Stellen wir uns vor, ein Mitglied des Bundesverfassungsgerichts hisst am Fahnenmast seines Privathauses die Reichskriegsflagge und soll später über ein Verfahren gegen die AfD mitentscheiden. Zugegeben, ziemlich weit hergeholt. Aber in dem Land, das den Deutschen lange als Hort der Demokratie galt und das maßgeblich zur Installierung unseres Nachkriegswertesystems beigetragen haben soll, ist etwas vielleicht Vergleichbares gerade öffentlich gemacht worden.
Wie die New York Times berichtet, flatterte am Privathaus von Samuel Alito, einem der konservativsten Mitglieder des US Supreme Courts, im Januar 2023 kurzzeitig eine Flagge, die Fachleute mit einer rechtsextremen Bewegung in den USA in Verbindung bringen. Diese hatte nach den Präsidentschaftswahlen von 2020 die Mär von der »gestohlenen Wahl« massiv verbreitet. Ihre Flagge, die eine umgekehrte amerikanische Flagge ist, war ursprünglich militärisch als Signal um Hilfe genutzt worden. Prominent war sie dann aber beim Sturm auf das Capitol vom 6. Januar 2021 vielfach aufgetaucht.
Später recherchierte die New York Times, dass auch an einem weiteren Anwesen der Familie Alito eine andere Flagge, die sog. »Appeal to Heaven«-Flagge aufgetaucht war. Sie stammt aus dem konservativ-christlichen Milieu und wurde ebenfalls beim Sturm auf das Capitol verwendet.
Alito äußerte sich zunächst nur zum ersten »Fund« und erklärte, seine Ehefrau habe die Flagge kurzzeitig als Antwort auf Streitigkeiten mit einer Nachbarfamilie, die sich sehr kritisch über Donald Trump geäußert hätte, aufgezogen. Inzwischen scheint sich nach weiteren Recherchen der New York Times herausgestellt zu haben, dass diese Streitigkeiten sehr viel später stattfanden als das Aufziehen der Flagge. Bei der zweiten Flagge erklärte Alito nunmehr gegenüber demokratischen Kongressabgeordneten, seine Frau sei einfach ein Flaggenfan.
Brisant wird dieser Vorfall durch die zwei vor dem Supreme Court anstehenden Entscheidungen, die mit Donald Trump zusammenhängen. In nächster Zeit muss das Gericht darüber urteilen, ob der Ex-Präsident tatsächlich am 6. Januar 2021 zum Sturm auf das Capitol aufgerufen hat.
Samuel Alito wurde von Präsident George W. Bush im Jahre 2006 zum Richter am höchsten US-Gericht ernannt und gilt mit seinen stark konservativen Einstellungen, die er nie verhehlt hat, als eine der treibenden Kräfte hinter dem Abtreibungsurteil von 2022, mit dem das Gericht bundesgesetzliche Regelungen zur Abtreibung für verfassungswidrig erklärt hatte.
Wie in den USA kaum noch anders zu erwarten, gehen die Meinungen auch bei diesem Vorfall diametral auseinander. Konservative Medien halten das Ganze für eine völlig aufgeblasene Story ohne jede Relevanz für das Amt des 74jährigen Richters. Viele Juristinnen und Juristen sowie sogar der erzkonservative Senator Lindsey Graham äußerten allerdings, Alito müsse sich von den anstehenden Verfahren, die Donald Trump betreffen, wegen eigener Befangenheit zurückziehen. Das hat er bisher abgelehnt. Besonders pikant ist das Ganze, weil der Supreme Court sich gerade Ende letzten Jahres einen Verhaltenskodex für seine Mitglieder gegeben hatte, um dem bösen Schein der Befangenheit zu begegnen, was unter anderem auf von reichen republikanerfreundlichen Sponsoren finanzierte Reisen für Alito zurückgeht.
Wie ist nun die von Alito vorgebrachte »Verteidigung«, das Ganze gehe auf die beste aller Ehefrauen zurück, zu bewerten? Sippenhaft kennen weder das amerikanische noch das deutsche Recht. Aber kann dem treuen Ehemann Alito tatsächlich die offensichtliche Sympathie seiner Ehefrau für als rechtsradikal eingeschätzte Gruppierungen verborgen geblieben sein, und hätte er da nicht im Interesse seiner eigenen Position einschreiten müssen? Sollten in den Verfahren gegen Alito Befangenheitsanträge gestellt werden, wird sich die Restmannschaft des Supreme Court damit auseinanderzusetzen haben.
Abschließend noch einmal zurück zu unserem fiktiven Eingangsfall. Er liegt etwas anders; denn das Zeigen der Reichskriegsflagge ist, wenn dazu noch ein Hakenkreuz kommt, nach § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafbar. Das gilt allerdings nicht für eine »einfache« Reichskriegsflagge. Sie soll aber auf Grund der allgemeinen Symbolik eine Ordnungswidrigkeit nach § 118 des Ordnungswidrigkeitengesetzes darstellen. Das sieht ein Bußgeld vor, wenn eine »grob ungebührliche Handlung geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen«. Die Innenministerinnen und -minister von Bund und Ländern haben das mit der Begründung bejaht, dass solche Reichskriegsflaggen auch bei dem Sturm auf den Bundestag im August 2020 gezeigt worden seien. Das dürfte jedenfalls ausreichen, um den fiktiven richterlichen Flaggenfan des BVerfG als befangen anzusehen.
Flagge zeigen mag gut sein. Aber es muss die richtige sein!
Der Autor war viele Jahre Vorsitzender Richter am Bremer Landgericht.