter Wind mehr für ihn wehte. Der Hund sollte totgeschlagen werden, da nahm er Reißaus. Auch der Katze sollte es an den Kragen gehen.
So hatten sich die drei anderen der Idee des alten Esels angeschlossen, nach Bremen zu ziehen und dort Musik zu machen. Vor allem seine Behauptung, etwas Besseres als den Tod fände man überall, hatte sie überzeugt, und zu musizieren, also Künstler zu werden, klang sehr interessant. Die Musik könnte zusammen ganz gut klingen, waren sie einhelliger Meinung. Als sie dann am späten Abend im Wald auf ein Haus, das von Räubern bewohnt war, stießen und singend durch die Tür brachen, schlugen sie mit dieser Aktion die Räuber in die Flucht, wobei dank der Überlieferungen nicht ganz klar wird, was auf die Räuber schrecklicher gewirkt hatte, die aufeinandergetürmten Tiere oder ihr Gesang.
Immerhin fanden sie einiges zu essen, von irgend wovon muss man ja leben, und leben wollten sie, und das Haus war ganz gemütlich. Sie beschlossen zu bleiben. Einmal mussten sie noch tätig werden, denn in der Nacht kamen die Räuber zurück und wollten das Haus, das bestimmt nicht ihr Eigentum war, zurückgewinnen. Das ging gewaltig schief, die vier behaupteten sich – gemeinsam ist man stark – und blieben in der gemütlichen Waldhütte, denn, so wird berichtet, nach Bremen kamen sie nie, was dort durch etlichen Zeugen bestätigt wird.
Da kannst du mal sehen, sagte ich zu M., die sozialutopischen Wünsche der Unterschicht in der bürgerlichen Gesellschaft können durchaus in Erfüllung gehen.
Abgesehen von deinem Vulgärmarxismus, abgesehen davon bleibt die Sache doch völlig offen, und nach Bremen kamen sie, wie es scheint, ja nicht. Und das mit der Musik war auch nur eine hohle Versprechung, erwiderte M.
Immerhin ließ sie sich auf eine Diskussion ein. Bei anderen Gelegenheiten hatte ich erlebt, dass sie mich nur auf meine ihr leidlich bekannten Wiederholungen meiner politischen Fantasien hinwies und nicht mehr mitreden wollte.
Ich blieb dran, die Gelegenheit war vielleicht günstig: Natürlich symbolisieren die Tiere die prekären Unterschichten, Knechte und Mägde, und ihre Nutzlosigkeit im Alter für die Herrschaften. Und die Hoffnung eben auf Lösungswege für die Zukunft, wenn auch die Wege mehr oder weniger gute Straßen und eine Stadt wie Bremen sein sollten.
Das alles überzeugt mich nicht, sagte M.
Für diesen Fall hatte ich mir schon seit geraumer Zeit eine andere Geschichte gemerkt, die ich der Kurzmeldung einer Tageszeitung entnommen hatte. Unter der Überschrift »Gemeinsam stark« – hört, hört, oder besser: lest, lest! – wurde über einen Heringsschwarm berichtet. Der Hering, früher mal ein Allerweltsfisch, der nicht viel kostete, hatte sich durch übermäßigen Verbrauch in eine Kostbarkeit verwandelt und drohte zeitweise fast auszusterben.
Dank gewisser Einschränkungen beim Fischfang hatte sich der Bestand erholen können, und so wurde weiter lustig drauflos gefischt. Der Mensch ist so. Der norwegische Fischtrawler »Steinholm« hatte sich, wahrscheinlich mit Echolot und allem technischen Pipapo ausgerüstet, einem ordentlichen Schwarm genähert und sein perfides Netz ausgelassen. Mit Erfolg, wie es zunächst schien. Das Netz war proppenvoll.
Doch die Fische waren, verständlicherweise, nicht so ganz damit einverstanden. Es soll ja so etwas wie eine Schwarmintelligenz geben. Als die Besatzung begann, den Fang per Motorwinde einzuholen, schwammen die Fischlein wie auf Kommando mitsamt Netz unter dem Schiff durch und brachten es zum Kentern. Gemeinsam ist man stark. Das hatte sich anscheinend auch unter Wasser herumgesprochen. Das Schiff sank, die Besatzung konnte von einem benachbarten Kutter gerettet werden. Die Fische waren weg. Wie die Zeitungsmacher schrieben, sie schreiben gern so etwas, wenn sie etwas Wichtiges nicht wissen, sei nicht bekannt, ob die Fische das Netz hätten verlassen können.
Na, siehst du, meldete sich M., nur ein halber Erfolg.
Ach was, knurrte ich unwillig, natürlich ist das Netz bei der Aktion gerissen, Netz gegen Stahlkiel, natürlich reißt da was, und raus waren sie. Ab in die Freiheit. Die Freiheit der Meere. Die gilt schließlich nicht nur für Menschen.
Na, ja, sagte sie, aber das sind doch Tiere.
Sicher, in Fabeln kommen stets Tiere vor, ihr Verhalten steht für die Menschen.
Aber, hörte ich, das mit den Musikanten ist ursprünglich ein Märchen und die Heringsnummer eine Zeitungsmeldung, vielleicht sogar eine Ente, ha, ha.
Die Märchenschreiber waren renommierte und seriöse Wissenschaftler, und die Zeitung ist ein anerkanntes Tageblatt in Norwegen. Denen glaube ich das.
Dass du auch immer das letzte Wort haben musst!
Woher soll ich wissen, dass du nichts mehr sagen willst?
M. verschwand in der Küche, wahrscheinlich um etwas für das Essen zu brutzeln, da wollte ich mich lieber nicht einmischen, füllte stattdessen Holz in den Ofen. Der Regen begann gegen die Fensterscheiben zu prasseln.
Die Pferde hat man übrigens wieder eingefangen. Die Fische erreichten den Atlantik.