Schon in seinem Beststeller Deutschland 1923: Das Jahr am Abgrund hatte sich der Historiker Volker Ullrich davon überzeugt gezeigt, dass der Untergang der Weimarer Republik keineswegs zwangsläufig war: »Sie hatte 1923 eine erstaunliche Überlebensfähigkeit bewiesen, und sie hätte vielleicht auch die noch schwereren Jahre von 1930 bis 1932 überstehen können, wenn an ihrer Spitze ein Mann wie Ebert gestanden hätte, der entschlossen gewesen wäre, die parlamentarische Demokratie mit allen Mitteln zu verteidigen.«
Friedrich Ebert war Reichspräsident von 1919 bis zu seinem Tode am 28. Februar 1925. Er wurde nur 54 Jahre alt. Die vor 1918 regierenden Eliten hatten es nicht verwinden können, schreibt Ullrich in seinem neuen Buch Schicksalsstunden einer Demokratie, dass »ein Mann von bescheidener Herkunft – ein gelernter Sattler und Sozialdemokrat – nunmehr das höchste Amt im Staat bekleidete«. So spiegelte sich in den Nachrufen »die scharfe Polarisierung zwischen den Gegnern und den Verteidigern der Demokratie von Weimar«. Nach einem Wahlkampf, der »mit einer Leidenschaft geführt wurde, wie sie die Republik bislang noch nicht erlebt hatte«, siegte der Kandidat des deutschnationalistischen Reichsblocks, der 77-jährige Pensionär Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg.
Ullrich: »Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten stellte zweifellos einen Einschnitt in der Geschichte der Weimarer Republik dar. Für die vordemokratischen Herrschaftseliten im ostelbischen Großgrundbesitz und der Reichswehr war es von großer Bedeutung, fortan wieder einen Mann an der Spitze des Staates zu wissen, über den sie einen direkten Zugang zur Macht hatten.«
Jetzt rächten sich politische und taktische Fehler sowie Nachlässigkeiten früherer Jahre im Umgang mit Gegnern und Feinden der jungen Demokratie, und so nahm »das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik«, wie der Untertitel des Buches lautet, seinen Lauf, auch weil sich SPD, USPD und KPD unversöhnlich gegenüberstanden.
Ullrich beginnt seine Darstellung der damaligen Gemengelage mit dem »Zauber des Anfangs«, der Revolution von 1918/19, deren Errungenschaften er benennt: den Systemwechsel von der Monarchie zur Republik, die Etablierung einer demokratisch verfassten Staatsordnung, die Garantie der Meinungs- und Pressefreiheit, die Aufhebung der Zensur und der Gesindeordnung, das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen und den Achtstundentag.
Zu den Versäumnissen, die dann zum späteren Scheitern Weimars mit beitrugen, zitiert Ullrich zustimmend den damaligen USPD-Volksbeauftragten Wilhelm Dittmann. Dieser bezeichnete in seinen nach 1933 im Exil geschriebenen Erinnerungen den November 1918 als »unerhört günstigen geschichtlichen Augenblick«, in dem es möglich gewesen wäre, »mit einem gewaltigen Ruck die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung voranzustoßen«. Zum Beispiel durch die Sozialisierung des Steinkohlebergbaus, eine Agrarreform in Ostelbien, die Entlassung von kaiserlichen Spitzenbeamten, eine Demokratisierung der Verwaltung und den Aufbau einer republiktreuen Truppe. Doch es fehlte der Gestaltungswille, »vor allem bei den Mehrheitssozialdemokraten, deren erste Sorge der demokratischen Legitimierung der neuen Verhältnisse galt« (Ullrich), nicht aber gesellschaftlichen Veränderungen hin zu einem soliden und tragfähigen Fundament der neuen Republik.
Solche Weichenstellungen wurden in den nächsten Jahren zunehmend schwieriger, auch weil »viele Feinde der Demokratie in Machtstellungen saßen, von denen aus sie zum Gegenangriff auf die neue Ordnung übergehen konnten«. Zudem war es nicht gelungen, »eine Mehrheit der Bevölkerung dauerhaft für die neue Staatsordnung zu gewinnen«.
Stationen der Herausforderung der Demokratie und ihres Niedergangs – Ullrich beschreibt sie Kapitel für Kapitel – waren: der Kapp-Lüttwitz-Putsch (1920), »der zu einem Rechtsruck im Bürgertum und einem Linksruck in der Arbeiterschaft führte«; der Mord an Reichsaußenminister Walter Rathenau (1922): die Mörder wurden bestraft, während die Hintermänner unbehelligt blieben; die Ruhrbesetzung und die Hyperinflation (1923); der Tod Eberts und die Wahl Hindenburgs (1925); der Bruch der letzten großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller (1930) – dieses Kapitel sollte den momentanen »Ampel«-Koalitionären zur Pflichtlektüre aufgegeben werden –; die Ernennung des Hitler-Gefolgsmanns Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister in Thüringen (1930). Die beiden letzten Wegmarken des Niedergangs der Demokratie sind der Sturz des Reichskanzlers Heinrich Brüning (1932) und die Entmachtung der SPD-geführten Regierung des Freistaats Preußen (1932) durch den Reichskanzler Franz von Papen. Der nächste Reichskanzler hieß Adolf Hitler.
»Demokratien sind fragil. Sie können in eine Diktatur umschlagen. Freiheiten, die fest errungen scheinen, können verspielt werden«, resümiert Ullrich. Die Demokratie stehe weltweit unter Druck, von außen wie von innen. Die Sorge um die Demokratie sei zum Kennzeichen einer neuen historischen Ära geworden.
Weimars Schicksal zeigt, dass in politisch aufgeheizter Stimmung gesellschaftlicher Zusammenhalt unverzichtbar ist. An diesem mangelte es in der Weimarer Republik. An diesem mangelt es auch heute. Und so ist Ullrichs Buch über die Geschehnisse vor einem Jahrhundert von großer Aktualität, denn: »Das Scheitern der Weimarer Republik bleibt ein Lehrstück, wie zerbrechlich eine Demokratie ist und wie rasch die Freiheit verspielt werden kann, wenn die demokratischen Institutionen versagen und die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu schwach sind, um den Verächtern der Demokratie Einhalt zu bieten. Wir haben es in der Hand, ob unsere Demokratie scheitert oder überlebt. Das deutlich zu machen, ist das eigentliche Ziel dieses Buches.«
Volker Ullrich: Schicksalsstunden einer Demokratie – Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik, C.H.Beck, München 2024, 382 S., 26 €. Siehe auch Ossietzky 4/2023, »Demokratie braucht Demokraten« von Klaus Nilius.