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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Fragen, Zweifel, Suche

lich­tung

man­che meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum
Ernst Jandl

 

Wir wol­len erkun­den, ob die Begrif­fe »rechts« oder »links« der kom­ple­xen Wirk­lich­keit noch gerecht wer­den. Ob sie hier und jetzt noch zur Beschrei­bung und Ver­or­tung poli­ti­scher Posi­tio­nen und Hal­tun­gen geeig­net sind? Oder sind sie – jen­seits ihrer ursprüng­li­chen poli­ti­schen Bedeu­tung – im ver­ba­len Kampf­ge­tüm­mel der Gegen­wart so sehr miss­braucht und ver­zehrt wor­den, dass sie nicht ein­mal mehr als Anhalts­punkt für den mar­kier­ten angeb­li­chen poli­ti­schen Inhalt die­nen kön­nen. Eine Beob­ach­tung, die vor allem für den Begriff »rechts« gilt. Denn alles, was nicht »links-grü­ner« Main­stream ist, gilt schnell als »rechts«. Aber was ist »links-grü­ner« Mainstream?

Seit Mona­ten gehen Hun­dert­tau­sen­de »gegen rechts« auf die Stra­ße. Die mei­sten Medi­en jubeln, auch der Kanz­ler oder die Außen­mi­ni­ste­rin. Sie gehen sogar selbst auf die Stra­ße, sie demon­strie­ren mit. »Ich ste­he hier als eine von Tau­sen­den von Pots­da­me­rin­nen und Pots­da­mern, die ein­ste­hen für Demo­kra­tie und gegen alten und neu­en Faschis­mus«, ver­kün­det Anna­le­na Baer­bock am 14. Janu­ar 2024 in der bran­den­bur­gi­schen Landeshauptstadt.

Hat Deutsch­land also aus sei­ner Geschich­te gelernt? Nie wie­der Depor­ta­tio­nen? Nie wie­der die Über­wäl­ti­gung des Rechts­staa­tes? Nie wie­der Aus­gren­zun­gen? Nie wie­der Juden­ster­ne? Nie wie­der Krieg? Was aktu­ell bedeu­tet wür­de: Nie wie­der Abschie­bun­gen in Län­der, in denen die Men­schen­rech­te miss­ach­tet wer­den. Kei­ne Finan­zie­rung mehr für die Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex und deren Zusam­men­ar­beit mit den liby­schen Fol­ter­knech­ten. Kei­ne Haft­la­ger an Euro­pas Außen­gren­zen. Und kein Demo­kra­tie­för­de­rungs­ge­setz, mit dem die Ver­höh­nung des Staa­tes auch »jen­seits der Straf­bar­keits­gren­ze« unter Stra­fe gestellt wer­den soll. Eben­so Mei­nungs­frei­heit für alle, auch für »Coro­na-Maß­nah­men-Kri­ti­ker«, »Quer­den­ker«, »Putin-Ver­ste­her« oder für die Kri­ti­ke­rin­nen des Selbst­be­stim­mungs­ge­set­zes. Und nie wie­der Angrif­fe auf Juden an deut­schen Uni­ver­si­tä­ten. Oder Brand­an­schlä­ge auf Synagogen.

Gehen die Demon­stran­ten dafür auf die Stra­ße? Kämp­fen die Demon­stran­ten »gegen rechts« tat­säch­lich für unge­teil­te Men­schen­rech­te, für eine demo­kra­ti­sche Gesell­schaft ohne digi­ta­le Block­war­te, für Respekt gegen­über ande­ren Posi­tio­nen, für den Rechts­staat? Oder sind ihre Demon­stra­tio­nen nur eine Art Gut­men­schen-Schau­lau­fen, bei dem sich die Teil­neh­mer an ihrer rich­ti­gen Gesin­nung berau­schen – mit dem war­men selbst­zu­frie­de­nen Gefühl, zu den Gerech­ten zu gehö­ren, weil sie ja gegen die AfD sind. Machen die Demon­stran­ten »gegen rechts« und »für Demo­kra­tie« also vor allem Wahl­kampf für die SPD und die Grü­nen – zwei Par­tei­en, die für die dra­ma­ti­schen Ver­schär­fun­gen des Asyl­rech­tes, für die unge­heu­re Mili­ta­ri­sie­rung der Gesell­schaft oder für den Ent­wurf des unde­mo­kra­ti­schen »Demo­kra­tie­för­de­rungs­ge­set­zes« (mit) ver­ant­wort­lich sind?

Das Links-Rechts-Sche­ma geht histo­risch auf die Zeit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on und die Sitz­ver­tei­lung in der Fran­zö­si­schen Natio­nal­ver­samm­lung zurück. In den fran­zö­si­schen Gene­ral­stän­den saßen links vom König die radi­ka­len Demo­kra­ten und ihre Sym­pa­thi­san­ten. Rechts saßen Anhän­ger des Kle­rus und der Ari­sto­kra­tie. Die­se sehr ver­ein­fach­te Unter­schei­dung zwi­schen lin­ken, fort­schritt­li­chen und rech­ten, kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten setz­te sich durch, um poli­ti­sche Gegen­sät­ze zu beschreiben.

Die Sitz­ord­nun­gen haben sich über die Frank­fur­ter Natio­nal­ver­samm­lung in der Pauls­kir­che bis in den Bun­des­tag erhal­ten: Ganz links – vom Red­ner­pult aus betrach­tet – sitzt »Die Lin­ke«, rechts außen die AfD, halb links die SPD, halb rechts die Uni­on. Dazwi­schen die Grü­nen und – erst seit 2021 – die FDP (die jahr­zehn­te­lang ganz rechts geses­sen hat­te). Der ein­sti­ge FDP-Chef Erich Men­de und auch der frü­he­re CDU-Gene­ral­se­kre­tär Hei­ner Geiß­ler spra­chen spöt­tisch bis abfäl­lig von »poli­ti­scher Gesä­ß­geo­gra­fie«. Aber sit­zen die Par­tei­en so wie sie poli­tisch ticken?

Für den 2004 ver­stor­be­nen ita­lie­ni­schen Phi­lo­so­phen Nor­ber­to Bob­bio ist die For­de­rung nach Gleich­heit ein wesent­li­ches Moment der lin­ken Bewe­gung. Die Nega­ti­on der Gleich­heit (und Gleich­wer­tig­keit) aber sei ein wesent­li­ches Moment der Rechten.

Ja! Doch hilft uns die­se Defi­ni­ti­on gegen die extre­mi­sti­sche Mit­te wei­ter, die Deutsch­land und Euro­pa domi­niert? Was ist lin­ke und was rech­te Poli­tik? Und ist links hier bes­ser als rechts?

Fort­schritt­lich­keit gilt als links, aber ist die For­de­rung nach gesell­schaft­li­chem Wan­del per se fort­schritt­lich, also links – und ist der Wunsch, Tra­di­tio­nen zu bewah­ren, per se rechts? Oder viel­leicht eher links?

War die DDR, der »sozia­li­sti­sche Staat der Arbei­ter und Bau­ern«, der den Anti­fa­schis­mus zur Staats­dok­trin erho­ben hat, links? Und die kapi­ta­li­sti­sche Bun­des­re­pu­blik, in der zahl­lo­se Alt­na­zis an den Schalt­he­beln der Macht saßen, rechts?

Nei­gen Lin­ke zu erzie­he­ri­schen Zwangs­maß­nah­men und Rech­te zum Recht des Stärkeren?

Die Lage ist ver­wor­ren. Ist sie das?

Unter den Men­schen, die wütend gegen die Coro­na-Poli­tik auf die Stra­ße gin­gen und die des­halb pau­schal als »rechts­ra­di­kal« bezeich­net wur­den, gab es vie­le, die in der »lin­ken« Geflüch­te­ten-Hil­fe arbeiten.

Unter den Men­schen, die die Migra­ti­on dra­stisch beschrän­ken wol­len, gibt es vie­le, die mehr sozia­le Gerech­tig­keit, mehr Gleich­heit fordern.

»Quer­den­ker« sind rechts? Und Zwangs­maß­nah­men für Gesund­heit und »Kli­ma­schutz« sind links?

Ist der­je­ni­ge rechts, der Brat­wür­ste liebt und sein Auto und deut­sche Schla­ger? Und sind die­je­ni­gen rechts, die nicht glau­ben, dass der Wan­del des Kli­mas durch Elek­tro­au­tos oder die kost­spie­li­ge Umrü­stung von Hei­zun­gen auf­zu­hal­ten ist?

Sind die Stra­ßen­blocka­den der Kli­makle­ber links, aber die Pro­te­ste der Bau­ern – wie pene­trant behaup­tet – von rechts unter­wan­dert? Ist Gas aus Katar links und Gas aus Russ­land neu­er­dings rechts? Sind die vom Staat groß­zü­gig gefor­der­ten Lasten­fahr­rä­der links und ist der Pro­test gegen den stän­di­gen Abbau von Park­plät­zen rechts?

Sind die neu­en sei­ten­lan­gen Behör­den­vor­schrif­ten für sen­si­ble Spra­che links und ist das Pfei­fen eines Bau­ar­bei­ters hin­ter einem hüb­schen Mäd­chen sexi­stisch, also nach heu­ti­gem Ver­ständ­nis rechts?

Und ist es links, von einem Land zu träu­men, »in dem es auf Tik­Tok kei­ne Rech­ten (mehr) gibt«, wie es Emi­lia Fester, Ham­bur­ger Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te der Grü­nen, for­mu­liert? Also ein Land mit nur einer Mei­nung, die der neu­en »Lin­ken«?

Aber wer ist über­haupt rechts. Und wer legt das fest?

Außer der Lin­ken, die sich ger­ne und häu­fig als links bezeich­net, stre­ben alle ande­ren Par­tei­en in die Mit­te. Nie­mand will links und vor allem nicht rechts sein. Die CDU bezeich­net sich als »Volks­par­tei der Mit­te« und Par­tei­chef Fried­rich Merz beschrieb sei­ne Par­tei im Juli 2023 als »libe­ral«, »christ­lich-sozi­al« und »kon­ser­va­tiv«. Im CSU-Pro­gramm ist von einer »auf christ­li­chen Wer­ten basie­ren­den bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ven, frei­heit­li­chen Hal­tung« die Rede. Die SPD nennt sich in ihrem Ham­bur­ger Grund­satz­pro­gramm von 2007 zwar noch eine »lin­ke Volks­par­tei« und stellt sich in die Tra­di­ti­on des »demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus«. Im Wahl­pro­gramm zur Bun­des­tags­wahl 2021 ver­zich­te­te die SPD aller­dings auf die­se Begriffe.

Die FDP wie­der­um posi­tio­niert sich in ihrem Grund­satz­pro­gramm in der Mit­te und als »Par­tei der Frei­heit«. Die Grü­nen schließ­lich mei­den in ihrem Pro­gramm eine Ver­or­tung im Links-Rechts-Sche­ma, sehen sich aber als »füh­ren­de pro­gres­si­ve Kraft in die­sem Land«. Und die AfD behaup­tet in ihrem Pro­gramm: »Wir sind Libe­ra­le und Kon­ser­va­ti­ve. Wir sind freie Bür­ger unse­res Landes.«

Alle wol­len ein Teil der »Mit­te« sein, »rechts« will nie­mand ste­hen, zumin­dest nicht expli­zit, weil »rechts« histo­risch vor­be­la­stet ist und schnell als »rechts­ra­di­kal« oder »rechts­extrem« gel­ten kann. Umso lei­den­schaft­li­cher wer­den stö­ren­de Mei­nun­gen auf allen Sei­ten als »rechts« denun­ziert und beschimpft: »Rech­te Frie­dens­de­mon­stran­ten«, »rech­te Bau­ern­pro­te­ste«, »rech­te Fortschrittsverweigerer«.

Dabei rücken die Par­tei­en, die stän­dig vor einem Rechts­ruck war­nen, selbst immer mehr nach rechts, wer­den zuneh­mend frem­den­feind­lich. Um sich so Stim­men von der AfD zurück­zu­ho­len? Oder ist der wahl­tak­ti­sche Ver­weis auf die AfD nur eine Art Ali­bi für die eige­nen Sehn­süch­te nach Abschot­tung und Militarisierung?

Kann wer »gegen rechts« ist, selbst rechts sein? Offenbar.

Wenn wir uns unter der Über­schrift »Was ist links? Was ist rechts?« auf gründ­li­che Erkun­dun­gen ein­las­sen, sind wir schnell mit­ten­drin in den gro­ßen The­men und Fra­ge­stel­lun­gen: Die (teil­wei­se ent­setz­li­che) Geschich­te der Lin­ken, die blu­ti­ge Geschich­te der mit Kro­ne, Kir­che und Mili­tär ver­bun­de­nen Rech­ten und die Geschich­te des Rechts­ra­di­ka­lis­mus; die Schnitt­men­gen zwi­schen lin­ken und rech­ten Bewe­gun­gen. Wen meint der poli­ti­sche Kampf­be­griff »Links­fa­schis­mus« und gibt es ihn tat­säch­lich? Was steckt hin­ter der hie­si­gen infla­tio­nä­ren Nut­zung des Begrif­fes »Faschis­mus«? Wird er inzwi­schen – los­ge­löst von wis­sen­schaft­lich-poli­ti­schen Defi­ni­tio­nen – nur noch als Hass-Begriff gegen von Lin­ken miss­bil­lig­te Poli­tik miss­braucht, um so den poli­ti­schen Geg­ner zu brand­mar­ken? Und dient der Begriff »Anti­fa­schis­mus« vor allem der Selbst­sti­li­sie­rung als Wider­stands­kämp­fer? Müs­sen wir Deutsch­land, Euro­pa, die Welt »gegen rechts« ver­tei­di­gen – oder eher gegen die immer extre­mi­sti­scher wer­den­de »Mit­te«, das »demo­kra­ti­sche« Sam­mel­becken hin­ter der »Brand­mau­er«. Sind Demo­kra­tie und Kapi­ta­lis­mus kom­pa­ti­bel? Wer stellt wie erneut die Klas­sen­fra­ge? Und gibt es links oder rechts Stra­te­gien gegen die dro­hen­de digi­ta­le Dik­ta­tur? Was ler­nen wir aus der Geschich­te der sozia­len Bewe­gun­gen und wo fin­den wir sie heu­te? Sind es viel­leicht die Gelb­we­sten oder die Bau­ern­pro­te­ste? Oder etwa der Vega­nis­mus? War­um hat die Lin­ke so sehr an Bedeu­tung ver­lo­ren oder sind die Wah­len in Frank­reich der Gegen­be­weis zum Bedeu­tungs­ver­lust? Was ist aber heu­te links? Die Kli­ma- oder die Iden­ti­täts­po­li­tik, deren Prot­ago­ni­sten mit ihrer Ver­ach­tung und ihrem Erzie­hungs­ton gegen­über der brei­ten Mas­se den Zulauf zur AFD beför­dern? Ist es links, zum Boy­kott israe­li­scher Pro­duk­te aufzurufen?

Fra­gen und Stich­wor­te, die bei wei­tem nicht voll­stän­dig sind. Die aber deut­lich machen, wie groß und kom­pli­ziert das Feld ist, auf das wir uns mit dem The­ma des Hef­tes bege­ben haben.

Wir hät­ten ein Buch schrei­ben kön­nen, aber unter den Bedin­gun­gen die­ser klei­nen »Zwei­wo­chen­schrift« müs­sen wir uns eben mit einer klei­nen Samm­lung von Ant­wor­ten und Gedan­ken­an­stö­ßen begnü­gen. Was nicht heißt, dass wir nicht gemein­sam wei­ter nach­den­ken, wei­ter ana­ly­sie­ren und wei­ter nach Ant­wor­ten suchen wer­den. Und suchen müs­sen. Zer­split­te­rung schwächt den Ein­satz für eine gerech­te, soli­da­ri­sche, fried­li­che Welt.

Ausgabe 15.16/2024