Auf 120.000 Euro pro Jahr plus einige tausend Euro Zulagen und gute Sitzungsverpflegung darf sich Veronika Grimm als frisch gebackenes Mitglied des Aufsichtsrats der Siemens Energy AG (SEAG) freuen. Ihre Wahl am 26. Februar auf der Hauptversammlung des Konzerns war allerdings holprig: Ungewöhnlich niedrige 76,4 Prozent der nach Anteilen bemessenen Stimmen entfielen auf die Nürnberger Wirtschaftsprofessorin, die bereits einen anderen gut dotierten Nebenjob hat: 33.000 Euro jährlich bekommt sie als Mitglied des fünfköpfigen »Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung«. Deren Vorsitzende, Monika Schnitzer, hatte im Vorfeld in öffentlichen Briefen sowohl an die »liebe Veronika« als auch an den SEAG-Aufsichtsratsvorsitzenden Joe Kaeser gegen die Annahme des Aufsichtsratsmandats argumentiert. Ihr Brief ist mitgezeichnet durch alle anderen vier Mitglieder der oft auch als »Wirtschaftsweisen« bezeichneten Damen und Herren.
Die Einrichtung des Rats war in der entstehenden Bundesrepublik umstritten. Er schien mehreren Kräften zu sehr eine offene Bestätigung der engen Verflechtungen dieser Sphären in dem zu sein, was seitens der DDR als »Staatsmonopolistischer Kapitalismus«, kurz »Stamokap« charakterisiert wurde. Der damals gefundene Kompromiss sah vor, dass in diesem Rat, der offiziell die Bundesregierung in allen Fragen der Wirtschaftspolitik berät, keine Unternehmens- oder Gewerkschaftsvertreter, sondern ausschließlich Professoren vertreten sein sollten. Die Verknüpfung ausgerechnet derjenigen Professorin, die sich innerhalb des Rates auf Fragen der Energiepolitik spezialisiert hat, mit dem führenden deutschen Unternehmen der von der Bundesregierung geplanten Energiewende zerstört – so die Bedenken der Ratsmehrheit – diesen Nimbus der Unabhängigkeit.
Das ist mehr als Futterneid unter Wohlvernetzten. Die SEAG ist ein Paradebeispiel für die Stimmigkeit der Stamokap-Theorie. Das Unternehmen entstand vor vier Jahren durch Abspaltung von Siemens, dessen ehemaliger Vorstandsvorsitzender Kaeser nun der schon genannte Aufsichtsratsvorsitzender der SEAG ist. Das Unternehmen erwirtschaftet dank der Arbeit seiner rund 90.000 Arbeiter und Angestellten einen Jahresumsatz von 27 Milliarden Euro. Ihre Produkte sind zentraler Bestandteil der Energiepolitik des deutschen und europäischen Kapitalismus: Ohne die dort hergestellten Transformatoren, Schaltanlagen, Generatoren, Turbinen und Verdichter gibt es in Deutschland weder Strom noch Gas. In der Öffentlichkeit bekannt wurde das Unternehmen, nachdem die durch die Sanktionspolitik der Bundesregierung behinderte Wartung einer der von SEAG regelmäßig zu überholenden Turbinen von Nord Stream 1 zum Stopp russischer Gaslieferungen im Jahre 2022 beitrug. Politik und Unternehmen sind in diesem Bereich der Ökonomie besonders eng miteinander verzahnt: Um die geschäftlichen Risiken der Energiewende von den Aktionären auf die Steuerzahler abzuwälzen, erbat und erhielt das Unternehmen nach der Installation der neuen Bundesregierung eine Ausfallbürgschaft in Höhe von 7,5 Milliarden Euro.
Ganz leicht werden die 120 Riesen für Frau Grimm dennoch nicht zu verdienen sein. Im Geschäftsjahr 2022/23, das am 30. September endete, schrieb SEAG einen Verlust von 4,6 Milliarden Euro in die Bücher – vor allem wegen erheblicher Verluste im Onshore-Windturbinen-Geschäft, also einem der Kernstücke der Energiewende-Politik des deutschen Wirtschaftsministers. Die FAZ sah denn am 27. Februar auch »Siemens Energy im Gegenwind« und ließ ihre Betrachtungen über die Schwierigkeiten, in denen der Konzern steckt, und den Kraftakt, der notwendig ist, um wieder in die Gewinnzone zu steuern, in dem Satz münden: »Im Aufsichtsrat muss Grimm dazu beitragen, dass dieser Kraftakt bewältigt wird.«
Pikanterweise am selben Tag, an dem so die Bestätigung der Stamokap-Theorie vor aller Welt auch durch die FAZ dokumentiert wurde, widmete dieselbe Zeitung eine ganze Seite dem 80. Geburtstag der antikommunistischen Fibel aller rechten Ökonomen, dem Buch »Der Weg zur Knechtschaft« von Friedrich A. von Hayek, dessen Kernplädoyer darauf hinausläuft, dass sich der Staat aus dem Marktgeschehen rauszuhalten und auch dafür zu sorgen habe, dass Gewerkschaften das freie Spiel der Kräfte nicht stören. Autoren dieses wuchtigen FAZ-Plädoyers für »die liberale Ordnung«: Stefan Kolev, wissenschaftlicher Leiter des Ludwig-Erhard-Forums, Jens Weidmann, Aufsichtsratschef der seit der Finanzkrise 2007 vom Staat über Wasser gehaltenen Commerzbank – und Frau Veronika Grimm.
Die intellektuelle und moralische Schamlosigkeit der herrschenden Ökonomenzunft wird immer hemmungsloser.