»Was gibt’s denn heute Gutes, Alter?« Volker klopft ein paar Schneeflocken vom Ärmel und zieht die Tür hinter sich zu. Aus der Kälte kommend, genießt er die Wärme der Krankenhausküche.
Volker ist heute ein paar Minuten früher zum Krankenhaus gefahren, hat den Kombi mitten in der Lieferanteneinfahrt geparkt, die Warmhaltekästen für das »Essen auf Rädern« entladen und im Eingangsbereich der Küche gestapelt. Dietmar, der Zivildienstleistende des Krankenhauses ist gerade dabei, die Aluschachteln mit den Mahlzeiten luftdicht zu verschließen.
»Na, sag schon!«, stößt Volker ihm den Ellbogen in die Seite. »Gibt›s zur Feier des Tages kulinarische Hochgenüsse a la Kempinski oder bloß euren ständigen Einheitspapp?«
»Red nicht, pack das Festmenü ein, bevor es kalt wird. Lecker wie immer und leicht bekömmlich: gedünstete Forelle, gesunder Feldsalat, köstliche Petersilienkartoffeln. Zitronencreme zum Nachtisch, sogar Kuchen, stell dir vor! Heute hast du aber nur halb so viele Portionen auszuliefern.«
»Stell dir vor!«, grinst Volker. »Ich will schließlich was von Weihnachten haben und die alten Herrschaften auch! Einige von unseren Kunden sind über die Festtage zu ihren Kindern gefahren oder anderswo untergekommen. Da kochen zur Feier des Tages die lieben Verwandten. Für die Alten freut es mich, mein Bester. Wenn ich an euer schlappes Essen denke!«
»Halt die Luft an, Volker. Unsere alten Leutchen brauchen leichte Kost, und an einem Tag wie heute ist unser Menü wirklich nicht von Pappe. Fast hätte ich mich verzählt, alte Rübe! Dreiundzwanzig, vierundzwanzig. So das wars, Kumpel. Kannst losdüsen mit deinem Donnerofen. Und schöne Weihnachten auch.«
Vor der engen Kurve in Langschede hätte er früher zurückschalten, auf der schmalen Ruhrbrücke besser auf den Gegenverkehr achten müssen. Dabei hatten sie im Radio vor Glatteis gewarnt. Die Karre schlingert, Volker kriegt sie gerade noch zurück in die Spur. Egal, Volker will die Tour möglichst rasch hinter sich bringen, am Nachmittag gleich wieder zu Sonja, die endlich sturmfreie Bude hat, nachdem ihre Eltern zum Weihnachtsurlaub in die Karibik geflogen sind.
Eine tolle Sache, Weihnachten ohne das öde »Herumgesülze« mit der Familie, das Volker nur anstinkt und nervt. Allein mit Sonja, da hätte er auf den Zivildienst liebend gern verzichten können, auch wenn heute das Ausliefern von ein paar Portionen »Essen auf Rädern« seine einzige Aufgabe ist.
Die Geschäftsführerin des Caritas-Verbandes hatte ihn ermahnt, wenigstens heute den weißen Kittel anzubehalten und ordentlich zuzuknöpfen. Schlimm genug, dass er ständig in verwaschenen, ausgefransten Jeans herumlaufe, hatte sie gestern gemosert.
»Denken sie daran, Herr Döttkes, für jeden unserer alten Menschen ein liebes Wort, die Weihnachtskarte und unser kleines Präsent zum Fest. Gerade am Heiligen Abend haben die oft keinen, der sich um sie kümmert. Außer uns natürlich. Eine verantwortungsvolle Aufgabe, die sie übernommen haben.«
Als ob ihm das nicht längst klar gewesen wäre. Dabei hatte er sich für den Zivildienst nur entschieden, weil er etwas dagegen hatte, kaserniert zu werden.
Auf dem Weg zurück in die Kreisstadt sieht er, dass er gut in der Zeit liegt. Nur der alte Otto Bramberger in der Mühlenstraße hatte ihn länger aufgehalten, wie so oft von seiner Tochter erzählt, die seit fünfunddreißig Jahren in den Staaten lebte. »Nun hocke ich noch immer hier und werde sechsundneunzig nächstes Jahr. Aber in ein Altersheim kriegt ihr mich nicht.« Dann hatte er Volker einen zerknüllten Zwanziger in die Hand gedrückt. »Dass du nicht zum Militär gehst, ist schon in Ordnung, Junge. Aber deshalb bauen die keinen Panzer weniger. Mir alten Mann soll es egal sein. Aufpassen müsst ihr Jungen, dass es nicht eines Tages wieder zu spät ist und die wieder angefangen mit dem ganzen Mist. Ich hab das alles mitgemacht. Zwei Mal, mein Junge, zwei Mal Mord und Totschlag an Millionen.«
Schneefall hat eingesetzt. Volker biegt in die Einfahrt zur Caritas-Geschäftsstelle, parkt den Kombi unter dem Carport. Im Haus brennt noch Licht. Egal, nichts wie weg! Ab zu Sonja. Die wartet schon!
Das Türschloss seiner Ente ist vereist. Mit klammen Fingern sucht er das Feuerzeug in der Kitteltasche, als ein Fenster der Dienststelle geöffnet wird. Verdammt, schon wieder Pietschmann, dieser miese Typ, der ständig herumkommandiert, meckert und kontrolliert. Der hat ihm jetzt noch gefehlt.
Tatsächlich, Pietschmann steckt den feisten Kopf aus dem Fenster, grinst dämlich, winkt ihn heran. »Sie müssen noch mal kurz ins Krankenhaus fahren. Noch ne Portion Essen holen! Die Küche weiß Bescheid. Machen Sie ausnahmsweise mal ein bisschen fix. Zu Hause wartet meine Familie. Ist noch einiges vorzubereiten. Also Döttkes, dalli, zack, zack.«
Eine eingeschweißte Portion Mittagessen, dazu ein Paket Schnitten und eine Kanne Tee stehen auf der Anrichte neben der Küchentür. »Hattest du heute Mittag nicht genug? Vielleicht verzählt, oder was?« Dietmar, der öde Krankenhauszivi, der am liebsten nur im Heizungsraum sitzt, nervt wie immer.
»Hab auch keine Ahnung, was das soll«, zuckt Dietmar die Schultern. »Auftrag von Schweinebacke Pietschmann. Du sollst damit wieder zur Geschäftsstelle zurück. Wahrscheinlich will das feiste Schwein alles selber fressen.«
Frühe Dämmerung, trübes Licht. Tierischer Verkehr. Glatteis und Neuschnee. Dietmar in seiner Krankenhausküche, in seinem warmen Keller, kriegte davon natürlich nichts mit. Für heute reichte es Volker. Sonja und sturmfreie Bude, das allein zählte.
Erneut parkt er den Wagen unter dem Carport, schnappt sich das merkwürdige Essenspaket, balanciert Styroporbox und Teekanne vor der Brust, will die Haustür mit dem Fuß aufstoßen, als Pietschmann schon öffnet.
»Das Essen kommt rüber ins alte Amtshaus, Döttkes! Machen sie schon!«
»Das darf doch wohl nicht wahr sein!« Volker lacht. »Reine Schikane, Herr Pietschmann! Soll ich ins Standesamt oder Kulturamt, oder was? Die haben längst alle geschlossen! Da ist am Heiligen Abend doch keiner scharf auf Krankenhauskost!«
Er schaut Pietschmann belustigt von der Seite an. Der zieht einen großen Schlüsselring aus der Manteltasche, hält ihn dicht vor die beschlagenen Brillengläser, liest auf den Plastikschildchen, findet endlich den Hauptschlüssel. »Gehen sie voran, Döttkes!«
Ein paar Schritte durch die dichten Schneeflocken quer über die Straße. Pietschmann drückt die Tür auf und lässt sie so rasch hinter sich zufallen, dass Volker Glück hat, sie nicht vor den Kopf zu kriegen. Die langen Flure liegen kalt und dunkel. Die Schritte hallen auf den Fliesen. Pietschmann knipst das Licht an, steigt die steilen Stufen hinunter in den Keller. Am Ende des muffigen Kellerganges eine schwere Holztür, in Kopfhöhe eine kleine Klappe.
Eine Gefängnistür! Da oben wird der alte Kotzbrocken gleich das Essen durchreichen. Ach Unsinn! Volker verscheucht den Gedanken. Hier unten werden höchsten Akten aufbewahrt. Doch er kann das Frotzeln nicht lassen: »Haben sie Ärger mit ihrer Frau, dass sie hier unten übernachten wollen? Oder habe ich mich gar eines Dienstvergehens schuldig gemacht und sie wollen mich über Weihnachten einbuchten?«
»Reden sie nicht so geschwollen daher, Döttkes, stellen sie lieber das Essen ab!«, knurrt Pietschmann und hält Volker die Schlüssel hin: »Na los, öffnen sie!«
Eine Zelle. Tatsächlich eine Zelle, durchzuckt es Volker. So ein dunkles Dreckloch in einem ganz normalen Gebäude! An der Decke des niedrigen Raumes ein winziges vergittertes Kellerfenster. Eine schwache Glühbirne taucht zwei Stahlrohrbetten, einen kleinen Holztisch, zwei Stühle und einen rostigen Blechspind in diffuses Licht. Im hinteren Bett liegt ein vielleicht zwölfjähriger Junge und blättert in einem Comicheft.
»So, mein Freundchen, dein Essen für heute.« Pietschmann grinst den Jungen an und deutet auf Volker. »Morgen Mittag kommt der hier allein und bringt dir was. Los, Döttkes, stehen sie nicht wie versteinert rum und starren Löcher in die Wand! Das wars für heute! Verdammt, schließen Sie endlich die Tür! Sie kriegen jetzt meine Anweisungen für morgen, auch was die Fröndenberger Tour angeht. Seien Sie pünktlich, Mann! Ich will keine Meldung an das Bundesamt machen. Sie behalten die Schlüssel und bringen dem Burschen auch morgen sein Essen. Das Krankenhaus weiß Bescheid. Tür zu endlich! Licht aus, abschließen, ab nach Hause!«
Volker schüttelt den Kopf. »Was hat der Kleine denn verbrochen? Will der etwa schon verweigern?«
»Unsinn, Döttkes! Der Bengel ist von Zuhause ausgerissen. Kommt irgendwoher aus Süddeutschland. Spricht kein Wort. Total verstockt, der Rotzlöffel. Morgen Abend wird er wahrscheinlich abgeholt, wenn das über die Feiertage überhaupt klappt. War gar nicht einfach zu regeln. Wenn das meiner wäre, könnte der sein blaues Wunder erleben. Bis Ostern ließ ich den schmoren! Weihnachten wär mir piepegal. Trotzdem, Döttkes, auch für Sie ein frohes Fest.«
»Du, Sonja, da haben sie einen kleinen Jungen eingelocht. Der ist Zuhause abgehauen. Hockt die ganze Nacht allein unten im alten Amtshaus.«
Irgendwann am Heiligen Abend erzählt er es ihr. Sonja küsst ihn noch einmal, zieht ihm lachend die Bettdecke weg, streift Pulli, Jeans und Jacke über. »Lass uns hinfahren, Volker!« Sie springt auf, sieht ihn ernsthaft an. »Der Junge kommt zu uns. Merkt doch keiner!« Sie wirft ihm den Anorak zu. »Komm, mach schon!«
»So einfach geht das nicht! Du und deine spontanen Ideen. Was wird aus uns?«, ruft er und kriegt den Mund nicht wieder zu. »Das hab ich mir gerade heute anders vorgestellt mit uns! «
Draußen ist es längst dunkel geworden. Dichte Flocken wirbeln vor der Windschutzscheibe. Als sie die Kellertür aufschließen, reagiert der Junge nicht. Das Essen hat er nicht angerührt. Volker bleibt am Türrahmen stehen. Sonja geht die paar Schritte auf das Bett zu, legt den Arm um die Schultern des Jungen, redet sanft auf ihn ein, streichelt ihm einmal sogar übers Haar.
»Siehst du, Volker, gut, dass wir gefahren sind. Das ist Markus. Seine Großmutter wohnt in Münster. Ida Bremer. Hiltruper Straße. Er wollte zu ihr. Weil seine Eltern kaum Zeit für ihn hatten, sich nicht um ihn gekümmert haben, ist er einfach abgehauen. Sechs Tage war Markus unterwegs von Passau hierher. So kurz vor dem Ziel haben sie ihn aufgegriffen. Los, wir bringen ihn zu seiner Oma!«
»Wenn das rauskommt, hängt Pietschmann mir ’ne Diszi an. Darauf wartet der bloß! Bei dem Wetter bis Münster! Ich hab kaum Sprit im Tank.«
Eine kleine weißhaarige Frau öffnet zaghaft die Tür. Dann breitet sie die Arme aus, jubelt vor Freude. Markus fliegt seiner Großmutter entgegen, drückt sich an sie. Sie streichelt seinen Kopf, blickt erstaunt auf Sonja und Volker.
»So eine Freude! Hat mein Sohn sie geschickt den weiten Weg, damit sie mir den Markus bringen am Heiligen Abend? Damit ich nicht mehr so allein bin. Sicher hat Albert wieder keine Zeit gefunden. Wie nett von Ihnen. Bitte, treten Sie doch ein. So eine Freude, Markus, dass du kommen durftest! Wie groß du geworden bist seit dem letzten Mal. Nun weine doch nicht, mein Junge, was hast du denn?«
Sonja unterbricht ihren Redeschwall. »Ich glaube, Markus hat ihnen viel zu erzählen, Frau Bremer. Wir müssen jetzt fahren. Morgen Nachmittag kommen wir zurück und holen ihren Enkel ab, damit mein Freund keinen Ärger kriegt. Rufen Sie ihren Sohn nicht an wegen Markus. Er darf nicht wissen, dass er bei Ihnen ist. Sagen Sie ihm bitte nichts. Das hat Zeit bis später. Sonst kommt der Volker hier an den Feiertagen noch in Teufels Küche. Tschüss, Markus, mach es gut! Ihnen und Ihrem Enkel Frohe Weihnachten, Frau Bremer.«
Sonja zieht die Flurtür hinter sich zu, legt Volker die Hände um den Nacken, drückt sich an ihn. Das Fünfminutenlicht im Treppenhaus erlischt. Sie drückt ihre Lippen weiter auf seinen Mund.
»Gut gemacht, mein Lieber! In einer halben Stunde sind wir wieder bei mir«, haucht sie ihm ins Ohr. »Dann feiern wir auch.«