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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Freiheit

Dunk­le Wol­ken stri­chen über die fla­che Land­schaft, der Wind heul­te um das Haus, die Bäu­me bogen sich, Regen wür­de es geben, nicht zu knapp. Und wie es hin­ter den Dei­chen aus­sah, also vom Land aus­ge­se­hen auf dem Meer, das woll­te ich mir lie­ber nicht vor­stel­len. Gera­de über­leg­te ich, den Kamin­ofen anzu­zün­den und ein gutes Buch her­aus­zu­su­chen, als M. den Ost­frie­sen­an­zei­ger auf den Tisch warf und frag­te: Hast du das schon gelesen?

Was?

Das mit den Pferden!

Nein, hat­te ich noch nicht, woll­te ja ein Buch lesen, Novel­len von Theo­dor Storm. In eini­gen der Geschich­ten kamen Pfer­de vor, meist vor Kut­schen gespannt, doch im Schim­mel­rei­ter – ich griff zur Zeitung.

Zwölf Pfer­de, stand dort schwarz auf weiß, zwölf Pfer­de waren zusam­men aus­ge­büxt, hat­ten eine Her­de gebil­det, ohne dass ein Anfüh­rer oder eine Anfüh­re­rin aus­zu­ma­chen gewe­sen war, sich auf die Land­stra­ße bege­ben, trotz allen Auto­ver­kehrs, der zum Erlie­gen kam, und sich auf den Weg in Rich­tung Bre­men gemacht. Ja, wohin denn sonst? schoss es mir durch den Kopf. Das ist doch klar, sag­te ich.

Wie­so? frag­te M. Die hät­ten doch auch nach Aurich ren­nen kön­nen, das ist näher.

Nee, wenn Tie­re los­zie­hen, ist es seit alters her Brauch, dass sie gen Bre­men wol­len. Um dann dort Musik zu machen.

War­um das denn, frag­te M.

Irgend wovon muss man doch leben.

Der Mensch, der den Zei­tungs­ar­ti­kel ver­bro­chen hat­te, ließ aller­dings sei­ne Ver­wun­de­rung durch­blicken über die gro­ße Anzahl der Pfer­de, die Tat­sa­che, dass sie allein über die Stra­ße zogen und – das war dem Schrei­ber über­haupt nicht klar – dass sie anschei­nend auf dem Weg nach Bre­men waren. War­um, zum Hen­ker, aus­ge­rech­net dort­hin, schien auch der sich zu fragen.

Die vier Bre­mer Stadt­mu­si­kan­ten – der alte Esel, der die Idee gehabt hat­te, Musi­kant zu wer­den, Pack­an der Hund, Bart­put­zer die Kat­ze und Kike­ri­ki der Hahn, alle vier von ihren Herr­schaf­ten als alt und unbrauch­bar dekla­riert, waren jeder zunächst ein­zeln abge­hau­en, vor allem der Hahn, denn er hat­te gehört, er sol­le am näch­sten Tag in den Topf. Dann hat­ten sie sich nach­ein­an­der getrof­fen, der Grö­ße nach, so wie sie spä­ter von damals bis heu­te über­ein­an­der thro­nend dar­ge­stellt wer­den. Der alte Esel hat­te noch früh genug gemerkt, dass auf sei­nem Hof kein guter Wind mehr für ihn weh­te. Der Hund soll­te tot­ge­schla­gen wer­den, da nahm er Reiß­aus. Auch der Kat­ze soll­te es an den Kra­gen gehen.

So hat­ten sich die drei ande­ren der Idee des alten Esels ange­schlos­sen, nach Bre­men zu zie­hen und dort Musik zu machen. Vor allem sei­ne Behaup­tung, etwas Bes­se­res als den Tod fän­de man über­all, hat­te sie über­zeugt, und zu musi­zie­ren, also Künst­ler zu wer­den, klang sehr inter­es­sant. Die Musik könn­te zusam­men ganz gut klin­gen, waren sie ein­hel­li­ger Mei­nung. Als sie dann am spä­ten Abend im Wald auf ein Haus, das von Räu­bern bewohnt war, stie­ßen und sin­gend durch die Tür bra­chen, schlu­gen sie mit die­ser Akti­on die Räu­ber in die Flucht, wobei dank der Über­lie­fe­run­gen nicht ganz klar wird, was auf die Räu­ber schreck­li­cher gewirkt hat­te, die auf­ein­an­der­ge­türm­ten Tie­re oder ihr Gesang.

Immer­hin fan­den sie eini­ges zu essen, von irgend wovon muss man ja leben, und leben woll­ten sie, und das Haus war ganz gemüt­lich. Sie beschlos­sen zu blei­ben. Ein­mal muss­ten sie noch tätig wer­den, denn in der Nacht kamen die Räu­ber zurück und woll­ten das Haus, das bestimmt nicht ihr Eigen­tum war, zurück­ge­win­nen. Das ging gewal­tig schief, die vier behaup­te­ten sich – gemein­sam ist man stark – und blie­ben in der gemüt­li­chen Wald­hüt­te, denn, so wird berich­tet, nach Bre­men kamen sie nie, was dort durch etli­chen Zeu­gen bestä­tigt wird.

Da kannst du mal sehen, sag­te ich zu M., die sozi­al­uto­pi­schen Wün­sche der Unter­schicht in der bür­ger­li­chen Gesell­schaft kön­nen durch­aus in Erfül­lung gehen.

Abge­se­hen von dei­nem Vul­gär­mar­xis­mus, abge­se­hen davon bleibt die Sache doch völ­lig offen, und nach Bre­men kamen sie, wie es scheint, ja nicht. Und das mit der Musik war auch nur eine hoh­le Ver­spre­chung, erwi­der­te M.

Immer­hin ließ sie sich auf eine Dis­kus­si­on ein. Bei ande­ren Gele­gen­hei­ten hat­te ich erlebt, dass sie mich nur auf mei­ne ihr leid­lich bekann­ten Wie­der­ho­lun­gen mei­ner poli­ti­schen Fan­ta­sien hin­wies und nicht mehr mit­re­den wollte.

Ich blieb dran, die Gele­gen­heit war viel­leicht gün­stig: Natür­lich sym­bo­li­sie­ren die Tie­re die pre­kä­ren Unter­schich­ten, Knech­te und Mäg­de, und ihre Nutz­lo­sig­keit im Alter für die Herr­schaf­ten. Und die Hoff­nung eben auf Lösungs­we­ge für die Zukunft, wenn auch die Wege mehr oder weni­ger gute Stra­ßen und eine Stadt wie Bre­men sein sollten.

Das alles über­zeugt mich nicht, sag­te M.

Für die­sen Fall hat­te ich mir schon seit gerau­mer Zeit eine ande­re Geschich­te gemerkt, die ich der Kurz­mel­dung einer Tages­zei­tung ent­nom­men hat­te. Unter der Über­schrift »Gemein­sam stark« – hört, hört, oder bes­ser: lest, lest! – wur­de über einen Herings­schwarm berich­tet. Der Hering, frü­her mal ein Aller­welts­fisch, der nicht viel koste­te, hat­te sich durch über­mä­ßi­gen Ver­brauch in eine Kost­bar­keit ver­wan­delt und droh­te zeit­wei­se fast auszusterben.

Dank gewis­ser Ein­schrän­kun­gen beim Fisch­fang hat­te sich der Bestand erho­len kön­nen, und so wur­de wei­ter lustig drauf­los gefischt. Der Mensch ist so. Der nor­we­gi­sche Fisch­traw­ler »Stein­holm« hat­te sich, wahr­schein­lich mit Echo­lot und allem tech­ni­schen Pipa­po aus­ge­rü­stet, einem ordent­li­chen Schwarm genä­hert und sein per­fi­des Netz aus­ge­las­sen. Mit Erfolg, wie es zunächst schien. Das Netz war proppenvoll.

Doch die Fische waren, ver­ständ­li­cher­wei­se, nicht so ganz damit ein­ver­stan­den. Es soll ja so etwas wie eine Schwarm­in­tel­li­genz geben. Als die Besat­zung begann, den Fang per Motor­win­de ein­zu­ho­len, schwam­men die Fisch­lein wie auf Kom­man­do mit­samt Netz unter dem Schiff durch und brach­ten es zum Ken­tern. Gemein­sam ist man stark. Das hat­te sich anschei­nend auch unter Was­ser her­um­ge­spro­chen. Das Schiff sank, die Besat­zung konn­te von einem benach­bar­ten Kut­ter geret­tet wer­den. Die Fische waren weg. Wie die Zei­tungs­ma­cher schrie­ben, sie schrei­ben gern so etwas, wenn sie etwas Wich­ti­ges nicht wis­sen, sei nicht bekannt, ob die Fische das Netz hät­ten ver­las­sen können.

Na, siehst du, mel­de­te sich M., nur ein hal­ber Erfolg.

Ach was, knurr­te ich unwil­lig, natür­lich ist das Netz bei der Akti­on geris­sen, Netz gegen Stahl­kiel, natür­lich reißt da was, und raus waren sie. Ab in die Frei­heit. Die Frei­heit der Mee­re. Die gilt schließ­lich nicht nur für Menschen.

Na, ja, sag­te sie, aber das sind doch Tiere.

Sicher, in Fabeln kom­men stets Tie­re vor, ihr Ver­hal­ten steht für die Menschen.

Aber, hör­te ich, das mit den Musi­kan­ten ist ursprüng­lich ein Mär­chen und die Herings­num­mer eine Zei­tungs­mel­dung, viel­leicht sogar eine Ente, ha, ha.

Die Mär­chen­schrei­ber waren renom­mier­te und seriö­se Wis­sen­schaft­ler, und die Zei­tung ist ein aner­kann­tes Tage­blatt in Nor­we­gen. Denen glau­be ich das.

Dass du auch immer das letz­te Wort haben musst!

Woher soll ich wis­sen, dass du nichts mehr sagen willst?

M. ver­schwand in der Küche, wahr­schein­lich um etwas für das Essen zu brut­zeln, da woll­te ich mich lie­ber nicht ein­mi­schen, füll­te statt­des­sen Holz in den Ofen. Der Regen begann gegen die Fen­ster­schei­ben zu prasseln.

Die Pfer­de hat man übri­gens wie­der ein­ge­fan­gen. Die Fische erreich­ten den Atlantik.