lichtung
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum
Ernst Jandl
Wir wollen erkunden, ob die Begriffe »rechts« oder »links« der komplexen Wirklichkeit noch gerecht werden. Ob sie hier und jetzt noch zur Beschreibung und Verortung politischer Positionen und Haltungen geeignet sind? Oder sind sie – jenseits ihrer ursprünglichen politischen Bedeutung – im verbalen Kampfgetümmel der Gegenwart so sehr missbraucht und verzehrt worden, dass sie nicht einmal mehr als Anhaltspunkt für den markierten angeblichen politischen Inhalt dienen können. Eine Beobachtung, die vor allem für den Begriff »rechts« gilt. Denn alles, was nicht »links-grüner« Mainstream ist, gilt schnell als »rechts«. Aber was ist »links-grüner« Mainstream?
Seit Monaten gehen Hunderttausende »gegen rechts« auf die Straße. Die meisten Medien jubeln, auch der Kanzler oder die Außenministerin. Sie gehen sogar selbst auf die Straße, sie demonstrieren mit. »Ich stehe hier als eine von Tausenden von Potsdamerinnen und Potsdamern, die einstehen für Demokratie und gegen alten und neuen Faschismus«, verkündet Annalena Baerbock am 14. Januar 2024 in der brandenburgischen Landeshauptstadt.
Hat Deutschland also aus seiner Geschichte gelernt? Nie wieder Deportationen? Nie wieder die Überwältigung des Rechtsstaates? Nie wieder Ausgrenzungen? Nie wieder Judensterne? Nie wieder Krieg? Was aktuell bedeutet würde: Nie wieder Abschiebungen in Länder, in denen die Menschenrechte missachtet werden. Keine Finanzierung mehr für die Grenzschutzagentur Frontex und deren Zusammenarbeit mit den libyschen Folterknechten. Keine Haftlager an Europas Außengrenzen. Und kein Demokratieförderungsgesetz, mit dem die Verhöhnung des Staates auch »jenseits der Strafbarkeitsgrenze« unter Strafe gestellt werden soll. Ebenso Meinungsfreiheit für alle, auch für »Corona-Maßnahmen-Kritiker«, »Querdenker«, »Putin-Versteher« oder für die Kritikerinnen des Selbstbestimmungsgesetzes. Und nie wieder Angriffe auf Juden an deutschen Universitäten. Oder Brandanschläge auf Synagogen.
Gehen die Demonstranten dafür auf die Straße? Kämpfen die Demonstranten »gegen rechts« tatsächlich für ungeteilte Menschenrechte, für eine demokratische Gesellschaft ohne digitale Blockwarte, für Respekt gegenüber anderen Positionen, für den Rechtsstaat? Oder sind ihre Demonstrationen nur eine Art Gutmenschen-Schaulaufen, bei dem sich die Teilnehmer an ihrer richtigen Gesinnung berauschen – mit dem warmen selbstzufriedenen Gefühl, zu den Gerechten zu gehören, weil sie ja gegen die AfD sind. Machen die Demonstranten »gegen rechts« und »für Demokratie« also vor allem Wahlkampf für die SPD und die Grünen – zwei Parteien, die für die dramatischen Verschärfungen des Asylrechtes, für die ungeheure Militarisierung der Gesellschaft oder für den Entwurf des undemokratischen »Demokratieförderungsgesetzes« (mit) verantwortlich sind?
Das Links-Rechts-Schema geht historisch auf die Zeit der Französischen Revolution und die Sitzverteilung in der Französischen Nationalversammlung zurück. In den französischen Generalständen saßen links vom König die radikalen Demokraten und ihre Sympathisanten. Rechts saßen Anhänger des Klerus und der Aristokratie. Diese sehr vereinfachte Unterscheidung zwischen linken, fortschrittlichen und rechten, konservativen Kräften setzte sich durch, um politische Gegensätze zu beschreiben.
Die Sitzordnungen haben sich über die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche bis in den Bundestag erhalten: Ganz links – vom Rednerpult aus betrachtet – sitzt »Die Linke«, rechts außen die AfD, halb links die SPD, halb rechts die Union. Dazwischen die Grünen und – erst seit 2021 – die FDP (die jahrzehntelang ganz rechts gesessen hatte). Der einstige FDP-Chef Erich Mende und auch der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler sprachen spöttisch bis abfällig von »politischer Gesäßgeografie«. Aber sitzen die Parteien so wie sie politisch ticken?
Für den 2004 verstorbenen italienischen Philosophen Norberto Bobbio ist die Forderung nach Gleichheit ein wesentliches Moment der linken Bewegung. Die Negation der Gleichheit (und Gleichwertigkeit) aber sei ein wesentliches Moment der Rechten.
Ja! Doch hilft uns diese Definition gegen die extremistische Mitte weiter, die Deutschland und Europa dominiert? Was ist linke und was rechte Politik? Und ist links hier besser als rechts?
Fortschrittlichkeit gilt als links, aber ist die Forderung nach gesellschaftlichem Wandel per se fortschrittlich, also links – und ist der Wunsch, Traditionen zu bewahren, per se rechts? Oder vielleicht eher links?
War die DDR, der »sozialistische Staat der Arbeiter und Bauern«, der den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben hat, links? Und die kapitalistische Bundesrepublik, in der zahllose Altnazis an den Schalthebeln der Macht saßen, rechts?
Neigen Linke zu erzieherischen Zwangsmaßnahmen und Rechte zum Recht des Stärkeren?
Die Lage ist verworren. Ist sie das?
Unter den Menschen, die wütend gegen die Corona-Politik auf die Straße gingen und die deshalb pauschal als »rechtsradikal« bezeichnet wurden, gab es viele, die in der »linken« Geflüchteten-Hilfe arbeiten.
Unter den Menschen, die die Migration drastisch beschränken wollen, gibt es viele, die mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Gleichheit fordern.
»Querdenker« sind rechts? Und Zwangsmaßnahmen für Gesundheit und »Klimaschutz« sind links?
Ist derjenige rechts, der Bratwürste liebt und sein Auto und deutsche Schlager? Und sind diejenigen rechts, die nicht glauben, dass der Wandel des Klimas durch Elektroautos oder die kostspielige Umrüstung von Heizungen aufzuhalten ist?
Sind die Straßenblockaden der Klimakleber links, aber die Proteste der Bauern – wie penetrant behauptet – von rechts unterwandert? Ist Gas aus Katar links und Gas aus Russland neuerdings rechts? Sind die vom Staat großzügig geforderten Lastenfahrräder links und ist der Protest gegen den ständigen Abbau von Parkplätzen rechts?
Sind die neuen seitenlangen Behördenvorschriften für sensible Sprache links und ist das Pfeifen eines Bauarbeiters hinter einem hübschen Mädchen sexistisch, also nach heutigem Verständnis rechts?
Und ist es links, von einem Land zu träumen, »in dem es auf TikTok keine Rechten (mehr) gibt«, wie es Emilia Fester, Hamburger Bundestagsabgeordnete der Grünen, formuliert? Also ein Land mit nur einer Meinung, die der neuen »Linken«?
Aber wer ist überhaupt rechts. Und wer legt das fest?
Außer der Linken, die sich gerne und häufig als links bezeichnet, streben alle anderen Parteien in die Mitte. Niemand will links und vor allem nicht rechts sein. Die CDU bezeichnet sich als »Volkspartei der Mitte« und Parteichef Friedrich Merz beschrieb seine Partei im Juli 2023 als »liberal«, »christlich-sozial« und »konservativ«. Im CSU-Programm ist von einer »auf christlichen Werten basierenden bürgerlich-konservativen, freiheitlichen Haltung« die Rede. Die SPD nennt sich in ihrem Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 zwar noch eine »linke Volkspartei« und stellt sich in die Tradition des »demokratischen Sozialismus«. Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 verzichtete die SPD allerdings auf diese Begriffe.
Die FDP wiederum positioniert sich in ihrem Grundsatzprogramm in der Mitte und als »Partei der Freiheit«. Die Grünen schließlich meiden in ihrem Programm eine Verortung im Links-Rechts-Schema, sehen sich aber als »führende progressive Kraft in diesem Land«. Und die AfD behauptet in ihrem Programm: »Wir sind Liberale und Konservative. Wir sind freie Bürger unseres Landes.«
Alle wollen ein Teil der »Mitte« sein, »rechts« will niemand stehen, zumindest nicht explizit, weil »rechts« historisch vorbelastet ist und schnell als »rechtsradikal« oder »rechtsextrem« gelten kann. Umso leidenschaftlicher werden störende Meinungen auf allen Seiten als »rechts« denunziert und beschimpft: »Rechte Friedensdemonstranten«, »rechte Bauernproteste«, »rechte Fortschrittsverweigerer«.
Dabei rücken die Parteien, die ständig vor einem Rechtsruck warnen, selbst immer mehr nach rechts, werden zunehmend fremdenfeindlich. Um sich so Stimmen von der AfD zurückzuholen? Oder ist der wahltaktische Verweis auf die AfD nur eine Art Alibi für die eigenen Sehnsüchte nach Abschottung und Militarisierung?
Kann wer »gegen rechts« ist, selbst rechts sein? Offenbar.
Wenn wir uns unter der Überschrift »Was ist links? Was ist rechts?« auf gründliche Erkundungen einlassen, sind wir schnell mittendrin in den großen Themen und Fragestellungen: Die (teilweise entsetzliche) Geschichte der Linken, die blutige Geschichte der mit Krone, Kirche und Militär verbundenen Rechten und die Geschichte des Rechtsradikalismus; die Schnittmengen zwischen linken und rechten Bewegungen. Wen meint der politische Kampfbegriff »Linksfaschismus« und gibt es ihn tatsächlich? Was steckt hinter der hiesigen inflationären Nutzung des Begriffes »Faschismus«? Wird er inzwischen – losgelöst von wissenschaftlich-politischen Definitionen – nur noch als Hass-Begriff gegen von Linken missbilligte Politik missbraucht, um so den politischen Gegner zu brandmarken? Und dient der Begriff »Antifaschismus« vor allem der Selbststilisierung als Widerstandskämpfer? Müssen wir Deutschland, Europa, die Welt »gegen rechts« verteidigen – oder eher gegen die immer extremistischer werdende »Mitte«, das »demokratische« Sammelbecken hinter der »Brandmauer«. Sind Demokratie und Kapitalismus kompatibel? Wer stellt wie erneut die Klassenfrage? Und gibt es links oder rechts Strategien gegen die drohende digitale Diktatur? Was lernen wir aus der Geschichte der sozialen Bewegungen und wo finden wir sie heute? Sind es vielleicht die Gelbwesten oder die Bauernproteste? Oder etwa der Veganismus? Warum hat die Linke so sehr an Bedeutung verloren oder sind die Wahlen in Frankreich der Gegenbeweis zum Bedeutungsverlust? Was ist aber heute links? Die Klima- oder die Identitätspolitik, deren Protagonisten mit ihrer Verachtung und ihrem Erziehungston gegenüber der breiten Masse den Zulauf zur AFD befördern? Ist es links, zum Boykott israelischer Produkte aufzurufen?
Fragen und Stichworte, die bei weitem nicht vollständig sind. Die aber deutlich machen, wie groß und kompliziert das Feld ist, auf das wir uns mit dem Thema des Heftes begeben haben.
Wir hätten ein Buch schreiben können, aber unter den Bedingungen dieser kleinen »Zweiwochenschrift« müssen wir uns eben mit einer kleinen Sammlung von Antworten und Gedankenanstößen begnügen. Was nicht heißt, dass wir nicht gemeinsam weiter nachdenken, weiter analysieren und weiter nach Antworten suchen werden. Und suchen müssen. Zersplitterung schwächt den Einsatz für eine gerechte, solidarische, friedliche Welt.